Archiv für den Monat: Juni 2019

Herrschaft im digitalen Zeitalter: „Wir sollen weiter manipuliert werden – nur anders“

„Das Internet ist das neue Schlachtfeld“

Tagesspiegel, 25.03.2019, von Christian Hönicke und Ralf Schönball

IT-Experte Gregor Engelmeier, 54, Informatiker und Entwicklungsleiter bei einer Berliner Firma für Lernsoftware. Über seinen beruflichen Alltag hinaus interessiert sich der IT-Experte besonders dafür, wie sich soziale und technische Systeme gegenseitig durchdringen – also wie seine Branche die Gesellschaft verändert.

Engelmeier: […] Digitalisierung ist ein sozial-technologischer Prozess. Es entstehen Gemeinschaften rund um Apps wie Facebook oder Online-Spiele. Darin gibt es zwei Akteure, Menschen und Maschinen. Und beide Akteure verfolgen Ziele: Die Menschen wollen Spaß haben, und die Maschinen sind dazu eingerichtet, die Menschen systematisch zu geldbringenden Aktivitäten zu führen. Das ist ganz anders als bei allen Medien bisher und wirft völlig neue Fragen auf. Denn ich fürchte, die Bundeskanzlerin hat auch Recht, wenn sie sagt: „Es wird alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden kann.“

Trägt die Digital-Offensive an den Schulen zur Bildung von digital kompetenten Bürgern bei?
Nein. Es bringt überhaupt nichts, wenn für fünf Milliarden Euro Tablets und Internetzugänge in den Schulen abgeworfen werden. Eine App bedienen zu können, ist kein Zukunfts-Skill, den ich brauche. Im Silicon Valley begrenzen leitende Mitarbeiter der Tech-Konzerne rigide die Online-Zeiten ihrer Kinder, in den Schulen und zu Hause. Gerade weil sie wissen, was da passiert. In den öffentlichen Schulen Kaliforniens werden dagegen nach wie vor Tablets ausgekippt. Das ist entweder wenig durchdacht oder perfide.

Wie sähe eine sinnvolle digitale Bildungspolitik aus?
Man muss den Menschen die Mittel geben zu reflektieren, wie ihre digitale Umwelt aufgebaut ist. So wie man Schüler auch befähigt, mit Filmen, Werbung, Presseerzeugnissen oder Romanen umzugehen, sollten sie lernen, wie Programme konstruiert sind, etwa das Spiel „Fortnite“. Wie ist die Erzählstruktur, die Bildwelt? Warum macht mich das so an, welche Stilmittel und Verführungstechniken werden verwendet? Will ich mich davon anmachen lassen, und wenn ja warum?

Die Internetexpertin des Bundesmissbrauchsbeauftragten, Julia von Weiler, fordert ein Smartphone-Verbot für Minderjährige unter 14 Jahren. Ein guter Vorschlag?
Man kann viel fordern. Aber wenn die ganze Klasse Whatsapp nutzt, haben es Kind und Eltern schwer, sich dem zu entziehen.

Sollte man wenigstens vor den Gefahren der Online-Sucht warnen wie vor dem Rauchen?
Hilfreich wäre auf jeden Fall, mehr Transparenz über die Nutzungsintensität der Apps zu schaffen – für die Erziehungsberechtigten und die Kinder. Von Gamern weiß ich, dass sie ihre eigenen Online-Zeiten stark unterschätzen.

War das bei Einführung des Fernsehens nicht genauso?
Die Herausforderung für die Familien ist ähnlich: die Steuerung der Verwendung des Zeit- und Aufmerksamkeitsbudgets der Kinder und Jugendlichen. Heute ist es schwieriger, weil das Smartphone immer und überall verfügbar ist. Es ist immer eine App da, mit der ich irgendwas tun kann. Diese Art, Zeit totzuschlagen, ist im Design der Geräte und der Betriebssysteme angelegt.

Der Online-Sog gehört zum Geschäftsmodell?
Ja. Unsere Gesellschaft hat sich darauf geeinigt, dass die vielfach sehr nützlichen oder unterhaltsamen Dienste zunächst mal kostenlos sind. Aber die Anbieter müssen ja irgendwie Geld verdienen, und deshalb nehmen es die Konsumenten in Kauf, dass ihr Nutzungsverhalten analysiert und auch beeinflusst wird.

