Archiv für den Monat: April 2018

Tablets im Unterricht: Digital First Lady

Großer Unfug

FAZ, 31.03.2018, ein Kommentar von Jürgen Kaube, zuständig für Wissenschafts- und Bildungspolitik

An vielen Schulen in Deutschland sind Smartphones nicht als Lösung bekannt – sondern als Problem. Auch wenn es viele fordern: Die Digitalisierung ist keine bildungspolitische Notwendigkeit.

Die Schulen müssen digitalisiert werden. So heißt es landauf, landab und so gut wie unabhängig von sonstigen Positionen in der Bildungspolitik. Im Koalitionsvertrag sind fünf Milliarden Euro in den kommenden fünf Jahren dafür vorgesehen. Dass das kaum ausreichen wird, um alle Schulen und alle Schüler mit dem auszustatten, was man sich an Servern, Clouds, W-Lan-Anschlüssen und Endgeräten (Smartphones, Tablets, PCs) so vorstellt, geht aus einfachen Rechnungen hervor. Manche halten die dreifache Summe für nötig.

Als in einer Glosse in der F.A.Z. die immensen Kosten einer Digitalisierung der Schule angedeutet wurden, schrieb uns ein geneigter Leser, wir hätten nicht richtig gerechnet. Schulbücher kosteten ja auch Geld. Wir hatten tatsächlich vergessen zu erwähnen, dass in all den Milliarden für die Hardware die Kosten für Schulbücher noch gar nicht enthalten sind. Denn die würden der digitalisierten Schule ja von den entsprechenden Verlagen alle noch einmal verkauft, nämlich digital. Zusätzlich eigens für die Schule entwickelte Lernprogramme, Sicherheitssoftware – Schulbücher kann man nicht hacken und auf Kreidetafeln keine Videos hochladen, die unter den Jugendschutz fallen –, samt all den Weiterbildungskursen, die für eine Digitalisierung auch der Lehrerschaft sorgen sollen. Man kann den Schulträgern schon jetzt viel Tapferkeit beim Durchkalkulieren des Modells „Digital first, Bedenken second“ wünschen.

Die Schulministerin von Nordrhein-Westfalen, Yvonne Gebauer (FDP), hat darum einen Vorschlag gemacht, wie private Initiative hier helfen kann. Die Schüler hätten ja schon fast alle ein Smartphone, sollten sie es doch in den Unterricht mitbringen dürfen. Wie viele „fast alle“ sind, ist dabei nur die eine Frage, an der ein paar Fußnoten zum Thema „Lehrmittelfreiheit“ hängen. Die viel wichtigere zweite wäre, was die Schüler in den Klassenzimmern denn mit ihren Telefonen machen sollen. Allgemeiner formuliert: Was ist denn, wenn die digitale Industrie ihr großes Geschäft mit den Schulen (etwa elf Millionen Schüler) gemacht haben wird, der Beitrag des Internets als Lehrmittel? Wenn alle Geräte verteilt, an jeder Schule Geräteverwalter und Techniker eingestellt, alle Sicherheitsprobleme gelöst sind und nach dem ersten Jahr digitaler Schule auch feststeht, wie hoch der Verschleiß ist – auf welche Weise bewegt sich denn dann der Unterricht in Richtung Zukunft?

Ob Dorothee Bär (CSU), die neue Staatsministerin für Digitalisierung, einmal – Rechnen ist auch eine wichtige Kulturtechnik – überschlagen hat, was die Komplettversorgung der 40.000 deutschen Schulen und 7,9 Millionen Schüler mit dem Elektroschrott von morgen (Abschreibungszeitraum fünf Jahre) kosten würde? Oder nachgelesen hat, dass dafür selbst bei aberwitzig gering angesetztem Wartungsaufwand ein Bedarf an 2,8 Milliarden Euro jährlich – ohne Berufsschulen! – ausgerechnet wurde? Also vierzehn Milliarden in fünf Jahren, nicht fünf, wie in ihrem Koalitionsvertrag? […] Hat sie gehört oder gelesen, wie es um das Lesen (immer weniger ganze Texte), Schreiben (zuletzt gern nach Gehör) und Rechnen (Dividieren mancherorts erst ganz am Ende der Grundschule) an deutschen Schulen steht?  [Einschub kursiv durch Schulforum-Berlin, aus: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/digitalisierung-an-schulen-kommentar-zu-dorothee-baers-strategie-15480853.html]

