Archiv für den Monat: März 2017

Das zweigliedrige Berliner Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand

Zusammenfassendes Abschlusskapitel aus dem zweiten Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie[1]


Ein Beitrag des Arbeitskreises Gute Schule Berlin[2]

Ziele der Strukturreform[3]

Das Land Berlin hat die allgemeinbildende Sekundarstufe I zum Schuljahresbeginn 2010/11 von einem fünfgliedrigen auf ein zweigliedriges System umgestellt. An die Stelle der bisherigen nichtgymnasialen Schulformen Hauptschule, Realschule, verbundene Haupt- und Realschule und Gesamtschule trat die neu geschaffene Integrierte Sekundarschule (ISS) […]. Hervorzuheben sind dabei die Umsetzung des an den ISS nunmehr flächendeckenden Ganztagsbetriebs, die Stärkung des Dualen Lernens, die Einführung einer niveaubezogenen Fachleistungsdifferenzierung an allen ISS sowie die Institutionalisierung der Kooperation zwischen ISS und gymnasialen Oberstufen insbesondere im beruflichen Schulsystem.

Die Bildungssenatorin meint durch die Schulstrukturreform folgendes erreichen zu können (S. 470):

  • Alle Kinder und Jugendlichen sollen zu höchstmöglichen schulischen Erfolgen und die übergroße Mehrheit zum mittleren Schulabschluss am Ende der 10. Jahrgangsstufe geführt werden.
  • Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, soll sich deutlich verringern.
  • Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen und ethnischen Herkunft soll deutlich reduziert werden.
  • Mittel- bis langfristig (innerhalb der nächsten zehn Jahre) soll die Abiturientenquote deutlich erhöht werden.

Im Beschluss zur Schulstrukturreform hat das Berliner Abgeordnetenhaus vereinbart, die Auswirkungen der Schulreform, die Umstellung des Systems und das neue Übergangsverfahren, wissenschaftlich begleiten und evaluieren zu lassen. Mit der Durchführung dieser wissenschaftlichen Untersuchung – der BERLIN-Studie –wurde Prof. Dr. Jürgen Baumert (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) mit zwei weiteren Instituten der pädagogischen Forschung beauftragt[4]. Finanziert wird die Studie durch Zuwendungen des Landes Berlin und der Jacobs Foundation in Zürich sowie durch Aufwendungen der beteiligten Institute. (S. 470)


Wird aus Wasser Wein, wenn man der Flasche ein neues Etikett verpasst?[5]


Auszüge aus der Zusammenfassung der zentralen Befunde[6] (BERLIN-Studie), die von der Bildungssenatorin in ihrer Pressemitteilung[7] übergangen wurden:

Über die Zusammenlegung der bisherigen nichtgymnasialen Schulformen zur neu geschaffenen ISS sollte über eine Reduktion besonders belasteter Schulstandorte eine stärkere Angleichung der Lernumwelten im nichtgymnasialen Bereich erreicht werden, von der insbesondere leistungsschwächere Schülerinnen und Schülern profitieren sollten.

Das Muster der vorherigen Schulformgliederung [fünfgliedriges Schulsystem] in der Komposition der Schülerschaft nach Herkunft und Leistungsvoraussetzungen ist [auch nach der Neuordnung der Schulstandorte] an den ISS weiterhin klar zu erkennen. […] Die mit einem gegliederten Schulsystem verbundene soziale und ethnische Entmischung konnte mit den Umgründungen hingegen nicht verringert werden. Die Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft von Schulen mit unterschiedlicher Umgründungsgeschichte haben sich im Vergleich zu den ehemaligen nichtgymnasialen Schulformen tendenziell sogar vergrößert. (S. 474)

Die kohortenvergleichende Untersuchung motivationaler Merkmale und ausgewählter Aspekte schulischen Wohlbefindens ergab insgesamt betrachtet ebenfalls keine größeren Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern vor und nach der Schulstrukturreform (S. 480)

Eine zentrale Zielgruppe der Berliner Schulstrukturreform sind die Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer unzureichenden schulischen Leistungen potenziell von der Exklusion an gesellschaftlicher Teilhabe bedroht sind und prekäre Ausbildungs- und Beschäftigungsverläufe erwarten lassen.

Nach den Ergebnissen des letzten PISA-Ländervergleichs gehörten im Schuljahr 2005/06 in Berlin 13 Prozent der 15-Jährigen zu einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die in allen drei untersuchten Leistungsbereichen (Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften) das Bildungsminimum verfehlten und damit in ihrem weiteren Bildungsgang einem besonderen Risiko des Scheiterns ausgesetzt waren. Inwieweit sich dieser Anteil im Anschluss an die Berliner Schulstrukturreform verändert hat, ließ sich im Rahmen der vorliegenden Studie nicht untersuchen.[8] (S. 481) [Bekannt ist: Über 3000 Berliner Jugendliche jährlich ohne Schulabschluss.]