Wie sieht die digital kompetente Gesellschaft der Zukunft aus? Werden wir die Geräte dauerhaft nutzen, weil sie ins Hirn eingebaut sind, oder gar nicht mehr?
Ich glaube, weder noch. Idealerweise nutzen die Menschen die Technik bewusst, reflektiert und kreativ. Die andere Seite der Medaille ist ja das ungeheure Kreativpotenzial des Einzelnen, das er in einem Maß zur Geltung bringen kann wie nie zuvor. Wie jemand auf Youtube hochgespült werden kann, das hat ein unvergleichliches Potenzial an Emanzipation und Stärkung. Das kann aber genauso genutzt werden als Mittel der Verängstigung, der Manipulation oder zur mehr oder weniger subtilen gesellschaftlichen Steuerung.

Wenn alle von Geburt an gefilmt, gepostet und geliked werden, häuft sich ein ungeheurer personalisierter Datenschatz an – inklusive aller Fehltritte und Jugendsünden. Facebook will den Datenschutz verbessern, durch eine Verschiebung vom Öffentlichen ins Private. Mark Zuckerberg spricht von „einfachen, intimen“ Plattformen, auf denen man die volle Kontrolle über seine Daten haben soll. Der größte Datenhändler will Datenschützer werden: Ist das glaubwürdig?
Es ist eher ein Anzeichen dafür, wie relevant die Themen der digitalen Kontrolle geworden sind. Und vielleicht auch dafür, wie stark der Druck auf die großen Plattformen inzwischen ist. Sie sind in eine Sphäre vorgestoßen, in der sie auf sehr schlagkräftige legislative und exekutive Gegner stoßen. Da überlegt man es sich als Unternehmen vermutlich, ob man kämpft oder sich lieber mit dem Gegner verbündet. Im Falle des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes hat Facebook zunächst mal die Niederlage hingenommen.

Es gibt zwar offiziell ein Recht auf Löschung – aber wie kann man kontrollieren, ob das wirklich getan wird?
Das können Sie nicht. Weder bei den Firmen noch beim Staat. Der Staat sichert sich ein legales Zugriffsrecht auf fast alle Datentransfers. Der BND hat am weltgrößten digitalen Internet-Knotenpunkt in Frankfurt nahezu unbegrenztes Zugriffsrecht. Durch solche Knotenpunkte fließt unser kompletter Datenverkehr.

Sind die Internet-Befugnisse der Sicherheitsbehörden eine Gefahr für die Demokratie?
Ja. Der Einzelne muss vor dem Staat geschützt werden. Aus der Erfahrung des Absolutismus wissen wir, dass die Gewaltenteilung der Weg dazu ist. Seither kontrollieren sich die Gewalten gegenseitig. Voraussetzung für die Kontrolle ist die Trennung der Informationen – ein Informationsaustausch erfolgt nur in geregelten und meistens transparenten Prozessen. Genau das ist das erste, was totalitäre Staaten abschaffen. Das war auch bei den Nazis so. Nach dem Krieg haben die USA daher verordnet, dass es nie wieder eine geheime Staatspolizei in Deutschland mit Zugriff auf alle Informationsquellen des Staates geben darf. Diese Grenzen zwischen den Gewalten sind nun in Gefahr.

Wenn Daten Macht sind, sind Informatiker die heimlichen neuen Weltherrscher?
Nein. Aber Informatiker stellen Herrschaftsinstrumente her. Man kann IT in zwei Bereiche gliedern: Entwickler und Administratoren. In der Administration hat man es direkt mit sensiblen Daten zu tun, ein Beispiel war Snowden. Die Entwickler, die programmieren und implementieren, haben wiederum eine immense Gestaltungsmacht. Etwa wenn man am neuen Relevanzcode von Google arbeitet oder an der Timeline von Facebook oder an Themen wie Sprach- oder Gesichtserkennung.

Sind sich die Informatiker ihrer Verantwortung bewusst?
Ich hoffe. Es gibt viel mehr nachdenkliche Menschen in meiner Branche, als man denkt. Manche interessiert es aber auch gar nicht, weil sie einfach in die Schönheit ihrer Algorithmen verliebt sind. Das ist nicht verwerflich, spielt aber ihren Auftraggebern in die Karten.