An vielen Schulen dieses Landes sind Smartphones nicht als Lösung, sondern als Problem bekannt. Man hat darum mancherorts die Nutzung der Geräte im Bereich der Schule untersagt: um Ablenkung im Unterricht zu verhindern. Um die Schule nicht zur Versammlung isoliert computerspielender oder filmchenschauender Atome zu machen, die sich der Bildschirme halber nur noch in den schattigen Zonen des Pausenhofs bewegen. Um Cybermobbing wenigstens ein paar Stunden lang zu verhindern.

Die Behauptung, es handele sich bei Smartphones in Händen von Kindern und Jugendlichen in erster Linie um Instrumente der Wissensgesellschaft, ist abenteuerlich. Wenn das Smartphone einer Zwölfjährigen ein Wochenende lang nicht benutzt worden ist, sind, sobald es am Sonntagabend wieder eingeschaltet wird, leicht 150 Whatsapp-Meldungen eingetroffen. Nicht selten sind sie nach 22 Uhr abgesendet worden. Die Post besteht dabei größtenteils aus Fotos, Emojis und „Hi!“- und „Wie geht’s“-Mitteilungen samt üblichem Klatsch. Und dann und wann ein Schulbezug. Die Ausrede ist, man benötige solche elektronische Gruppenbildung, um sich über Hausaufgaben auszutauschen. Die Schüler sind heute genauso wenig um solche Sprüche verlegen wie frühere Generationen.

Es sind die Erwachsenen, die inzwischen gern auf jede Phrase hereinfallen, solange sie sich nur nach Zukunft, Innovation und Silicon Valley anhört. Phrasen wie „Standortsicherung“ – als müsse um des Hervorbringens von mehr Informatikern willen die gesamte Schule digitalisiert werden. Phrasen wie „individualisiertes Lernen“ – bei gleichbleibender Verarbeitungskapazität des Lehrers? Phrasen wie „Internetkompetenz“ – als hätte die irgendjemand von denen, die sie für Schüler fordern, oder könnten die auch nur sagen, worin sie denn bestünde. Phrasen wie „Multitasking“: Neun von zehn College-Studenten in den Vereinigten Staaten gaben schon vor fünf Jahren an, dass sie während des Unterrichts Nachrichten versendeten. Dass weniger gelernt wird, wenn die Laptops aufgeklappt sind, ist vielfach nachgewiesen und auch nicht erstaunlich. Es gibt so viel Lustigeres als Lernen oder auch nur Zuhören. Und das sollte für Jüngere in den Schulen anders sein?

Das Gegenargument, auch früher hätten die Schüler Wege gefunden, um sich geistig aus dem Unterricht davonzumachen, greift am Problem vorbei. Denn gefragt wird ja nach dem Nutzen der Digitalisierung, nicht danach, ob die gelangweilte oder sich ablenkende Klasse vermieden werden kann. Kann sie es nicht, müssten dafür auch nicht die Schulen umgerüstet werden. Und zwar zu Kosten, die einmal jemand in Lehrerstellen umrechnen sollte, damit die Dimension des Unfugs sichtbar wird, der gerade als bildungspolitische Notwendigkeit gilt.

zum Artikel:  FAZ, 31.03.2018, Kommentar von Jürgen Kaube, zuständig für Wissenschafts- und Bildungspolitik