In der Gruppe mit multiplem Bildungsrisiko sammeln sich Jugendliche aus zugewanderten, bildungsfernen und sozial schwachen Familien. 75 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund. An der Sozialstruktur der Risikogruppe hat sich durch die Schulstrukturreform somit nichts geändert. […] In einem Vergleich der Erklärungsbeiträge von Merkmalen der Schulbiografie und der Herkunft zeigte sich, dass Bildungsarmut in erster Linie das Ergebnis einer schon in der Grundschule[9] kritischen Schulkarriere ist. Herkunftsmerkmale tragen dann zur Kumulation des Misserfolgs zusätzlich bei. Die Grundstruktur der Risikofaktoren hat sich als Folge der Schulstrukturreform und ihrer Begleitmaßnahmen nicht verändert. (S. 482)

[In den] Schulleistungen in allen vier untersuchten Domänen [zeigte sich ein] Leistungsrückstand der Risikogruppe um mehrere Schuljahre. An diesem Kompetenzdefizit hat sich mit der Schulstrukturreform nichts geändert. (S. 482) […] Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems. (S. 483)

Definitionsgemäß fanden sich für alle untersuchten Leistungsaspekte (Fachleistungen und kognitive Grundfähigkeiten) erhebliche Vorteile zugunsten der hochleistenden Schülerinnen und Schüler. Die Leistungsunterschiede bewegten sich je nach untersuchter Domäne und Kohorte zwischen 1,5 bis zu über zwei Standardabweichungen und entsprachen damit mittleren Lernzuwächsen von mehreren Schuljahren. […] Mit Blick auf berufliche Interessen und Persönlichkeitsmerkmale stachen vor allem das deutlich höhere intellektuell-forschende Interesse und die höhere Offenheit für Erfahrungen der Schülerschaft mit besonders hohen Fachleistungen hervor. (S. 485) […] Die Ergebnisse zum soziodemografischen Hintergrund machen deutlich, dass sich zu den individuellen Ressourcen der besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler auch noch ein familiales Unterstützungssystem gesellt, das den weiteren Bildungsweg dieser Jugendlichen positiv beeinflussen dürfte. (S. 485)

Eine zentrale Zielsetzung der Neustrukturierung des Berliner Sekundarschulwesens war die Erhöhung des Anteils der Schülerinnen und Schüler, die die Schule mit der allgemeinen Hochschulreife – dem Abitur – verlassen. Erreicht werden soll dieses Ziel vor allem über eine Erhöhung der Abiturientenquote im nichtgymnasialen Bereich, sprich an der neu geschaffenen ISS.

Die Anteile der Schülerinnen und Schüler, die die formalen Voraussetzungen zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe erfüllen, haben […] deutlich zugenommen. Im nichtgymnasialen Bereich [ISS] fand sich ein Anstieg von 24 auf 41 Prozent. Der Anstieg fiel sowohl an Schulen ohne als auch mit am Schulstandort vorhandener gymnasialer Oberstufe erheblich aus. Gleichzeitig hat sich das mittlere Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler im nichtgymnasialen Bereich [ISS] kaum verändert. (S. 486)

Die Befunde [geben] somit durchaus Anlass zu der Annahme, dass die Vergabe der Übergangsberechtigung in […] der neu strukturierten Berliner Sekundarstufe nur sehr eingeschränkt mit dem erforderlichen Leistungsniveau zum erfolgreichen Durchlaufen der Oberstufe einhergeht. Das Erreichen hinreichender Leistungsstandards scheint somit im Zuge der Öffnung von Bildungswegen im vorliegenden Fall zumindest in Teilen fraglich.[10] (S. 487) Maßnahmen zur Sicherstellung hinreichender Leistungsstandards und vergleichbarer Bewertungsmaßstäbe beim Erwerb der Oberstufenzugangsberechtigung zählen somit zu den drängendsten Aufgaben und Herausforderungen im neu strukturierten Berliner Sekundarschulwesen. (S. 488)

Mit der Berliner Schulstrukturreform ist das langfristige Ziel verbunden, herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungserfolg deutlich und nachhaltig zu reduzieren (Abgeordnetenhaus Berlin, 2009).

Von einer Entkopplung von Bildungsherkunft und Übergangsberechtigung im nichtgymnasialen Bereich kann also trotz des starken generellen Anstiegs der Berechtigungsquote [von 24 auf 41 Prozent] nicht gesprochen werden. Ähnliches lässt sich auch für den Migrationshintergrund konstatieren. […] Insgesamt ist somit also auch nach der Schulstrukturreform von ausgeprägten bildungs-und migrationsbezogenen Disparitäten beim Erwerb der Oberstufenzugangsberechtigung auszugehen. (S. 489)

Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zeigen geringere Kompetenzen, besuchen seltener Gymnasien, streben insgesamt betrachtet seltener das Abitur an und gehören häufiger zur „Risikogruppe“ derjenigen Schülerinnen und Schüler, die ein Mindestniveau an Basiskompetenzen, das für einen erfolgreichen Übergang in die berufliche Erstausbildung nötig ist, nicht erreichen. Zu einer erfolgreichen Integration in einer multiethnischen Gesellschaft gehören aber nicht nur schulischer Erfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern auch interkulturelle Verständigung und ein geteiltes Wertesystem. (S. 491)

[So gaben] etwa 70 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Akkulturationstyp[11] an, der mit einer positiven soziokulturellen und psychologischen Adaption einhergehen sollte. Die Kehrseite dieses Befunds ist aber, dass etwa 30 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sich entweder keiner der Kulturen zugehörig fühlen (Marginalisierung) oder angaben, „immer Teil der Herkunftskultur“ zu bleiben und „niemals Deutsch“ werden zu können (Separierung). (S. 492)

Schulformwechsel vom Gymnasium zurück an die ISS

Schülerinnen und Schüler an Gymnasien, denen es [im Probejahr] nicht gelingt, die für die Versetzung notwendigen Schulleistungen zu erbringen, setzen ihre Schullaufbahn im Anschluss an die 7. Jahrgangsstufe [Gymnasium] in der 8. Jahrgangsstufe an einer ISS fort [Schulformwechsel]. (S. 493) Lediglich 42 Prozent der Schulformwechsler verfügten über eine den Besuch des Gymnasiums einschließende Empfehlung, während dies auf Seiten der am Gymnasium verbliebenen Schülerinnen und Schüler für rund 90 Prozent der Fall war. […] Der Schulformwechsel vom Gymnasium [an eine ISS] ist zum überwiegenden Teil ein Phänomen der Schülerschaft mit Migrationshintergrund (78 Prozent). (S. 495)

Weitere Ergebnisse der Studie[12]

Die Befunde [bestätigen die] These, dass schulstrukturelle Merkmale bzw. Veränderungen für das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern eher von nachrangiger Bedeutung und stattdessen lernprozessnähere Aspekte wie die Unterrichtsqualität ausschlaggebend sind (z.B. Hattie, 2009).[13]  (S. 498)

[Die] Schulstrukturreform jedoch [konnte] noch keinen verbesserten – fördernden und fordernden – Unterricht und ebenso wenig die optimale Gestaltung und Nutzung des Ganztagsbetriebs garantieren. (S. 498)

[Zur] Sicherung eines Anforderungsniveaus in den Erweiterungskursen der ISS, das auf den Übergang in die gymnasiale Oberstufe vorbereitet […] bedarf es eines ausreichenden Einsatzes von Lehrkräften mit Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II und mit Oberstufenerfahrung.[14] (S. 498)

Die Herausforderungen der Optimierung der Entwicklungsprozesse liegen in der pädagogischen Arbeit der Schulen und der fachlichen Qualifikation des Personals.[15] (S. 499)


Was bleibt nach eingehender Prüfung der Ergebnisse der „BERLIN-Studie“ und den Aussagen in der Pressemitteilung der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) übrig von den „zahlreichen positiven Entwicklungen“ der neuen Schulstruktur und der Feststellung: „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet“?

  • Über 3000 Berliner Jugendliche sind jährlich ohne Schulabschluss. Fast jeder neunte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2014/2015 die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss, verlassen. Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr schlechter.
  • Im Leistungsstand der Risikogruppe zeigt sich ein Rückstand um mehrere Schuljahre. An diesem Kompetenzdefizit hat sich mit der Schulstrukturreform nichts geändert. Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems. (S. 481-489)
  • In Berlin verschärft sich der Mangel an Grundschulpädagogen massiv. Knapp 1000 für das Jahr 2016 zu besetzende Stellen stehen nur 175 vollständig ausgebildete Referendare gegenüber.
  • Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts dürfte an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. Immer mehr Lehrer sind ohne pädagogische Ausbildung!
  • Bereits bis 2018 werden in Berlin rund 22.000 zusätzliche Schulplätze benötigt. Bis 2020/21 wird mit 40.000 zusätzlichen Schülern gerechnet.[16]
  • Bei der Einstellungsrunde Februar 2017 haben von 1037 Lehramtsabsolventen, die sich für ein Referendariat in Berlin beworben und eine Zusage erhalten haben, 484 Bewerber (47 Prozent) abgesagt.[17]
  • In Berlin müssen in den kommenden sieben Jahren 16.000 ausgebildete Pädagogen eingestellt werden.[18]