Zu Beginn diente das Internet der reinen Kommunikation. Wie ist es zu einem Werkzeug der Nutzermanipulation geworden?
Das Internet als Netz der Netze, wie es vor 50 Jahren konzipiert wurde, gibt es immer noch. Es ist die rein technische Ebene, auf der potentiell alle Arten von technischer Kommunikation miteinander verbunden werden. Die verhält sich auf der Ebene des Inhalts neutral, sie leitet die eingespeisten Informationen nur weiter. Mit der Entwicklung der Suchmaschinen war das Netz nicht mehr neutral. Bei Amazon oder Google sieht nicht mehr jeder den gleichen Inhalt, wenn er denselben Suchbegriff eingibt, durch die sogenannte Personalisierung. Mit der Einführung der Apps vor etwa zehn Jahren wurde es noch ganz anders. Nun greift das Netz aktiv nach der Aufmerksamkeit seiner Nutzer.

Wie tut es das?
Der Nutzer muss nicht mehr selbst aktiv entscheiden, dass er seine Mail checkt oder eine neue Gamerunde spielen will, sondern wird von diesen Diensten aktiv aufgefordert, dies zu tun. Sie ermahnen ihn „Sie haben fünf neue Nachrichten“ oder „Deine Freunde sind schon online! Spiel mit!“ Diese Push-Nachrichten stupsen die User an, sich mit der Maschine zu beschäftigen.

Wie genau schaffen es die Apps, uns damit nicht zu nerven, sondern immer wieder erfolgreich zu locken?
Am Anfang steht die Datenerhebung. Ein Teil des Erfolgsgeheimnisses der Apps ist die wissenschaftlich rigorose Analyse der Nutzungsdaten. Die Klassifikation von Millionen Daten, zum Beispiel weil 50 000 User sich bei Zuspielung einer bestimmten Information ähnlich verhalten: Sie, ich und jeder andere User wird so tausendfach klassifiziert und gruppiert. Nach solchen Gemeinsamkeiten in den Daten suchen die Algorithmen ständig.

Und was macht die Maschine damit?
Sie kann auf dieser Grundlage eigene Schlüsse ziehen: User, die dieses angeklickt haben, werden vermutlich als nächstes jenes anklicken. Das folgt den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Maschine lernt, aus dem bisherigen Verhalten des Users dessen künftiges vorherzusagen. Sie reagiert darauf mit Informationsangeboten, die ihn in letzter Konsequenz dazu bringen sollen, sich so zu verhalten, dass der Profit der App maximiert wird.

Sind Menschen in diesen Prozess eingebunden?
Nein. Twitter hat rund 320 Millionen Nutzer, aber nur knapp 4000 Mitarbeiter. Die können sich nicht Milliarden Nachrichten anschauen. Selbst wenn man die Firmen zur Offenlegung des Prozesses zwänge, bekäme man nur einen leeren Algorithmus. Wie und warum der in bestimmten Situationen so entscheidet, wie er das tut, können nicht einmal seine Programmierer nachvollziehen. Weil ihnen die Milliarden Daten fehlen, mit denen er sich selbst trainiert hat.

Weiß die Maschine wenigstens selbst, was sie tut?
Nein, die weiß gar nichts.

Die viel besungene KI ist nur eine blöde Maschine ohne Erkenntnis?
Künstliche Intelligenz ist simulierte Intelligenz. Die Entscheidungen leitet sie aus der Summe früherer Entscheidungen ab. Wir Informatiker füttern sie dazu am Anfang mit Trainingsdaten, da kann ich die ersten Entscheidungen noch überprüfen. Wenn ich den Algorithmus ins echte Leben entlasse, lernt er mit echten Daten weiter und die Zahl der Entscheidungen vervielfacht sich, sodass man ihre Prämissen nicht mehr sinnvoll nachvollziehen kann. Dieses Problem haben die Naturwissenschaften schon lange mit der KI.

„Wir sollen weiter manipuliert werden – nur anders“

Auch in der Berufswelt übernehmen Algorithmen zunehmend die Chefrolle. Bei vielen Fahr- und Lieferdiensten geben sie per App vor, was die Fahrer bis wann zu tun haben. Wer das nicht schafft, fällt im Score und hat dann etwa bei der Dienstplanung Nachteile. Ist das gut, weil objektive Leistungskriterien angewandt werden? Oder geht hier Menschlichkeit verloren?
Hier folgt die technische Gestaltung einem Menschenbild, das ich persönlich nicht gut finde. Es macht den Menschen zum bloßen Objekt von wirtschaftlichen Interessen, das sich undurchschaubaren Mechanismen unterwirft. Ob wir das zulassen oder nicht, wie wir mit dieser technologischen Möglichkeit umgehen, ist eine Frage der gesellschaftlichen Verhandlung.