Anmerkungen im Einzug durch Schulforum-Berlin.

siehe auch:  Tablets lenken nur ab!
Welchen Beitrag elektronische Geräte zur Verbesserung des Schreibens leisten sollen, ist schleierhaft. Als Deutschlehrer kann man vor dem unbedingten Willen der Politik zur Digitalisierung der Schulen nur warnen. Ein Gastbeitrag des Deutschlehrers

Inklusion: „mittendrin – oder nur dabei?“

Bremer Gymnasium klagt gegen Inklusion

Eine Bremer Schulleiterin klagt dagegen, an ihrem Gymnasium auch Inklusionsschüler aufzunehmen. Als menschenverachtend kommentierte Autor Christian Füller den Schritt. Eine Gegenrede.

Spiegel Online, 17.04.2018, Kommentar von Michael Felten

Michael Felten, Jahrgang 1951, ist Pädagoge und Publizist. Er betreibt die Webseite, inklusion-als-problem.de und hat das Buch: „Die Inklusionsfalle“ veröffentlicht (siehe nebenstehende Bücherliste).

Eine Schulleiterin aus Bremen klagt dagegen, an ihrer Schule Inklusion einzuführen – und in einem Kommentar wird sie dafür von Autor Christian Füller mit einem Warlord in einem Schurkenstaat verglichen.

Wer sich eingehend mit dem Fall beschäftigt, muss aber zu einem anderen Schluss kommen: Die Direktorin möchte Kinder mit besonderem Förderbedarf „Wahrnehmung und Entwicklung“ (landläufig: „geistige Behinderung“) höchstens dann aufnehmen, wenn es zusätzliche Förderräume gibt, wenn genug Sonderpädagogen zur Verfügung stehen – und wenn die Regellehrer auf den Umgang mit Behinderten gründlich vorbereitet sind. Sie bezweifelt außerdem grundsätzlich, dass solche W+E-Schüler am Gymnasium gut aufgehoben seien.

Die vorgesetzte Bildungsbehörde hingegen will Inklusion als Prinzip kraft Amtes durchsetzen – auch unabhängig davon, ob bereits angemessene Bedingungen geschaffen wurden. Frei nach dem Prinzip Banane: Die Ware reift beim Kunden.

Womöglich kommen alle zu kurz

Dass die Schulleiterin dagegen klagt, klingt nach gesundem Menschenverstand, ja nach respektablem Ethos. Sie befürchtet eben, dass bei Hast und Mangel alle Beteiligten zu kurz kommen; die geistig Behinderten ebenso wie die normalen Gymnasiasten.

Zumal Gymnasien ja schon jetzt ihre Bildungsaufgabe immer seltener erfüllen können, weil überall die Eignungsstandards sinken. Zudem sucht Bremen händeringend Sonderpädagogen, nachdem es deren Studiengang vor Jahren kurzerhand eingestampft hatte.

Die Klägerin verfügt offenbar auch über eine gehörige Portion Zivilcourage. Denn hiesige Verfechter einer radikalen, totalen Inklusion neigen nicht selten zu fanatischem Eifer. So erinnerte Kommentator Füller an Zeiten der Rassentrennung („Rosa Parks“), bemühte zwischen den Zeilen gar die Nazikeule („ungesundes Volksempfinden“). Dabei ist sein scheinhumanes Pathos („Menschenrechte“) nicht zuletzt ein Trojanisches Pferd – zum Schleifen des Gymnasiums.

Füllers Argumentation wirkt wie ein verzweifeltes Rückzugsgefecht. Denn ein Faktencheck zeigt überraschenderweise, dass das deutsche Bildungswesen die Uno-Behindertenrechtskonvention (BRK) bereits weitgehend erfüllt: Förderschulen sind derjenige Teil des allgemeinbildenden Schulsystems, der soziale Teilhabe durch spezifische Unterstützung herbeiführen soll – und solche besonderen Maßnahmen gelten gerade nicht als Diskriminierung (BRK, Art. 5.4).

