Archiv für den Monat: August 2019

Parallelwelt Schulpolitik

Ob Einheitsschule oder Inklusion: Was viele Landesregierungen fördern, kommt in der Bevölkerung schlecht an.

FAZ, 21.08.2019, Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach

In der öffentlichen Diskussion ist die Klage über eine angeblich abgehobene politische Klasse verbreitet. Die Politiker, heißt es dann, lebten in einer Parallelwelt, hätten kaum noch Kontakt zu ihren Wählern, ihre Diskussionen, Forderungen und Pläne gingen an der Lebenswirklichkeit der Bürger vorbei. Oft, wenn nicht meistens, sind solche Vorwürfe ungerechtfertigt. Wie Bevölkerungsumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, ist der Kontakt zwischen den Bürgern und ihren Abgeordneten in den letzten Jahrzehnten nicht etwa schwächer, sondern eher stärker geworden. Politikwissenschaftler konnten mit Langzeitanalysen belegen, dass die Abgeordneten mit ihren Gesetzesvorlagen und Entscheidungen durchaus auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren. Und wenn man die Bürger nach ihren politischen Prioritäten fragt, lesen sich die Antworten nicht selten wie ein Echo der Berichterstattung über die Diskussionen in Berlin.

Doch es gibt auch Themen, bei denen eine Lücke klafft zwischen der über die Medien geführten politischen Diskussion und der Perspektive der Mehrheit in der Bevölkerung, nämlich dort, wo die Berichterstattung durch intensive eigene Alltagserfahrungen ergänzt und gegebenenfalls kontrastiert wird. Das ist beispielsweise bei Teilen der Diskussion um die Verkehrspolitik der Fall, noch deutlicher aber auf dem Gebiet der Schulpolitik.

Wahrscheinlich gibt es kaum ein anderes Thema, das für die meisten Bürger so wichtig ist und bei dem sie so unmittelbar aus eigener Erfahrung schöpfen können. Schließlich ist jeder einmal zur Schule gegangen, und die meisten Menschen werden früher oder später Eltern von Schulkindern und bleiben es viele Jahre lang. Sie können täglich in der Familie beobachten, wie sich in der Öffentlichkeit propagierte Schulsysteme und pädagogische Konzepte auf die Leistungsfähigkeit und das Verhalten der eigenen Kinder auswirken. Unter solchen Bedingungen bleibt der Einfluss der Massenmedien auf die Meinungsbildung geringer als bei anderen gesellschaftspolitischen Fragen.

Das wohl anschaulichste Beispiel hierfür bietet die ablehnende Haltung der Bürger gegenüber Einheitsschulen. Sie ist trotz jahrzehntelanger Bemühungen verschiedener Landesregierungen, solche Schulkonzepte zu fördern und zu propagieren, nicht etwa schwächer, sondern eher entschlossener geworden. Im Jahr 2013 fragte das Institut für Demoskopie Allensbach in einer großen Untersuchung zur Schulpolitik, ob die Bürger eine Gemeinschaftsschule oder ein gegliedertes Schulsystem bevorzugen würden. Nur 34 Prozent sprachen sich damals für die Gemeinschaftsschule aus, 52 Prozent für das gegliederte Schulsystem. Eltern von Kindern an weiterführenden Schulen zogen sogar zu 61 Prozent, Lehrer zu 59 Prozent das gegliederte Schulsystem vor.

In der aktuellen Bevölkerungsumfrage des Allensbacher Instituts im Auftrag dieser Zeitung [FAZ] wurde nun eine sehr ähnliche Frage gestellt. Sie lautete:

„Was finden Sie grundsätzlich besser: Wenn es nach der Grundschule eine Gemeinschaftsschule für alle Schüler gibt, in der die Schüler unabhängig von ihrem Leistungsniveau gemeinsam unterrichtet werden, oder wenn es nach der Grundschule ein mehrgliedriges Schulsystem gibt, zum Beispiel mit Gymnasium einerseits und einer Mischform aus Haupt- und Realschule andererseits?“

65 Prozent der Befragten sprachen sich hier für das mehrgliedrige Schulsystem aus, Befragte mit Kindern im schulpflichtigen Alter sogar zu 73 Prozent.

Dabei gibt es bemerkenswert geringe Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Anders als oft angenommen wird, geht die Ablehnung der Gemeinschaftsschule durch fast alle sozialen Schichten: Alle Altersgruppen, Frauen wie Männer, West- und Ostdeutsche, Menschen mit unterschiedlicher Schulbildung und verschiedenen Einkommen, sie alle sprachen sich mit großen Mehrheiten zugunsten des gegliederten Schulsystems aus.