Was muss da verhandelt werden?
Die Gesetzgebung muss regeln, ob sie solch pseudoselbstständige und scoringbasierte Arbeitsverhältnisse wie bei Uber zulässt. Diese Technologien helfen dabei, Sachen effektiver zu machen – zum Guten und zum Schlechten. Wir müssen unsere Naivität ablegen und erkennen, dass die Digitalisierung unserer Gesellschaft nicht etwas ist, das irgendwann in Zukunft kommen wird. Sondern dass sie uns heute bereits umgibt, auch wenn wir weder Computer noch Smartphone nutzen. Daher ist heute die Digitalpolitik das Feld, in dem wir die Freiheit gewinnen müssen.

Und was kann man selbst konkret tun?
Mehr Bücher lesen – auch gerne online. Das ist das Beste, was man für das selbstbestimmte Denken tun kann.

Zum vollständigen Artikel: https://www.tagesspiegel.de/zeitung/herrschaft-im-digitalen-zeitalter-wir-sollen-weiter-manipuliert-werden-nur-anders/24139488-all.html

„Die wichtigsten Erfolgsfaktoren des schulischen Lernens liegen auf Seiten der Lehrkraft“

Illusionen der Pädagogik

Autorität ist entbehrlich? Wissen ist zweitrangig? Lebensnähe ist alles? Drei Irrtümer. Die wichtigsten Erfolgsfaktoren des schulischen Lernens liegen auf Seiten der Lehrkraft.

F.A.S. – FEUILLETON, 19.05.2019, Jürgen Kaube

Jürgen Kaube ist seit 1. Januar 2015 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015. Autor der Bücher „Die Anfänge von allem“ (2017) über die Entstehung der menschlichen Kultur und „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ (2019) mit einem nachfolgenden Auszug (S. 226 – 234). Siehe auch nebenstehende Bücherliste.

„Ganze Klassen“, schrieben die erstaunten Besucher der Schulen des fernen Landes, „folgen Zeile für Zeile dem, was im Schulbuch geschrieben steht, in einer Geschwindigkeit, die der Lehrer vorgibt. Reihen über Reihen von Kindern tun alle dasselbe auf dieselbe Weise, ob es sich um Kunst, Mathematik oder Geographie handelt. Wir sind von Schule zu Schule gegangen und haben fast identische Schulstunden gesehen, man hätte die Lehrer austauschen können, die Kinder hätten keinen Unterschied gemerkt.“

19. Jahrhundert, die Schule als Maschine, Frontalunterricht. Schon das Wort klingt wie eine Verletzung der Menschenrechte. In diesem Begriff kommt alles zusammen, was am Unterricht streng, unerbittlich, autoritär anmutet. Im Frontalunterricht, so befinden heutige Pädagogen, wird die Lerngruppe als „Plenum“ unterrichtet. Einer oder eine redet vor allen, sie hören zu, sind das Publikum.

Woher aber stammt jenes Zitat? Nicht aus dem 19. Jahrhundert. Sondern aus einem Bericht, den eine britische Forschergruppe 1996 schrieb, nachdem sie sich fünfzig finnische Schulen angeschaut hatte, vier Jahre vor der ersten Pisa-Studie, in der jene Klassen besonders erfolgreich waren. Die Schule also, wie sie vielerorts noch vor kurzem war, erscheint den Anhängern der „konstruktivistischen“ Pädagogik, die vom Kind und nicht vom Lehrer aus unterrichten wollen, wie aus einer fernen finsteren Zeit. Obwohl es 1996 in Finnland eben keine Schule war, in der Lehrer ihren Erwartungen mit Stöcken Nachdruck verschafften, keine Schule, die Arme oder Mädchen benachteiligte, und auch keine, die sinnfremde Unterrichtsstoffe paukte. Sondern nur eine, in der Lehrer als Autoritäten auftraten.

Es gibt dabei keinen Grund, Autorität an das Durchsetzen mechanischen Verhaltens zu binden. Aber es gibt auch keinen Grund, sie zu verachten. Autorität ist nicht die Sache mit dem Stock, mit dem endlosen Monolog, dem Rechthaben, dem Chef-im-Ring-Verhalten. Autorität ist die Sache mit dem „Sie weiß mehr als ich“ und dem „Hier weiß ich mehr“, mit dem „Das kann ich wirklich noch nicht“, dem „Es ist interessant genug, dass ich darüber nachdenke“, dem „Ich höre erst einmal zu, bevor ich losrede“.