BRK, Art. 5.4: Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens. https://www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/

Die Wahl der Förderschule darf nicht verwehrt werden

Leitkriterium ist immer das Wohl des einzelnen Kindes (Art. 7.2) – der Besuch einer Förderschule als spezifischer Schutzraum und Förderort kann also im Einzelfall geradezu geboten sein.

BRK, Art. 7.2: Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Zudem gilt noch immer die Kinderrechtskonvention. Demnach ist das Recht von Eltern zu respektieren, ihre Kinder entwicklungsförderlich „zu leiten und zu führen“ (KRK, Art. 5) – sollte die Inklusionsschule also zu Nachteilen führen, darf ihnen die Wahl einer Förderschule nicht verwehrt werden.

KRK, Art. 5: Die Vertragsstaaten achten die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Eltern […] das Kind bei der Ausübung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen. https://www.kinderrechtskonvention.info/erziehungsverantwortung-der-eltern-3447/

Soweit die Rechtslage zur Inklusion. Und was sagen die Humanwissenschaften? Schließlich geht es nicht primär um Verträge, gar um abstrakte Prinzipien, sondern um Kinder, um menschliche Entwicklung. Das sprichwörtliche Rollstuhlkind ist noch am leichtesten zu inkludieren; aber schon bei Hörgeschädigten stellt sich die Frage „mittendrin – oder nur dabei?“.

Und wird dauerhaft zieldifferent unterrichtet, wie es Lehrer mit heterogenen Klassen tun müssen, führt das spätestens in der Pubertät häufig dazu, dass sich die Klasse in verschiedene Gruppen aufspaltet. Übergroße Heterogenität ist im Schulbereich jedenfalls kein Gütekriterium per se.

Eine Billigvariante namens „Inklusionsschule“

Seit Jahrzehnten wurden hierzulande einzelne Schüler mit Behinderungen erfolgreich integrativ unterrichtet – diese Prototypen haben funktioniert, wenn auch nicht zum Nulltarif. Als Serienmodell haben nun aber viele Bundesländer eine Billigvariante namens „Inklusionsschule“ geordert. Das Ergebnis in den Worten des Bildungswissenschaftlers Bernd Ahrbeck: „wohlwollende Vernachlässigung“ aller Schüler.

„Gemeinsames Lernen“, diese Heile-Welt-Formel ist angesichts des Finanz- und Personalmangels nichts als Augenwischerei („Inklusionsfalle“). Und selbst bei optimalen Ressourcen wäre es illusorisch anzunehmen, man könne alle Kinder durchgängig gemeinsam beschulen, auch solche mit schwersten Entwicklungsstörungen. Weltweit geschieht dies nirgendwo. Verabschieden wir uns also von unseliger Prinzipienreiterei – und lernen, dual-inklusiv zu denken, wie es der Sonderpädagoge Otto Speck nennt.

Dabei bekäme jedes Kind die in seinem Fall günstigsten Bedingungen, und darüber haben Lehrer und Eltern zu befinden, nicht die Politik oder eine Ideologie. Schüler mit gravierenden Behinderungen brauchen exklusive Lerngruppen und spezifische Lehrerexpertise, zumindest phasenweise. Einem reichen Land sollten Förderschulen – oder wie in Bayern: Förderklassen an Regelschulen – nicht zu teuer sein.

Der Bremer Direktorin gebührt nicht nur Respekt, sondern auch Klageerfolg. Denn Bildungsbehörden würde damit verwehrt, per Federstrich von ihren Lehrkräften das Unmögliche zu verlangen.