Auch bei einem anderen schulpolitischen Diskussionsthema, der Inklusion, fallen die Urteile der Bürger eindeutig aus. Um diesem schwierigen Gegenstand im Rahmen einer Umfrage einigermaßen gerecht werden zu können, wurden den Befragten zwei etwas umfangreicher ausformulierte Argumente mit einem Dialogbildblatt schriftlich zur Auswahl vorgelegt. Das Bildblatt zeigte zwei Personen im Schattenriss, denen Sprechblasen mit den Argumenten zugeordnet waren. Das erste lautete:

„Ich bin dafür, dass Kinder mit geistiger Behinderung in regulären Schulen unterrichtet werden. Denn davon profitieren alle Schüler: Schüler mit und ohne geistige Behinderung lernen, tolerant und normal miteinander umzugehen, und beim gemeinsamen Lernen profitieren die behinderten Schüler von den anderen.“

Die Gegenposition lautete:

„Schüler mit geistiger Behinderung benötigen in der Regel eine spezielle Förderung und können nicht einfach zusammen mit anderen Schülern an regulären Schulen unterrichtet werden. Wenn Schüler mit geistiger Behinderung spezielle Förderschulen besuchen, entstehen für alle Schüler bessere Lernerfolge.“

Lediglich 21 Prozent der Befragten schlossen sich dem ersten, 63 Prozent dagegen dem zweiten Argument an, und auch hier urteilten Eltern von schulpflichtigen Kindern nicht anders als die übrige Bevölkerung. […]

Offenbar geht auch manche Detaildiskussion in der Schulpolitik an den Bedürfnissen der Bürger vorbei. So stimmte eine relative Mehrheit von 44 Prozent der Befragten der Aussage zu:

„Heute wird viel zu viel darauf geachtet, die Schulen mit Computern, Whiteboards und sonstiger moderner Technik auszustatten, und zu wenig darauf, was guten Unterricht eigentlich ausmacht.“

29 Prozent widersprechen. Auch hier antworteten die Eltern schulpflichtiger Kinder nicht wesentlich anders als die Befragten insgesamt. Ein Mangel an Laptops ist aus Sicht der Eltern offensichtlich nicht das Hauptproblem der Schulen. […]

Grau unterlegte Einschübe, [Anmerkungen] und Tabellen durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: FAZ, 21.08.2019, Parallelwelt Schulpolitik, Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach

Schulen in China – Totale Überwachung mit Künstlicher Intelligenz

Chinas Weg hin zur Nutzung der digitalen Überwachung in den Schulen

Tagesspiegel, 17.08.2019, Ning Wang

Kameras werden die neuen Lehrer in China. Sie studieren die Gesichtsausdrücke der Schüler während des Unterrichts ganz genau – abschreiben oder gar einschlafen wird hier keiner. Offiziell sollen die Daten, die gesammelt werden, Aufschluss darüber geben, ob und wie sich das Lernverhalten verändert. Was für Deutschland undenkbar wäre [?], ist Teil eines Plans, mithilfe künstlicher Intelligenz Chinas Schüler digital zu optimieren. Das Kamerasystem kann erkennen, ob Schüler interessiert sind, traurig, wütend oder gelangweilt. Es ist wie der Videobeweis beim Fußball: Ein Schiedsrichter bekommt nicht alles mit, auch ein Lehrer nicht – aber dank der Kameras soll er seine Schüler umfassender beurteilen können. Die Kontrolle ist künftig umfassend.

Bald werden „überall Sensoren unseren Alltag prägen und in unseren privatesten Bereich vordringen. Wir sollten uns darüber klar sein, dass sich dann ein wesentliches Prinzip umkehrt: Nicht mehr wir machen die Bilder, sondern wir werden von Bildern erfasst und gedeutet. Wenn dieser Strom aus visuellen Datenanalysen seinen Fokus auf uns richtet, werden es diese Bilder sein, die über uns bestimmen oder uns richten.“ Aus: Yogeshwar, Ranga, (2017): Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel, Kiepenheuer & Witsch, Köln, S. 284.

In China ist die digitale Rundumüberwachung und Verhaltenskontrolle der Bürger schon länger Alltag. Schon 2017 verkündete der Staatsrat einen „Entwicklungsplan für Künstliche Intelligenz der neuen Generation“, bis 2030 sollen demnach umgerechnet 150 Milliarden US-Dollar investiert werden. Viele Chinesen sind durchaus bereit, Überwachungskameras, Gesichtserkennung oder gar Zensur- und Spionage-Apps hinzunehmen, wenn das zu mehr Sicherheit führt. Im Mai wurde nun Guangzhou als Pilotregion für die Ausbildung im Fach Künstliche Intelligenz an den Schulen auserkoren. Es soll ab September an den Mittel- und Oberschulen gelehrt werden. Parallel dazu wird das Kamerasystem erprobt.