[1] http://www.dipf.de/de/forschung/projekte/pdf/steubis/BERLIN_Studie_Maerz_2017_wissenschaftliches_Fazit.pdf
[2] Ausgearbeitet für www.Schulforum-Berlin.de.  Zum Arbeitskreis Gute Schule Berlin haben sich Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Bildungseinrichtungen sowie Eltern aus Berlin zusammengeschlossen. Sie beobachten, besprechen, analysieren und kommentieren die bildungspolitischen Bestrebungen und Reformen in Deutschland und informieren die interessierte Öffentlichkeit. email: gute-schule-berlin@online.de
[3] Aus BERLIN-Studie: 14.1  Einleitung, S. 470f
[4] Weitere Beauftragte: Prof. Dr. Kai Maaz, Direktor am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt und Berlin und Prof. Dr. Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel
[5] Aus: taz, 15.3.2017, Anna Klöpper, Studie zur Berliner Schulreform – Schlechte Noten für Sekundarschulen, „Wird aus Wasser Wein, wenn man der Flasche ein anderes Etikett verpasst? Natürlich nicht.“
[6] Aus BERLIN-Studie: 14.2  Zusammenfassung der zentralen Befunde, S. 471-496
[7] Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vom 15.3.2017, „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet“, unter https://www.berlin.de/sen/bjf/service/presse/pressemitteilung.571189.php
[8] Bestätigt ist: Über 6000 Berliner Jugendliche jährlich ohne Schulabschluss. Fast jeder neunte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2014/2015 die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss, verlassen. Das geht aus einer Erhebung der Senatsbildungsverwaltung hervor. Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr schlechter: Für das vergangene Schuljahr lag die Quote bei 10,9 Prozent, im Unterrichtsjahr 2013/2014 hatten 9,2 Prozent ihre Schullaufbahn ohne Abschluss beendet. Auch dieser Wert lag deutlich über dem der beiden Vorjahre mit 7,9 beziehungsweise 7,4 Prozent. Bundesweit wird die Quote mit rund sechs Prozent angegeben.
http://www.morgenpost.de/berlin/article207017017/Jeder-neunte-Berliner-Jugendliche-schafft-die-Schule-nicht.html
[9] In Berlin verschärft sich dieses Jahr der Mangel an Grundschulpädagogen massiv. Knapp 1000 für das Jahr 2016 zu besetzenden Stellen stehen nur 175 vollständig ausgebildete Referendare gegenüber. Dies teilte die Bildungsverwaltung auf Anfrage mit. Der Mangel war seit langem absehbar. Bildungssenatorin Scheeres findet trotzdem, sie habe nichts falsch gemacht.
http://www.tagesspiegel.de/berlin/lehrermangel-in-berlin-was-der-senat-versaeumt-hat-und-was-jetzt-passieren-muesste/12931342.html
[10] Beiträge zur Niveausenkung an Berliner Schulen siehe:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr; Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss; Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Lehrer finden Mathe-Prüfungen „Pillepalle“
[11] Akkulturation = Hineinwachsen eines Jugendlichen in seine kulturelle Umwelt durch Erziehung
[12] Aus BERLIN-Studie:  14.3  Diskussion der Befunde, S. 496-498
[13] Weitere wichtige Forschungsergebnisse in: John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, 2014, übersetzt und überarbeitet: Klaus Zierer, Wolfgang Beywl
[14] Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts wird kaum erhoben, dürfte aber an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. (…) [Weiter wird berichtet, dass] es inzwischen Sekundarschulen gibt, die nur noch über einen einzigen ausgebildeten Mathematiklehrer verfügen.
Der Tagesspiegel, 28.10.2016, Susanne Vieth-Entus, Amory Burchard,  Deutsch, Mathe, Englisch – keine Besserung in Sicht; siehe auch:  IQB-Bildungstrend 2015 Zusammenfassung, S. 29, Fachfremde Lehrkräfte, Quereinsteiger
[15] In Physik, Chemie, Biologie und Informatik waren von 226 neu eingestellten Gymnasiallehrern in Berlin 145 Quereinsteiger, in Mathematik von 152 Neueinstellungen 71 ohne pädagogische Ausbildung; an den Berliner Grundschulen sind 40% Quereinsteiger, aus FAZ, 22.3.2017, Heike Schmoll, Immer mehr Lehrer ohne pädagogische Ausbildung
[16] Tagesspiegel, 9.3.2017, Susanne Vieth-Entus, „Operation Schulbau“ und Gerd Nowakowski, „Ordentlich Betrieb machen“
[17] Tagesspiegel, 29.3.2017, Sylvia Vogt, „Referendare: Viele Bewerber springen ab“
[18] ebd., http://www.tagesspiegel.de/berlin/lehrermangel-in-berlin-referendare-jeder-zweite-bewerber-springt-wieder-ab/19582940.html

Das Bildungssystem erzeugt scheinbar nur noch Gewinner

Im Strom der Lemminge

Rheinland-Pfalz hat sich auf den Weg zum Abitur für alle gemacht und gibt inzwischen die Themen für das Abitur lange vorher bekannt. Die Hochschulreife gerät so zu einer Farce.