Anmerkungen im Einzug durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/bremen-kommentar-zur-klage-einer-schulleiterin-gegen-inklusion-a-1203210.html . Siehe auch nachfolgende Leserkommentare zur Gegenrede von Michael Felten auf Spiegel Online!

siehe auch: Profil, Deutscher Philologenverband, 6/2018, S. 30-32

siehe auch:  Von der Schule für alle steht in der Konvention nichts

„Face-to-Face bleibt unschlagbar, wenn ein begeisternder Lehrer mit seinen Schülern arbeitet.“

Digitalisierung in der Schule „Raus mit den Computern“

„Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“ heißt das Buch, in dem Gerald Lembke gemeinsam mit Co-Autor Ingo Leipner die fortschreitende und politisch auch gewollte Digitalisierung an deutschen Schulen kritisiert [3. überarbeitete Auflage, 2018]. Prof. Dr. Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim und Präsident des Bundesverbandes für Medien und Marketing.

Süddeutsche Zeitung, Interview von Matthias Kohlmaier

SZ.de: Deutsche Achtklässler sind in Sachen Computerkompetenz im internationalen Vergleich nur Durchschnitt. Trotzdem wünschen Sie sich weniger digitale Hilfsmittel im Bildungswesen. Wie passt das zusammen?

Gerald Lembke: Ich bin der Überzeugung, dass digitale Hilfsmittel in der Bildung bis zum zwölften Lebensjahr keine nennenswerten positiven Effekte erbringen. Deswegen haben mein Co-Autor Ingo Leipner und ich die These formuliert: Raus mit den Computern aus den niedrigen Klassen! Die Befreiung des kindlichen Lernprozesses von Computern fördert die Medienkompetenz ab dem zwölften Lebensjahr überproportional. Erst dann sind die Kinder von der neurowissenschaftlichen sowie von der entwicklungsbiologischen Reife in der Lage, Computer zielgerichtet für einen Lernprozess einzusetzen.

Was spricht dagegen, Kinder früh an die Benutzung von Computer, Tablet und Smartphone heranzuführen?

Wenn ein Kind im Alter von acht Jahren ganz toll mit dem iPad umgehen kann, hat es vielleicht eine hohe Wischkompetenz, mit Medienkompetenz hat das aber nichts zu tun. Wenn Kinder mit Smartphones, Tablets und Co. hantieren, bedienen sie sie völlig kontextfrei – nicht mit den Zielen Wissensaneignung und -verwertung.

Trotzdem ist es doch kein Nachteil, wenn sich Kinder bereits in jungen Jahren an die Bedienung digitaler Endgeräte herantasten.

Das mag richtig sein. Aber das reine Bedienen lernen die Kinder zu Hause automatisch, dafür braucht es die Schule nicht.

Im außerschulischen Bereich haben Sie also nichts dagegen, wenn Kinder auch vor dem zwölften Lebensjahr mit Smartphones spielen?

Nein. Im Privaten muss die digitale Mediennutzung aber von Eltern eng begleitet und kontrolliert werden. In der Bildung sind solche Geräte im jungen Alter kontraproduktiv, weil sie den Fokus von den eigentlich wichtigen Dingen ablenken. Medienkompetenz entwickelt sich erst dann, wenn die Schüler reif genug sind um zu verstehen, was sich auf dem bunten Bildschirm vor ihnen abspielt, und sie bei der Nutzung von digitalen Hilfsmitteln in der Bildung zielgerichtet unterstützt werden.

Sie fordern, die Lehrer bei der Digitalisierung der Bildung stärker in die Pflicht zu nehmen.

Unbedingt. Bei den Lehrern, und zwar von der Grundschule bis ins Gymnasium, sehe ich einen großen Mangel an digitaler Kompetenz. Es gehört ganz oben auf die Agenda, dass Lehrer durch Fortbildungen in dieser Hinsicht fit gemacht werden. Solange das nicht in noch größerem Umfang geschieht, werden ihnen die Schüler auf der Nase herumtanzen, wenn es um Themen wie zum Beispiel Recherche im Internet oder Nutzung von sozialen Netzwerken geht.