Seit der Bildungsforscher John Hattie vor zehn Jahren seine Studie „Visible Learning“ [siehe nebenstehende Bücherliste] über die Erfolgsbedingungen des Unterrichts vorgelegt hat, beginnt sich die Diskussion über die Dogmen des schülerzentrierten Unterrichts zu ändern. Denn die wichtigsten Erfolgsfaktoren des schulischen Lernens liegen ihr zufolge auf Seiten der Lehrkraft. Es geht um die Qualität ihrer Instruktion, ihre Glaubwürdigkeit und Klarheit, das ständige Feedback, das zu geben sei. Es geht um die Befähigung der Schüler, sich auszudrücken und das eigene Niveau einzuschätzen, sowie eine strikte Sequenz aus klar kommunizierten Unterrichtszielen und Erfolgskriterien, modellhaftes Vorführen von Lösungen, Überprüfung, ob alle verstanden haben, und anschließendem Üben. Lautes Denken ist hilfreich, Klassendiskussionen sind es, etwas in eigene Worte zu fassen. Die Autorität der Lehrkraft beruht dabei sowohl auf ihrer Beherrschung des Stoffes und der Deutlichkeit, mit der er dargestellt wird, als auch auf der Fähigkeit, auf typische, aber auch überraschende Fragen zu antworten.

Hinter dem pädagogischen Widerstand gegen all das, gegen direkte Instruktion, gegen den Lehrvortrag und gegen ein immer wieder die Lehrkraft ins Spiel bringendes Unterrichtsgeschehen steckt ein altes Dogma. Es geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück und besagt, man lerne nur durch Erfahrung und Selbstreflexion. Sogar das Lesen wollte er seinem fiktiven Zögling, Émile, sich weitgehend selbst beibringen lassen. Auch das später formulierte Prinzip „Learning by doing“ kann so interpretiert werden: als Polemik gegen das Lernen von Tatsachen, Daten, Regeln und ganz allgemein von „Das ist so“-Mitteilungen. Und als Favorisierung von lebensnahen Unterrichtsstoffen, die interdisziplinär und am besten in Form von Projekten angeeignet werden sollen.

Die Kritik des Frontalunterrichts und überhaupt der zentralen Stellung der Lehrkräfte geht insofern stets mit einer Kritik des Wissens und einem Lob der Lebensnähe einher. Kreativität, so eine andere Formulierung derselben Überzeugung, steckt schon im Kind, man muss sie nur entfalten, entwickeln. Die Schule soll aus dem Kind etwas herausholen, nicht etwas in das Kind hineintun.

Aber so sinnlos die Vorstellung ist, am besten befülle man Schüler mit dem Wissenswerten, weil die Welt aus Fakten bestehe, so sinnlos ist die entgegengesetzte Behauptung, alles in der Welt könne gleichzeitig reflektiert, innerlich angeeignet, selbständig und aktiv handelnd erschlossen werden. Und zwar von Schülern jeder Altersstufe. Denn es gibt Sachverhalte ganz unterschiedlicher Erschließbarkeit. Nicht alles kann man sich innerlich aneignen, nicht alles kann gleichermaßen gut verstanden werden, und die Lernpsychologie sagt seit langem schon, dass man manches besser lernt, indem man es erst einmal hinnimmt.

Der Irrtum, dem eine an Fakten desinteressierte Pädagogik unterliegt, besteht darum nicht so sehr darin, dass Fakten als Wissensbestände, als Informationen wichtig wären. Hier haben die Kritiker das Argument auf ihrer Seite, wie viel vergessen wird, wie viel nachschlagbar ist und wie viele Fakten „konstruiert“ sind, also auf komplexen Voraussetzungen beruhen. Doch um die verwegene Behauptung, es sei unterinformiert und womöglich sogar ungebildet, wer nicht wisse, mit welchem Roman der junge Goethe berühmt wurde, geht es gar nicht. Für manche mag es sogar entbehrlich sein zu wissen, wo genau sich Paris befindet.