FAZ, 09.03.2017, Bildungswelten, von Walter Oldenbürger

Als im März 2015 ein 17 Jahre al­ter Schüler aus Nordrhein-West­falen beim Schulministerium anfragte, ob er die Abituraufga­ben — aus Gründen der „Informationsfrei­heit” — nicht vielleicht schon vor dem Klausurtag erhalten könnte, war dies na­türlich als Witz gemeint, der allseits für Heiterkeit sorgte. In Rheinland-Pfalz wird neuerdings niemand mehr verste­hen, worüber hier gelacht wurde. Denn das Deutsch-Abiturthema des Jahres 2017 hat das Mainzer Kultusministerium schon im März 2015 bekanntgegeben. Wer im Januar 2017 das schriftliche Abi­tur bestehen wollte, musste all das nicht mehr können, was bislang zum Grundbe­stand des deutschen Abiturwissens zähl­te. Er musste sich weder mit Gedichten noch mit Erzähl- oder Dramentexten aus­einandersetzen. Der rheinland-pfälzi­sche „Abiturient Light” konnte sich vielmehr 21 Monate lang einzig und allein auf folgendes Thema vorbereiten: die Erörterung eines Sachtextes zum The­menbereich „Medien”. Damit nun mög­lichst gar nichts mehr schiefgehen konn­te, war die Lehrerschaft auch noch ange­halten, die bekannte Aufgabe mit ihren Schülern fleißig einzuüben. (…)

Deutschlands Schummel-Abiture sind in Fachkreisen ebenso bekannt wie die frisierten Abgaswerte der VW-Modelle. „Der Bildungsabbau ist in vollem Gan­ge” (Cornelia Schwartz, Landesvorsitzen­de des Philologenverbandes), so dass die rheinland-pfälzischen Gymnasien seit Jahren nur noch dem Strom der Lemmin­ge folgen.

Dabei ist die vorherige Bekanntgabe des Abiturthemas bloß der Schluss­akkord des Trauerspiels. In Rheinland-Pfalz gingen zahlreiche Schritte voraus, die wohl jeden Leistungsmaßstab zerstö­ren sollten. Nachdem das Sitzenbleiben verboten (Grundschulen) oder nahezu auf null reduziert worden war, hat man die Schulen ermuntert, auf Noten doch lieber ganz zu verzichten (Schulversuch „Mehr Selbstverantwortung“).

„GEW gegen Noten“ in FAZ, 23.2.2017, Bildungswelten
Nach der Vorstellung der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe sollten Noten nicht nur in Grundschulen, sondern in allen Schulformen abgeschafft werden.

Unter dem Slogan Heko („Heterogenität kon­kret”) können rheinland-pfälzische Schü­ler ohnehin selbst entscheiden, ob sie die leichtere oder die schwerere Aufgabenva­riante bevorzugen. Um der Notenverbes­serung auf die Sprünge zu helfen, wurde inzwischen ein objektives Leistungskrite­rium, der „Fehlerindex”, beim Franzö­sisch- und Englischabitur abgeschafft.

Im Fach Deutsch gestaltet sich der Kompetenzabbau noch bemerkenswer­ter. Rechtschreibung gilt als Unterdrü­ckungsmittel und hat für linke Bildungs­strategen wohl nach wie vor den einzi­gen Zweck, die Unterschicht von den Fleischtöpfen der herrschenden Klasse fernzuhalten. So darf Orthographie an rheinland-pfälzischen Gymnasien bis zur zehnten Klasse keine oder nur eine untergeordnete Rolle bei der Notenfin­dung spielen. Selbst bei Diktaten darf munter im Rechtschreibwörterbuch ge­blättert werden. (…)

Eine schlechte Note zu geben ist indessen heute kaum noch möglich. Rheinland-Pfalz hat Rabatt- und Sonderregelungen für Rechtschreibschwache, Rechenschwache und inzwischen — natürlich — auch für Migranten. Eine Sonder­klausel für „Abiturschwache” scheint nicht mehr ausgeschlossen, aber unnö­tig. Paragraph 53 der Schulordnung sorgt ohnehin dafür, dass nicht sein darf, was nicht sein soll. Wenn ein Drittel einer Ar­beit unter „ausreichend” liegt, muss sich der rheinland-pfälzische Lehrer rechtfer­tigen, und die „schlecht” Benoteten dür­fen Einsprüche geltend machen.

Dabei gilt die schlechte Note längst als Beweis für die pädagogische Unfähigkeit eines Lehrers, der den Schüler in seiner „Individualität” nicht hinreichend zu för­dern wusste. Schon vor Jahren hatte der rheinland-pfälzische Landeselternbeirat „Ziffernoten” als „Körperverletzung” ver­urteilt. Die alljährlich veranstalteten „Vergleichsarbeiten” sind anonymisiert, so dass man nicht vergleichen kann und soll, wie ein Schüler im Leistungsver­gleich abschneidet. In der entstandenen Grauzone ist das „Abitur für alle” in greifbare Nähe gerückt. (…)

Noch sind die Schulnoten nicht abge­schafft. Doch der schleichende System­wechsel zur nivellierenden Einheitsschu­le, in der jede Leistungsdifferenz ver­schleiert werden soll, geht auch durch die Hintertür. Inzwischen sind Gefällig­keits-Abiture zum Beweis für erfolgrei­ches „Qualitätsmanagement” avanciert. Wer mag auch schon glauben, dass manch rührend arrangierte Abiturfeier bei Licht besehen ein Begräbnis erster Klasse darstellt. Die erhebliche Zahl der Studienabbrecher und psychisch erkrank­ter Studenten belegt indessen, dass man den massenhaft mit der „Hochschulrei­fe” Ausgestatteten häufig einen Bärendienst erwiesen hat. Die vielfach beklag­te Inflation der „Spitzenzensuren” setzt sich im Universitätsbereich ruinös fort, behindert die wirklich Begabten und stempelt leistungsorientierte Professo­ren zu lästigen Störenfrieden.

