Archiv für den Tag: 14. März 2017

Das Bildungssystem erzeugt scheinbar nur noch Gewinner

Im Strom der Lemminge

Rheinland-Pfalz hat sich auf den Weg zum Abitur für alle gemacht und gibt inzwischen die Themen für das Abitur lange vorher bekannt. Die Hochschulreife gerät so zu einer Farce.

FAZ, 09.03.2017, Bildungswelten, von Walter Oldenbürger

Als im März 2015 ein 17 Jahre al­ter Schüler aus Nordrhein-West­falen beim Schulministerium anfragte, ob er die Abituraufga­ben — aus Gründen der „Informationsfrei­heit” — nicht vielleicht schon vor dem Klausurtag erhalten könnte, war dies na­türlich als Witz gemeint, der allseits für Heiterkeit sorgte. In Rheinland-Pfalz wird neuerdings niemand mehr verste­hen, worüber hier gelacht wurde. Denn das Deutsch-Abiturthema des Jahres 2017 hat das Mainzer Kultusministerium schon im März 2015 bekanntgegeben. Wer im Januar 2017 das schriftliche Abi­tur bestehen wollte, musste all das nicht mehr können, was bislang zum Grundbe­stand des deutschen Abiturwissens zähl­te. Er musste sich weder mit Gedichten noch mit Erzähl- oder Dramentexten aus­einandersetzen. Der rheinland-pfälzi­sche „Abiturient Light” konnte sich vielmehr 21 Monate lang einzig und allein auf folgendes Thema vorbereiten: die Erörterung eines Sachtextes zum The­menbereich „Medien”. Damit nun mög­lichst gar nichts mehr schiefgehen konn­te, war die Lehrerschaft auch noch ange­halten, die bekannte Aufgabe mit ihren Schülern fleißig einzuüben. (…)

Deutschlands Schummel-Abiture sind in Fachkreisen ebenso bekannt wie die frisierten Abgaswerte der VW-Modelle. „Der Bildungsabbau ist in vollem Gan­ge” (Cornelia Schwartz, Landesvorsitzen­de des Philologenverbandes), so dass die rheinland-pfälzischen Gymnasien seit Jahren nur noch dem Strom der Lemmin­ge folgen.

Dabei ist die vorherige Bekanntgabe des Abiturthemas bloß der Schluss­akkord des Trauerspiels. In Rheinland-Pfalz gingen zahlreiche Schritte voraus, die wohl jeden Leistungsmaßstab zerstö­ren sollten. Nachdem das Sitzenbleiben verboten (Grundschulen) oder nahezu auf null reduziert worden war, hat man die Schulen ermuntert, auf Noten doch lieber ganz zu verzichten (Schulversuch „Mehr Selbstverantwortung“).

„GEW gegen Noten“ in FAZ, 23.2.2017, Bildungswelten
Nach der Vorstellung der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe sollten Noten nicht nur in Grundschulen, sondern in allen Schulformen abgeschafft werden.

Unter dem Slogan Heko („Heterogenität kon­kret”) können rheinland-pfälzische Schü­ler ohnehin selbst entscheiden, ob sie die leichtere oder die schwerere Aufgabenva­riante bevorzugen. Um der Notenverbes­serung auf die Sprünge zu helfen, wurde inzwischen ein objektives Leistungskrite­rium, der „Fehlerindex”, beim Franzö­sisch- und Englischabitur abgeschafft.

Im Fach Deutsch gestaltet sich der Kompetenzabbau noch bemerkenswer­ter. Rechtschreibung gilt als Unterdrü­ckungsmittel und hat für linke Bildungs­strategen wohl nach wie vor den einzi­gen Zweck, die Unterschicht von den Fleischtöpfen der herrschenden Klasse fernzuhalten. So darf Orthographie an rheinland-pfälzischen Gymnasien bis zur zehnten Klasse keine oder nur eine untergeordnete Rolle bei der Notenfin­dung spielen. Selbst bei Diktaten darf munter im Rechtschreibwörterbuch ge­blättert werden. (…)

Eine schlechte Note zu geben ist indessen heute kaum noch möglich. Rheinland-Pfalz hat Rabatt- und Sonderregelungen für Rechtschreibschwache, Rechenschwache und inzwischen — natürlich — auch für Migranten. Eine Sonder­klausel für „Abiturschwache” scheint nicht mehr ausgeschlossen, aber unnö­tig. Paragraph 53 der Schulordnung sorgt ohnehin dafür, dass nicht sein darf, was nicht sein soll. Wenn ein Drittel einer Ar­beit unter „ausreichend” liegt, muss sich der rheinland-pfälzische Lehrer rechtfer­tigen, und die „schlecht” Benoteten dür­fen Einsprüche geltend machen.

Dabei gilt die schlechte Note längst als Beweis für die pädagogische Unfähigkeit eines Lehrers, der den Schüler in seiner „Individualität” nicht hinreichend zu för­dern wusste. Schon vor Jahren hatte der rheinland-pfälzische Landeselternbeirat „Ziffernoten” als „Körperverletzung” ver­urteilt. Die alljährlich veranstalteten „Vergleichsarbeiten” sind anonymisiert, so dass man nicht vergleichen kann und soll, wie ein Schüler im Leistungsver­gleich abschneidet. In der entstandenen Grauzone ist das „Abitur für alle” in greifbare Nähe gerückt. (…)

Noch sind die Schulnoten nicht abge­schafft. Doch der schleichende System­wechsel zur nivellierenden Einheitsschu­le, in der jede Leistungsdifferenz ver­schleiert werden soll, geht auch durch die Hintertür. Inzwischen sind Gefällig­keits-Abiture zum Beweis für erfolgrei­ches „Qualitätsmanagement” avanciert. Wer mag auch schon glauben, dass manch rührend arrangierte Abiturfeier bei Licht besehen ein Begräbnis erster Klasse darstellt. Die erhebliche Zahl der Studienabbrecher und psychisch erkrank­ter Studenten belegt indessen, dass man den massenhaft mit der „Hochschulrei­fe” Ausgestatteten häufig einen Bärendienst erwiesen hat. Die vielfach beklag­te Inflation der „Spitzenzensuren” setzt sich im Universitätsbereich ruinös fort, behindert die wirklich Begabten und stempelt leistungsorientierte Professo­ren zu lästigen Störenfrieden.

Die künstlich erzeugte Abiturientenla­wine und der in Deutschland seit Jahren festzustellende Boom der Spitzenabiture und Jubelexamina sind Ergebnis eines Bildungssystems, in dem es scheinbar nur noch Gewinner gibt, da eben nie­mand mehr „zurückbleiben” soll [nach dem Motto:  „No child left behind“]. (…)

Mancher Dumping-Abiturient von ges­tern ist inzwischen wohl selbst zum Abi­turprüfer avanciert, so dass ein geschlos­sener Kreislauf entstanden ist. So hat das Mainzer Kultusministerium einen Rund­brief der „Fachberatung” auf seine Home­page gestellt, in dem das fehlerhafte Deutsch der Abiturprüfer beanstandet wird, die häufig Aufgabenstellungen „mit vermehrten Rechtschreibfählern” vorlegten. (…)

Der Autor unterrichtet Deutsch, Philosophie, katholische Religion und Ethik an einem rhein­land-pfälzischen Gymnasium.

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