Der Zweck des Unterrichtens von Tatsachen ist aber nicht, Erfolge in Quizshows zu ermöglichen oder, was dasselbe ist, kleine Enzyklopädisten hervorzubringen. Er liegt zunächst vielmehr darin, dass verstanden wird: Es gibt Tatsachen, jene schwer umgehbaren, kurzen und kontextfreien Ergebnisse einer geregelten Untersuchung, wie die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston Tatsachen definiert. Es gibt also Umstände, auf die man sich verlassen kann. Und von denen aus es weitergeht.

Wenn beispielsweise Paris die größte Stadt Frankreichs ist, kann man andere Städte in Bezug auf sie lokalisieren, wovon Franzosen ausgiebigen Gebrauch machen. Wenn es eine Hauptstadt gibt, gibt es dann auch Nebenstädte? Woran kann man eine Hauptstadt erkennen? Wie wirkt es sich aus, wenn sich die Hauptstadt in der Mitte oder an der Grenze des Landes befindet, eine große oder kleine Stadt ist, und weshalb liegen so viele Hauptstädte an großen Flüssen? Wenn man „Paris“ auf einer Karte von Texas findet, kommt man ins Nachdenken. Mit anderen Worten: Wer nicht ungefähr weiß, was es mit Paris auf sich hat, dem bleiben auch hundert andere Weltaspekte verschlossen.

Der rhetorische Trick der reformpädagogischen Polemik gegen das Wissen besteht also darin, eine relativ armselige Information herauszuziehen – eine Jahreszahl, Eigenschaften eines Lebewesens, die Inhaltsangabe des „Faust“, die Formel für Kaliumnitrat – und dann zu fragen, was es bringt, das zu wissen. Ist es nicht viel wichtiger, historische Kompetenz, Kartenlesekompetenz, literarische Urteilskraft, chemische Denkfähigkeit und so weiter zu erlangen? Eine Frage, die nur bejaht werden kann. Aber der Trick, auf dem die Unterscheidung von sinnlosen Fakten und sinnhaftem Lernen beruht, ist billig. Denn eine einzelne Information ist immer sinnlos. Hundert Informationen hingegen ergeben ein Bild.

Das Einmaleins ist auch so eine Tatsache. Man kann erklären, was das heißt, „Plutimikation“ (Pippi Langstrumpf). Man kann sie aus der Addition herleiten oder aus anderen wiederholten Handlungen. Aber irgendwann sollte 7 × 7 = 49 unabhängig davon, wie man dazu kam, als Routinewissen im Langzeitgedächtnis abgelegt sein und nicht mehr berechnet werden müssen. Und auch hier gilt: dass 7 × 7 nicht irgendetwas ergibt, sondern 49, ist als vereinzelter Merkposten von geringem Wert, das große Einmaleins hingegen ist von unschätzbarem Nutzen. Man nennt es Technik: etwas nutzen, das man nicht vollständig durchdrungen hat. Die Schule besteht nicht allein darin, Techniken zu vermitteln, aber sie besteht auch darin. Passive Wiedergabe und Anwendung hat den Vorteil, effizient und akkurat zu sein, aktive Konstruktion ist hilfreich, wenn das Gedächtnis Schwierigkeiten hat. Und da Eigenproduktion schiefgehen kann, ist es manchmal vorteilhaft, das Wissen einfach mitzuteilen, anstatt es von den Schülern selbst hervorbringen zu lassen.

Nehmen wir die Literatur. Im Deutschunterricht der sechsten Klasse kann es vorkommen, dass die Schüler angehalten werden, eine Geschichte mit unheimlichen Aspekten zu schreiben. Dafür werden sie im fragenden Unterrichtsgespräch mit Wissen darüber versorgt, was Spannung in eine solche Geschichte bringen kann. Sie lernen eine Art Gattungspoetik des Unheimlichen. Ihr sollen sie folgen, und der Deutschlehrer prüft, ob die einzelnen Elemente – harmloser Anfang, etwas Rätselhaftes, irgendetwas im Dunkeln, plötzliche Erlebnisse, überraschende Wendung, Auflösung – von den Schülern reproduziert wurden.

