Archiv für den Tag: 21. August 2016

Individualisierung verkennt das Potenzial sozialer Kontexte beim Lernen

Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden

Lipowsky_IndividualisierungDr. Frank Lipowsky ist seit 2006 Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel
Dr. Miriam Lotz ist Akademische Rätin im Fachgebiet Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel

Auszüge aus:  Lipowsky, F. & Lotz, M. (2015). Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In G. Mehlhorn, F. Schulz & K. Schöppe (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 155-219). München: kopaed

Die Forderung nach einer stärkeren Individualisierung beim Lernen wird als schul­pädagogische Antwort auf die wachsende Heterogenität von Schulklassen verstanden: Da die Lernenden so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (zsf. Kluczniok, Große & Roßbach 2011, Scharenberg 2012, Trautmann & Wischer 2011), sei es erfor­derlich, die Lernangebote an den Bedürfnissen der einzelnen Schüler auszurichten und die Lernprozesse weitgehend individualisiert zu organisieren (z. B. Hessischer Landtag 2014). (S. 155)

(…) Auch wenn mit dem Begriff der Individualisierung tatsächlich unterschiedliche Be­deutungen assoziiert werden: Gemeinsam scheint diesen Verständnissen zu sein, dass die Anpassung der unterrichtlichen Angebote an die Bedürfnisse einzelner Schüler herausgestellt wird und dass daraus folgend Unterrichtsphasen, in denen die Schüler individuell für sich arbeiten, für bedeutsamer und wichtiger gehalten werden, wäh­rend Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die auf die Auseinandersetzung mit Mitlernenden und die Interaktion mit der Lehrperson angewiesen sind, in den Hintergrund rücken.  (S. 159f)

Nach den bisherigen Studien, die individualisierten Unterricht und Formen von Binnendifferenzierung genauer untersuchen, erfüllen sich die Erwartungen, die man mit diesen Formen des Unterrichts verbindet, nicht in dem erhofften Maße. Hattie (2013) gelangte zum Ergebnis, dass individualisierter Unterricht im Mittel einen lern­förderlichen Effekt von d = 0.23 hat, was einem schwachen Effekt entspricht (zur Be­deutung von Effektstärken vgl. Lotz & Lipowsky in diesem Band [Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht – Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion]). Auch die mittlere Effektstärke für binnendifferenzierenden Unterricht ist mit d = 0.16 nicht größer, das heißt Schüler, die in einem Unterricht mit binnendifferenzierten Angeboten lernen, lernen nicht viel mehr dazu als Schüler in einem Unterricht, in dem keine binnendiffe­renzierende Maßnahmen angeboten werden.

Diese eher geringen Effekte über alle [auch ältere] Studien hinweg überraschen zunächst und werfen die Frage auf, warum sich die Erwartungen, die man mit einer zunehmenden Individualisierung verbindet, vielfach nicht erfüllen. Wie im weiteren Verlauf des Bei­trags dargestellt wird, spricht vieles dafür, dass Individualisierungs- und Differenzie­rungsmaßnahmen im Unterricht deshalb eine so geringe Effektivität haben, weil es an der Qualität der Umsetzung mangelt und weil die entsprechenden Maßnahmen häu­fig nicht vertiefte Lernprozesse auf Seiten der Schüler anstoßen können (…) (S. 162f)

(…) Unterricht im Allgemeinen und Formen von Individualisierung im Besonderen zie­len darauf ab, möglichst alle Lernenden gemäß ihrer individuellen Voraussetzungen zu fördern (Leistungsförderung). Häufig wird mit der Forderung nach einer stärkeren Individualisierung auch die Erwartung verknüpft, dass damit die Leistungsunter­schiede zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern verringert werden können (Leistungsausgleich).

Nach allem, was in der Forschung bislang bekannt ist, sind Formen der Individua­lisierung nicht oder allenfalls bedingt geeignet, die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern zu verringern, sofern man diese kompensatorische Funktion überhaupt als Ziel verfolgt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern, wenn sich der Unterricht durch wenig Lehrerlenkung und wenig Strukturierung auszeichnet, eher weitet. (…) Geöffnete Unterrichtsformen laufen demnach Gefahr, insbesondere die Schüler mit geringeren Vorkenntnissen zu benachteiligen, da die Komplexität der behandelten Probleme und Aufgaben das Arbeitsgedächtnis der Schüler zu stark belastet und damit das Lernen und Verstehen neuer Inhalte erschwert. (…) (S. 167f)

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