Das heißt, die digitale Welt sollte in der Schule eine große Rolle spielen?

Grundsätzlich ja. Aber vor dem 12. Lebensjahr haben Kinder in der Schule nicht auf Tablets herumzuwischen. Sie sollen schreiben, anfassen, die physische Welt kennenlernen. Mit den Fähigkeiten, die sich daraus entwickeln, können sie dann später von geschulten Lehrern langsam und systematisch an die digitale Welt herangeführt werden.

Wie könnte das in der Praxis aussehen?

Der Lehrer könnte die Schüler zu einem bestimmten Thema, zum Beispiel der Oscarverleihung, recherchieren lassen. Wenn Sie dann einfach in Google „Oscars“ eingeben und die ersten zehn Treffer kopieren, dann kann der geschulte Pädagoge eingreifen und erklären, dass die Informationen nicht zwingend besonders relevant sind, nur weil sie bei Google weit oben gerankt werden. Dass es notwendig ist, solche vermeintlichen Fakten zu prüfen und nicht kritiklos zu übernehmen. Er muss natürlich auch erklären, wie man vertrauenswürdige Quellen erkennt und dass die Bibliothek oft sinnvollere Möglichkeiten zur Recherche bietet. So können die Schüler zum einen erkennen, wie man digital korrekt recherchiert – und zum anderen, dass im Internet auch viel Quatsch steht.

Warum sollte die Recherche in einer Bibliothek sinnvoller sein als im Internet?

Aus der Forschung wissen wir, dass das Arbeiten mit physischen Quellen eine andere Wissensnachhaltigkeit liefert, als das bei digitalen Medien der Fall ist. Ich habe dazu selbst geforscht und herausgefunden: Wenn Studenten Quellen auf dem Bildschirm sichten und danach reproduzieren sollen, bleibt weniger Erlerntes haften, als das bei einem analog vorliegenden Text der Fall ist. Digital vorbeirauschende Inhalte bleiben nicht so dauerhaft im Gedächtnis wie physisch konsumierte Inhalte.

Woran liegt das?

Tests mit der sogenannten Eye-Tracking-Methode zeigen: Die Lesegeschwindigkeit von Buchstabe zu Buchstabe steigt am Bildschirm zwar nicht, wohl aber die Geschwindigkeit, in der ein kompletter Artikel „gelesen“ ist. Wir beobachten ein Scannen der Webseite – Überschrift und Bild werden noch wahrgenommen, der Konsum des kompletten Artikels geht dann entweder sehr schnell oder passiert gar nicht. Internetseiten zeigen nur einen Ausschnitt eines Textes, gescrollt wird, auch das zeigen Untersuchungen, in zwei Dritteln der Fälle gar nicht mehr. Die Folge: Artikel am Bildschirm werden meist nur teilweise gelesen oder überflogen.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für Ihre eigenen Studenten?

Ich habe bei uns an der Hochschule in den digitalen Medienstudiengängen die Computer abgeschafft. Laptops in Vorlesungen bleiben bei Aufforderung des Dozenten geschlossen, und in unseren Computerraum kommt man nur noch auf Anfrage rein.

Und die Studenten halten sich daran?

Wir haben vor einem Jahr damit begonnen und bisher musste ich selten jemanden deshalb ermahnen. Ich habe den Studenten vorher ausführlich erklärt, dass wir ihnen den größtmöglichen Lernerfolg ermöglichen wollen – und Computer dazu nicht zwingend notwendig sind. Nach langer Diskussion haben die meisten dann auch eingeräumt, dass sie den Laptop während der Vorlesung ohnehin primär für Facebook und nur sekundär zum Mitschreiben brauchen.

Wie sah das Feedback in der ersten Zeit aus?