Die „spannungskompetente“ Lösung dieser Aufgabe ist in Ordnung. Aber die originellsten Geschichten kann erzählen, wer schon viele Geschichten kennt. Lesen kommt vor Schreiben. Denn jede Geschichte, die uns fasziniert, besteht aus Geschichten, die wir bereits kennen, und aus Abweichungen von ihnen. „Sei kreativ!“ ist also nicht die beste Anweisung, um Kreativität zu begünstigen. Vielmehr geht Kreativität aus Übungen hervor, die selbst eher repetitiv und auf etwas konzentriert sind, das dem erwünschten Ergebnis gar nicht ähnlich sieht. Fußballspieler, so ein Beispiel des schwedischen Psychologen Karl Anders Ericsson, trainieren nicht, indem sie das Match proben und elf gegen elf spielen, sie üben in viel kleineren Einheiten Pässe, Dribblings, Balleroberung – Routinen als Grundlage von einfallsreichem Spiel. Auf den ersten Blick mag Routine wie ein Gegensatz zum Denken wirken, weil sie erlaubt, auf es zu verzichten. Aber genauer betrachtet ist Routine kein Gegensatz zum Denken: Gedanken zu haben setzt voraus, dass wir über Routinen verfügen, die uns für das Denken entlasten.

Der Irrtum der entgegengesetzten Ansicht, die Schüler sollten sich möglichst früh alles selbständig erschließen, beruht auf einer Verwechslung von Ziel und Methode: Man wird nicht unabhängig dadurch, dass man weitgehend alleingelassen wird. Man lernt nicht denken dadurch, dass jemand fragt, was man über eine Sache denkt. So wie man nicht schreiben lernen kann, nur, indem man zuhört oder liest. Es bedarf der Instruktion. So hat es beispielsweise keinen Sinn, Kindern schon „kritisches Hinterfragen“ abzuverlangen, bevor sie sich in etwas auskennen. Sie lernen dann nur die kritischen Fragen samt den dazugehörigen Antworten auswendig und schreiben in Erdkundetests der Grundschule brav hin, dass der Kalibergbau die Flüsse belastet.

Das führt zum dritten reformpädagogischen Lehrdogma, das die Kritik des Frontalunterrichts und der Wissensvermittlung ergänzt: das Dogma, der Unterricht habe lebensnah und deshalb interdisziplinär zu sein. Denn die wirkliche Welt kenne ja gar keine nach Fachgrenzen aufgeteilten Probleme. In ihr hänge stattdessen alles mit allem oder jedenfalls vieles mit vielem zusammen, und in solchen Zusammenhängen denken zu lernen, sei es, was die Schule den Schülern mitgeben solle. Die Kinder werden als kleine Experten behandelt, als Forscher oder als Reporter oder als Leute, die eine Präsentation vorbereiten müssen. Referate, in denen Recherchen dargestellt werden sollen, setzen heute bereits in der Grundschule ein. Die Schüler sollen etwas tun, das so ähnlich aussieht und sich so ähnlich anhört wie das, was Wissenschaftler und andere Wissensexperten tun: einen Vortrag halten über das, was sie herausgefunden haben. Der maximale Effekt ist nicht selten, dass die Schüler etwas Passendes aus dem Internet abschreiben und dann vortragen. Denn natürlich sind sie in fast nichts von dem, wozu sie etwas sagen sollen, Experten und können es auch von einer Woche auf die andere nicht werden. Was immer in Kindern ist, das herausgeholt und entfaltet werden kann, Expertise ist es nicht.

Die gegenteilige Annahme beruht auf einer Verwechslung von Neugier und Denken. Die Freude am Denken liegt in der Lösung von Problemen, was bedeutet, dass sowohl das Scheitern an Problemen als auch der Umgang mit bereits gelösten Problemen freudlos bleiben. Der Projektunterricht mit seinen dem wirklichen Leben entnommenen Fragestellungen kombiniert oft beides: ein hochkomplexes, jeden Schüler überforderndes Weltproblem, verbunden mit einer Menge irgendwo abrufbarer Antworten. Neugier wird aber nicht durch den Grad geweckt, in dem ein Problem mit der Welt verbunden ist, sondern durch das Ausmaß, in dem es den Schülern so vorkommt, als könnten sie es lösen. Man kann ihnen nicht einreden, dass sie die Lösungen auf die Fragen finden, wie der Klimawandel aufgehalten werden kann, was es mit Patchwork-Familien auf sich hat oder mit Konflikten zwischen Religionen, oder wie man verhindert, dass Kalibergwerke nahe Flüsse belasten. Sie spüren, dass ihnen das Hintergrundwissen dazu fehlt, und fühlen sich nur auf die Suche nach schon gegebenen Antworten geschickt, die irgendwo im Internet versteckt sind.