Die künstlich erzeugte Abiturientenla­wine und der in Deutschland seit Jahren festzustellende Boom der Spitzenabiture und Jubelexamina sind Ergebnis eines Bildungssystems, in dem es scheinbar nur noch Gewinner gibt, da eben nie­mand mehr „zurückbleiben” soll [nach dem Motto:  „No child left behind“]. (…)

Mancher Dumping-Abiturient von ges­tern ist inzwischen wohl selbst zum Abi­turprüfer avanciert, so dass ein geschlos­sener Kreislauf entstanden ist. So hat das Mainzer Kultusministerium einen Rund­brief der „Fachberatung” auf seine Home­page gestellt, in dem das fehlerhafte Deutsch der Abiturprüfer beanstandet wird, die häufig Aufgabenstellungen „mit vermehrten Rechtschreibfählern” vorlegten. (…)

Der Autor unterrichtet Deutsch, Philosophie, katholische Religion und Ethik an einem rhein­land-pfälzischen Gymnasium.

Hervorhebungen im Fettdruck und Einschub kursiv durch Schulforum-Berlin

Nicht „Eine Schule für alle“, sondern „Für jedes Kind die beste“

„Es entsteht eine explosive Mischung“

Dass Inklusion in Deutschland nicht funktioniert, hat nach Meinung des Pädagogen Michael Felten viele Gründe – unter anderem die „neuen Kinder“, deren Eltern wenig Zeit haben.

Hannoversche Allgemeine, 4.3.2017, Interview: Jutta Rinas

Michael Felten, geboren 1951, lebt im Rheinland und arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Gymnasiallehrer in Köln. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung, berät Schulen (www.elternlehrer-fragen.de) und ist Autor des Buches „Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert“, siehe Bücherliste.

Jutta Rinas: Herr Felten, seit acht Jahren haben behinderte Menschen in Deutschland ein Recht auf umfassende Teilhabe. Befürworter der Inklusion beklagen, dass seitdem viel zu wenig passiert ist. Sie dagegen wähnen uns schon jetzt in der Inklusionsfalle. Was meinen Sie damit?

Michael Felten: Ich möchte vorab betonen, dass ich es wichtig finde, Kinder möglichst stark gemeinsam zu beschulen. In Frankreich etwa waren bislang 20.000 behinderte Kinder generell vom Schulsystem ausgeschlossen. Das finde ich schlecht. In Deutschland krankt Inklusion jedoch an zwei Dauerbaustellen. Sie ist in der Regel stark unterfinanziert – und Lehrer werden im Unterricht nicht einmal ansatzweise ausreichend von Sonderpädagogen unterstützt. Es ist deshalb an der Zeit, der Inklusionspropaganda aus den Hochglanzbroschüren etwas Realität entgegenzusetzen.

Ihre radikale These lautet: Inklusion ruiniert das ganze Bildungssystem. Wieso?
Dazu muss man wissen, dass die Situation heute zum Beispiel an Grundschulen auch ohne Inklusion viel komplizierter als früher ist.

Warum?
Weil die Pädagogen heute auf eine viel schwierigere Klientel treffen. Wir verwenden dafür den Begriff der neuen Kinder. Das sind Kinder, deren Eltern aus beruflichen oder privaten Gründen viel zu wenig Zeit für sie haben. Diese Kinder kennen wenig von der Welt außerhalb von Internet und Fernsehen. Oder es sind Kinder, die für ihre Eltern eine Art Lebensprojekt sind. Sie erfüllen ihnen jeden Wunsch, räumen jeden Stein aus dem Weg.

Was macht beide Gruppen so problematisch?
Beide brauchen besonders intensive pädagogische Unterstützung. Die vernachlässigten Kinder müssen individuell gefördert, oft überhaupt erst einmal schulfähig gemacht werden. Die überbehüteten haben großen sozialen Nachholbedarf, weil sie nie gelernt haben, dass sich nicht immer alles um sie dreht. Wenn dazu dann noch Kinder mit schweren sozial-emotionalen Störungen oder Lernschwierigkeiten kommen, um die man sich früher in kleinen Förderschulklassen intensiv gekümmert hätte, entsteht im Unterricht schnell eine explosive Mischung.