Die menschlichen Lehrer erfahren, was ihre Schüler lesen, was sie in der Kantine essen, wie aufmerksam oder müde sie sind und wie sie sich am Unterricht beteiligen. So hat etwa die Oberschule Nr. 11 in Hangzhou ein „intelligentes Verhaltensmanagementsystem für Klassenräume“ installiert, das die Ausdrücke und Bewegungen der Schüler erfasst und große Datenmengen analysiert. Das System identifiziert die Schüler auch in der Mensa per Gesichtsscan und regelt die Abbuchung des Geldes für das Essen.

Neben der Aufzeichnung schulischer Leistungen liefert die Datenerfassung so noch eine Analyse des Ernährungsverhaltens der Jungen und Mädchen. Eltern bekommen einen Überblick darüber, ob ihre Kinder nur noch Kohlenhydrate essen und Gemüse und Fisch oder Fleisch links liegen lassen, und vor allem, wie häufig sie zu Snacks und zuckerhaltigen Getränken greifen. Das sind Daten, die für die Hersteller von Fertignahrung oder Getränken von Interesse sein können.

Die Bundesregierung will „grundsätzlich auf einseitige, nationale Regulierungen verzichten, um die europaweite Umsetzung von digitalen Geschäftsmodellen zu erleichtern. Wir streben an, die Freizügigkeit von Daten als fünfte Dimension der Freizügigkeit zu verankern.Koalitionsvertrag, CDU, CSU und SPD, 12.03.2018, Zeile 2177

„Es wird alles digitalisiert werden, was digitaisiert werden kann. Wir bauchen ein positives Verhältnis zu Daten“. Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Wirtschaftstag des Wirtschaftsrates der CDU, 2015.

Zhang Guanchao, der stellvertretende Rektor der Oberschule, sieht sich in einer der Vorreiterrolle und ist stolz darauf, dass seine Schule zu den ersten gehört, die nicht nur Gesichtserkennung in den Schulklassen, in der Mensa und an den Getränkeautomaten einsetzen, sondern auf dem gesamten Schulgelände. Selbst in der Schulbibliothek werden die Bücher schon seit 2017 per Gesichtsscan ausgeliehen. Vonseiten der Eltern gab es jedoch durchaus Kritik, in den sozialen Netzwerken machte sich Unmut breit. Sie sahen ihre Kinder als Versuchskaninchen. „Technologien sollten uns dienen, nicht uns überwachen“, schrieb ein Nutzer. Zwischenzeitlich ist das System an der Musterschule in Hangzhou ausgesetzt worden.

Chinas Schulsystem setzt bis heute größtenteils auf Frontalunterricht und Auswendiglernen von Fakten, die bei der Abschlussprüfung, Gaokao genannt, abgefragt werden. Die Punktzahl entscheidet darüber, ob man an einer der führenden Elite-Unis oder den eher unbekannten Hochschulen studieren darf.

Digitales Lernen löst Frontalunterricht ab“ heißt es in der Smart City PR-Broschüre der Stadtwerke Arnsberg, NRW. Mehr entpersönlichter, isolierender Frontalunterricht geht nicht! Die Phraseologie, mit der die Digitalisierung propagiert wird, ist immer wieder erstaunlich. Mit Testergebnissen und Meinungsumfragen wird vermittelt, dass das bestehende Schulsystem verstaubt und marode noch in der Kreidezeit vegetiert, und deshalb nach den Geschäftsmodellen der IT-Branche reformiert werden müsse. Peter Hensinger u.a., Smart City- und 5G-Hype, pad-Verlag, 2019, S. 33

Aber die Curricula sind nun in Bewegung geraten – es scheint, als könne die KI-Nutzung im Unterricht und zur Kontrolle der Schüler nicht schnell genug gehen. […] Chinas Weg hin zur Nutzung der digitalen Überwachung in den Schulen scheint festzustehen.

Prof. Lankau stellt bei einem Vortrag vor Elternverbänden in NRW der derzeitigen Digitaleuphorie eine realistische und kritische Sichtweise gegenüber. Versprochen werde wachsende Freiheit und Erleichterung, ernten würden wir aber vor allem totale Überwachung und Steuerung. Im Bildungsbereich sei das besonders brisant: Lernende degenerierten zum umfassenden Datensatz, ihr Lernverhalten werde bis ins Kleinste erfasst und abgespeichert, Bildungsgüter automatentauglich zerhackt. Hingegen könne sich humane Bildung nur als offenes, beziehungsgestütztes Lernen vollziehen. Die empirische Unterrichtsforschung – nicht zuletzt die derzeit weltgrößte Metastudie von John Hattie – zeige denn auch keinerlei Verbesserung der Lernqualität durch Technologie. Es sei zu befürchten, dass der aktuell vieldiskutierte Digitalpakt versteckte Absichten verfolge:  nicht nur Lehrer durch Software zu ersetzen, Prüfungen zu automatisieren, Bildungsinhalte durch Konzerne statt durch Bürgervertreter zu steuern; auch unmerklich jede Regung unserer Kinder und Jugendlichen zu erfassen, abzuspeichern und profitmaximierend zu nutzen. Für die IT-Industrie winke jetzt ein riesiges Geschäft – und für viele andere Machtakteure demnächst die optimierte Steuerung. Unkontrollierte Digitalisierung sei die aktuelle Form der Gegenaufklärung. Siehe auch nebenstehende Bücherliste: Ralf Lankau, Kein Mensch lernt digital.