Zu Beginn war das natürlich eine Katastrophe, weil sich viele Studenten ihrer Freiheit beraubt gefühlt haben. Mit der Zeit habe ich immer wieder gehört: Es ist gut, dass die Ablenkung abgeschafft ist, die Vorlesungen laufen jetzt viel ruhiger und konzentrierter ab. Wenn sich 20-Jährige nun schon so leicht von der digitalen Welt ablenken lassen – wie schwierig muss es dann erst einem Drittklässler fallen, sich trotz Laptop oder Tablet auf die Ausführungen des Lehrers zu konzentrieren.

Weniger digital, dafür mehr analog: Wie oft sind Sie für diese Einstellung schon „gestrig“ geschimpft worden?

Gegenwind gibt es natürlich, aber beschimpft hat mich bisher noch niemand. Im Gegenteil: Ich erlebe eine große Offenheit dem Thema gegenüber. Viele Menschen stören sich daran, dass man das Immer-früher-und-immer-mehr im digitalen Bereich zwangsläufig toll finden muss. Ich finde den Wunsch, digitale Medien nur kontrolliert in unser Leben und in das unserer Kinder zu lassen, schon deshalb überhaupt nicht gestrig, sondern sogar sehr modern.

zum Artikel:  http://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-in-der-schule-raus-mit-den-computern-1.2404056


siehe auch:

Prof. Gerald Lembke zum Thema: Digitales Lernen in Schulen und Hochschulen – Fluch oder Segen?

[…] Was da alle fordern [Politik, Wirtschaft und eLearning-Anbieter], habe ich als Studiengangsleiter und Studiendekan für „Digitale Medien“ fünf Jahre lang in die Praxis umgesetzt: Jeder Student bekam einen Laptop oder ein Tablet für das ganze Semester, um Programmiersprachen und den Umgang mit Digitalen Medien zu lernen.

Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Nach fünf Jahren der „Lerndigitalisierung“ musste ich feststellen, dass 1. die Noten nicht besser wurden und 2. der Einsatz der Laptops keine positiven Lerneffekte brachte. Außerdem nahm 3. die Konzentration in den Vorlesungen durch Dauerablenkung massiv ab und 4. wurde der disziplinarische Aufwand der Lehrenden immer größer, obwohl alle Dozenten Experten auf dem Feld der digitalen Medien sind. Schließlich führte diese Hardware-Vollversorgung zu noch höheren Ansprüchen, etwa nach dem Motto: „Bekommen wir jetzt auch eine 6000-Euro-Kamera?“

Letztlich habe ich diese „Zwangsdigitalisierung“ beendet. Es erfolgt jetzt ein lernzielgerichteter und von Dozenten und Mentoren begleiteter Einsatz von Hard- und Software, wo sie als Instrumente sinnvoll erscheinen – und das entscheide ich oder der Dozent. Mit der Folge: Der Einsatz dieser technischen Hilfsmittel ist heute sogar am Studiengang „Digitale Medien“ nicht täglich und pauschal der Fall.

Warum sollte nun ein Schüler von acht Jahren ein iPad an die Hand bekommen? Wenn doch selbst „die Großen“ diese zum Spielen und Chatten nutzen? Offenbar können auch sie nicht wirklich damit umgehen, und dadurch sind positive Lerneffekte nicht möglich.

Das hat nicht zuletzt die weltweite Hattie-Studie bewiesen: Nicht Technik entscheidet über den Lernerfolg, sondern in erster Linie die Persönlichkeit des Lehrers. […] Zentral bei jeder Lernerfahrung sind die zwischenmenschliche Interaktion, die spontanen Diskussionen im Unterricht sowie das gemeinsame Lernen in Gruppen. Face-to-Face bleibt unschlagbar, wenn ein begeisternder Lehrer mit seinen Schülern arbeitet. Da kann kein MOOC [Massive Open Online Course] aus Harvard mithalten! […]

aus:  https://www.pinkuniversity.de/video-learning-blog/gerald-lembke-sinnvolles-digitales-lernen-statt-digitaler-dauerbeschallung/