Im Strom der Lemminge
Rheinland-Pfalz hat sich auf den Weg zum Abitur für alle gemacht und gibt inzwischen die Themen für das Abitur lange vorher bekannt. Die Hochschulreife gerät so zu einer Farce.
FAZ, 09.03.2017, Bildungswelten, von Walter Oldenbürger
Als im März 2015 ein 17 Jahre alter Schüler aus Nordrhein-Westfalen beim Schulministerium anfragte, ob er die Abituraufgaben — aus Gründen der „Informationsfreiheit” — nicht vielleicht schon vor dem Klausurtag erhalten könnte, war dies natürlich als Witz gemeint, der allseits für Heiterkeit sorgte. In Rheinland-Pfalz wird neuerdings niemand mehr verstehen, worüber hier gelacht wurde. Denn das Deutsch-Abiturthema des Jahres 2017 hat das Mainzer Kultusministerium schon im März 2015 bekanntgegeben. Wer im Januar 2017 das schriftliche Abitur bestehen wollte, musste all das nicht mehr können, was bislang zum Grundbestand des deutschen Abiturwissens zählte. Er musste sich weder mit Gedichten noch mit Erzähl- oder Dramentexten auseinandersetzen. Der rheinland-pfälzische „Abiturient Light” konnte sich vielmehr 21 Monate lang einzig und allein auf folgendes Thema vorbereiten: die Erörterung eines Sachtextes zum Themenbereich „Medien”. Damit nun möglichst gar nichts mehr schiefgehen konnte, war die Lehrerschaft auch noch angehalten, die bekannte Aufgabe mit ihren Schülern fleißig einzuüben. (…)
Deutschlands Schummel-Abiture sind in Fachkreisen ebenso bekannt wie die frisierten Abgaswerte der VW-Modelle. „Der Bildungsabbau ist in vollem Gange” (Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende des Philologenverbandes), so dass die rheinland-pfälzischen Gymnasien seit Jahren nur noch dem Strom der Lemminge folgen.
Dabei ist die vorherige Bekanntgabe des Abiturthemas bloß der Schlussakkord des Trauerspiels. In Rheinland-Pfalz gingen zahlreiche Schritte voraus, die wohl jeden Leistungsmaßstab zerstören sollten. Nachdem das Sitzenbleiben verboten (Grundschulen) oder nahezu auf null reduziert worden war, hat man die Schulen ermuntert, auf Noten doch lieber ganz zu verzichten (Schulversuch „Mehr Selbstverantwortung“).
„GEW gegen Noten“ in FAZ, 23.2.2017, Bildungswelten
Nach der Vorstellung der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe sollten Noten nicht nur in Grundschulen, sondern in allen Schulformen abgeschafft werden.
Unter dem Slogan Heko („Heterogenität konkret”) können rheinland-pfälzische Schüler ohnehin selbst entscheiden, ob sie die leichtere oder die schwerere Aufgabenvariante bevorzugen. Um der Notenverbesserung auf die Sprünge zu helfen, wurde inzwischen ein objektives Leistungskriterium, der „Fehlerindex”, beim Französisch- und Englischabitur abgeschafft.
Im Fach Deutsch gestaltet sich der Kompetenzabbau noch bemerkenswerter. Rechtschreibung gilt als Unterdrückungsmittel und hat für linke Bildungsstrategen wohl nach wie vor den einzigen Zweck, die Unterschicht von den Fleischtöpfen der herrschenden Klasse fernzuhalten. So darf Orthographie an rheinland-pfälzischen Gymnasien bis zur zehnten Klasse keine oder nur eine untergeordnete Rolle bei der Notenfindung spielen. Selbst bei Diktaten darf munter im Rechtschreibwörterbuch geblättert werden. (…)
Eine schlechte Note zu geben ist indessen heute kaum noch möglich. Rheinland-Pfalz hat Rabatt- und Sonderregelungen für Rechtschreibschwache, Rechenschwache und inzwischen — natürlich — auch für Migranten. Eine Sonderklausel für „Abiturschwache” scheint nicht mehr ausgeschlossen, aber unnötig. Paragraph 53 der Schulordnung sorgt ohnehin dafür, dass nicht sein darf, was nicht sein soll. Wenn ein Drittel einer Arbeit unter „ausreichend” liegt, muss sich der rheinland-pfälzische Lehrer rechtfertigen, und die „schlecht” Benoteten dürfen Einsprüche geltend machen.
Dabei gilt die schlechte Note längst als Beweis für die pädagogische Unfähigkeit eines Lehrers, der den Schüler in seiner „Individualität” nicht hinreichend zu fördern wusste. Schon vor Jahren hatte der rheinland-pfälzische Landeselternbeirat „Ziffernoten” als „Körperverletzung” verurteilt. Die alljährlich veranstalteten „Vergleichsarbeiten” sind anonymisiert, so dass man nicht vergleichen kann und soll, wie ein Schüler im Leistungsvergleich abschneidet. In der entstandenen Grauzone ist das „Abitur für alle” in greifbare Nähe gerückt. (…)
Noch sind die Schulnoten nicht abgeschafft. Doch der schleichende Systemwechsel zur nivellierenden Einheitsschule, in der jede Leistungsdifferenz verschleiert werden soll, geht auch durch die Hintertür. Inzwischen sind Gefälligkeits-Abiture zum Beweis für erfolgreiches „Qualitätsmanagement” avanciert. Wer mag auch schon glauben, dass manch rührend arrangierte Abiturfeier bei Licht besehen ein Begräbnis erster Klasse darstellt. Die erhebliche Zahl der Studienabbrecher und psychisch erkrankter Studenten belegt indessen, dass man den massenhaft mit der „Hochschulreife” Ausgestatteten häufig einen Bärendienst erwiesen hat. Die vielfach beklagte Inflation der „Spitzenzensuren” setzt sich im Universitätsbereich ruinös fort, behindert die wirklich Begabten und stempelt leistungsorientierte Professoren zu lästigen Störenfrieden.
Die künstlich erzeugte Abiturientenlawine und der in Deutschland seit Jahren festzustellende Boom der Spitzenabiture und Jubelexamina sind Ergebnis eines Bildungssystems, in dem es scheinbar nur noch Gewinner gibt, da eben niemand mehr „zurückbleiben” soll [nach dem Motto: „No child left behind“]. (…)
Mancher Dumping-Abiturient von gestern ist inzwischen wohl selbst zum Abiturprüfer avanciert, so dass ein geschlossener Kreislauf entstanden ist. So hat das Mainzer Kultusministerium einen Rundbrief der „Fachberatung” auf seine Homepage gestellt, in dem das fehlerhafte Deutsch der Abiturprüfer beanstandet wird, die häufig Aufgabenstellungen „mit vermehrten Rechtschreibfählern” vorlegten. (…)
Der Autor unterrichtet Deutsch, Philosophie, katholische Religion und Ethik an einem rheinland-pfälzischen Gymnasium.
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