Sie sind selbst Lehrer, bekommen in ihrem Blog viel Post von Lehrern. Sagen sie mal ein Beispiel.
Nehmen Sie eine Lehrerin aus dem Rheinland, die eine erste Klasse unterrichtet. Die meisten Kinder freuen sich auf den Unterricht. Zwei der 27 Kinder sind aber hochgradig verhaltensauffällig, haben täglich Ausraster. Ein normaler Unterricht, bei dem man den Regelkindern gerecht wird, ist gar nicht möglich. Und nicht nur das …

Was noch?
Die Lehrerin muss nicht nur damit umgehen, dass sie und die Mitschüler ständig beleidigt und körperlich attackiert werden. Neben dem normalen Arbeitspensum muss sie umfangreiche Berichte anfertigen, immer wieder Gespräche mit den Eltern führen, mit Sozialpädagogen, mit Behörden. Am Ende bleibt vielleicht nur, die Förderkinder in anderen Lerngruppen unterzubringen oder die Unterrichtszeit für sie zu verkürzen. Damit wird sie auch ihnen nicht gerecht.

Das klingt wie eine extreme Ausnahmesituation …
Ist es aber nicht. Mittlerweile kann die Schule in Nordrhein-Westfalen auch schwierigste Schüler oft nicht mehr selbst an eine Förderschule verweisen, wo man dem Kind meist viel besser helfen könnte. Das können in den ersten beiden Schuljahren höchstens die Eltern beantragen. Die Landesregierung setzt wohl darauf, dass viele Eltern denken, gemeinsames Lernen sei für jedes Kind das Beste. Und man muss befürchten, dass demnächst sogar das Elternwahlrecht abgeschafft wird. Damit bündeln sich alle Probleme in der Regelklasse.

Wie viel Geld würde man brauchen, um ein gut funktionierendes, inklusives Schulsystem zu etablieren?
Die Grünen haben 2009 ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das kam zu dem Ergebnis, dass man für ein angemessen ausgestattetes Inklusionssystem 49 Milliarden Euro bräuchte. Zieht man das Geld ab, das man durch die Schließung der Förderschulen einsparte, bliebe immer noch ein Neuaufwand von 35 Milliarden. Diese Summe würde niemand bezahlen können. Über dieses Gutachten wird deshalb kaum noch geredet.

Ihr Fazit ist die Weiterentwicklung des dual-inklusiven Schulmodells und ergänzende Förderschulen. Fordert die UN-Behindertenrechtskonvention aber nicht gerade die Schließung aller Förderschulen?
Nein, das ist ein großes Missverständnis. Die Behindertenrechtskonvention fordert nicht eine verpflichtende Schule für alle, sondern für jedes Kind den besten Ort zum Lernen. Und das kann, wie weltweit immer noch häufig üblich, auch eine Spezialschule oder Separatklasse sein.

„So viel hochqualitative Integration wie sinnvoll und möglich – anspruchsvoller getrennter Unterricht überall da, wo nötig!“

„Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung

Neue Schulen dringend gesucht

Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) im TSP vom 09.03.2017 von Susanne Vieth-Entus:

„Nach derzeitigem Stand ist die Reaktivierung von 16 Liegenschaften und die Erweiterung 68 bestehender Grundschulstandorte geplant“. Von 28 Standorten, die für die Bebauung mit einer neuen Grundschule vorgesehen sind, sind nur neun bereits verfügbar. (…)

Weiter schreibt der TSP:  Auffällig ist, dass kaum Erweiterungen der Gymnasien geplant sind. Rackles begründet dies damit, dass es aktuell noch freie Kapazitäten an Gymnasien gebe. Im Übrigen könnten Oberschulstandorte je nach Bedarf sowohl an Gymnasien als auch als ISS [Integrierte Sekundarschule] genutzt werden. FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf ist allerdings skeptisch und vermutet, dass der Senat „nur die ideologisch bevorzugte Schulform Gemeinschaftsschule“ privilegieren wolle.  Im Vorfeld hatte bereits der Berliner Philologenverband alarmiert darauf reagiert, dass die Gymnasien im jüngsten Bericht der „AG Schulraumqualität“ überhaupt nicht vorkamen. (…)

Ein Blick in die Vereinbarungen der Koalition aus SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Die Grünen zu „Schule und Bildung in Berlin“ bringt die Bestätigung!

Schulneubau – Gemeinschaftsschule:

Die Gemeinschaftsschule wird als schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund- und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen. Die Koalition unterstützt bei notwendigem Schulneubau vor allem die Neugründungen von Gemeinschaftsschulen. (Koalitionsvertrag S. 10)

Dort wo Grundschulen und weiterführende Schulen benötigt werden, sind die Neubauten baulich für die Nutzung als Gemeinschaftsschulen vorzusehen. (Koalitionsvertrag S. 66)

Die unverhohlene politische Schwerpunktsetzung auf die Gemeinschaftsschule und kritische Aussagen zu deren propagierter Lernkultur:

In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat jedoch offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen, wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.) bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Die politischen Vorgaben, durch die Gemeinschaftsschule Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden. Das politische Ziel der rot-rot-grünen Koalition ist dennoch: „Eine Schule für alle“, d.h. eine leistungsnivellierende Einheitsschule, verwirklicht über die Gemeinschaftsschule! Nach dem Motto: „Abitur für alle mit Vollkasko-Garantie“ – mit geringer Selbstbeteiligung. Die Opfer und Leittragenden eines so merkwürdigen Verständnisses von „Bildungsgerechtigkeit“ sind zwangsläufig die Schülerinnen und Schüler, das heißt unsere Kinder!

Siehe:  Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17.11.2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2017, Klaus Ruß, Ermäßigungspädagogik – Wie die Schule es schafft, zu Lasten der Kinder zielstrebig ihre Anforderungen zu senken.

siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?  Analyse der Gemeinschaftsschule Berlin

„Eine Schule ist kein Flughafen“

Ordentlich Betrieb machen

TSP, 09.03.2017, Gerd Nowakowski

Eine Schule ist kein Flughafen. Nicht so komplex, überschaubar und kein Hightech-Projekt. Doch in Berlin sind selbst funktionierende Schulbauten eine Herausforderung. Zumal es nicht reicht, die buchstäblich zum Himmel stinkenden Zustände in vielen Schulen zu beseitigen und den Sanierungsstau von mehr als vier Milliarden Euro endlich abzubauen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Standorte erweitert oder neue Schulen gebaut werden müssen. Bis 2025 wird die Schülerzahl in der wachsenden Stadt um ein Viertel zunehmen – dann sind 75.000 zusätzliche Plätze nötig. Das ist die Dimension, um die es geht. Angesichts der Berliner Verwaltungseffizienz kann einem das Angst machen.

Kinder brauchen Schulen, die den Herausforderungen der wissensbasierten Gesellschaft in einem der reichsten Länder der Welt gerecht werden, Schulen, in denen Lehrer und Schüler sich auf das Lernen konzentrieren können. Die Realität ist eine andere. (…) Im Ergebnis hat der Senat die Schulen verkommen lassen, und die größte Zukunftsressource, die Schulkinder, muss dafür büßen, dass in den 90er Jahren eine unfähige Politik Berlin in die Schuldenfalle manövriert hat. (…)

Selbst wenn man mit einer Task Force, wie zuweilen Politiker vorschlagen, alle Beteiligten [Bezirksämter und Hauptverwaltungen auf Landesebene] an einen Tisch bringt, um Planung und Bauphase zu beschleunigen, steht eine Schule bestenfalls in vier Jahren. [bisher Planung bis Abschluss neun Jahre] (…)

[Sollte eine solche Landesschulbaugesellschaft noch dieses Jahr gegründet werden, ist sie] erst 2018 richtig handlungsfähig. Bis zu diesem Zeitpunkt – zu dem der Flughafen BER nicht einmal eröffnet sein wird – benötigt Berlin aber schon rund 22.000 zusätzliche Schulplätze. [Bis 2020/21 wird mit 40.000 zusätzlichen Schülern gerechnet] Da wird sich der Senat schwertun, den ungeduldigen Eltern zu erklären, dass es noch etwas dauern könnte, bis auch ihre Schule saniert ist. Der Unterschied zum Problem-BER ist nämlich: Auf den Start des Flughafens kann Berlin notfalls noch länger warten – funktionsfähige und moderne Schulen aber brauchen die Kinder jetzt.

Zum Artikel:  TSP, 09.03.2017, Gerd Nowakowski, Ordentlich Betrieb machen

siehe auch:  http://www.tagesspiegel.de/berlin/bildung-in-berlin-so-hoch-ist-der-sanierungsstau-alle-schulen-im-ueberblick/19490374.html

„Für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit: Kompetenzorientierung als Inkompetenz“

Kompetent in Kompetenz?

1. Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz“ – am 7./8. Juli 2017 in Frankfurt-Main

Die Kompetenzorientierung, so fürchten die Verantwortlichen, wird auch an den Universitäten, wie schon an den Schulen, mit einem weitgehenden Verzicht auf die Vermittlung umfassender Wissensbestände und mit der Einführung der völlig umstrittenen reformpädagogischen “Neuen Lernkultur” einhergehen – und dies alles, ohne dass jene Konzepte je empirisch abgesichert worden wären.

Die Veranstaltung wird von Professoren der Goethe-Universität, die in der Medizin, den Rechts- und den Naturwissenschaften Lehrverantwortung tragen, organisiert – im Angesicht der von der KMK und HRK geplanten Einführung der strikten Kompetenzorientierung in die universitären Curricula.

Der Tagungsort ist das Universitätsklinikum in Frankfurt-Main. Der Eintritt ist frei und für jeden Interessierten möglich.  Den Veranstaltern ist es gelungen, renommierte Vortragende aus unterschiedlichen Fachbereichen deutscher und österreichischer Universitäten und aus der Politik zu gewinnen.

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