Grau unterlegte Einschübe, [Anmerkungen] und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Zum Artikel: Tagesspiegel, 18.08.2019, Ning Wang, Totale Überwachung in Chinas Schulen – Wenn Kameras jede Gesichtsregung auswerten

In Berlin werden jedes Jahr hunderte Erstklässler ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult

Diskussion um Vorschulpflicht – Fast 1200 Kinder besuchen vor Schulbeginn keine Kita

Tagesspiegel, 08.08.2019, Susanne Vieth-Entus

Jetzt werden alte Wunden aufgerissen: Die neu entbrannte Diskussion um eine Vorschulpflicht zur frühen Sprachförderung führt Berlin an einen Punkt zurück, an dem das Land schon mal war – bevor hier 2006 die Vorklassen abgeschafft wurden. Dieser Einrichtung trauern viele Schulkenner bis heute nach. Denn der versprochene Ersatz wurde nicht so geschaffen, wie er seinerzeit versprochen worden war.[…]

Berlin hatte sich aber 2006 von seinen Vorklassen getrennt, weil im Rahmen der Grundschulreform unter Klaus Böger (SPD) das zweigleisige System – Vorschulgruppen in Kitas, Vorklassen in Schulen – nicht mehr gewollt war. Argumentiert wurde im übrigen damit, dass – quasi ersatzweise – die Schulpflicht von sechs auf fünfeinhalb Jahre herabgesetzt wurde. Damit schienen die Vorklassen überflüssig, zumal die Zurückstellungen von der Schulpflicht abgeschafft wurden.

Die Reform von 2006 wurde zum Teil wieder einkassiert: Zurückstellungen sind wieder möglich. Zudem wurde die Schulpflicht wieder etwas nach hinten verschoben. Mit anderen Worten: Die Kinder sind länger in der Kita – wenn sie denn hingehen. Dies aber ist nicht flächendeckend der Fall: Wer einen Kitavertrag hat, hat keine Anwesenheitspflicht.

Die Deutschlernpflicht wird nicht umgesetzt

Noch größer ist aber das Problem, dass knapp 1200 Kinder, die 2020 schulpflichtig werden, überhaupt keine Kita besuchen: Bei der letzten Testung eineinhalb Jahre vor der Einschulung kam heraus, dass fast 900 von ihnen so schlecht Deutsch sprachen, dass sie per Gesetz zu einer 18-monatigen Deutschförderung verpflichtet wären. Am Mittwoch [07.08.2019] aber teilte die Bildungsverwaltung auf Anfrage mit, dass 690 von ihnen im Mai 2019, also gut ein Jahr vor Schulpflichtbeginn, noch immer keine Kita besuchten.

Damit stehen die Grundschulen im kommenden Jahr wieder vor dem Dilemma, dass Hunderte Erstklässler keine Deutschförderung haben werden und an keine Bildungseinrichtung herangeführt wurden. Inwieweit inzwischen initiierte „Sprachfördergruppen“ die Lücken füllen können, ist unklar.

Die Einrichtung von Sprachfördergruppen hängt mit der Bilanz von 2018 zusammen: Damals war durch eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrinck bekannt geworden, dass nur ein Bruchteil der Kinder mit nachgewiesenem Sprachförderbedarf eine Kita besuchten. Tagesspiegel-Anfragen ergaben dann, dass die Bezirke auch deshalb auf die eigentlich fälligen Bußgelder gegen die Eltern verzichtet hatten, weil es keine Kitaplätze gab, die man diesen Kindern hätte anbieten können.

Die Einschulungsuntersuchungen Berliner Kinder aus dem Jahr 2017 ergaben, dass 6,9 Prozent aller Kinder kaum oder kein Deutsch können. 10,5 Prozent sprechen fehlerhaft, 82,6 Prozent gut oder sehr gut. Bei den Erstklässlern nicht-deutscher Herkunft können 14 Prozent kaum Deutsch. Klar ist: Ein Besuch der Kita hilft, und zwar massiv. Die Deutschkenntnisse von Kindern nicht-deutscher Herkunft unterschieden sich den Einschulungsuntersuchungen zufolge je nach Länge des Kita-Besuchs erheblich. Von denjenigen, die mindestens zwei Jahre in einer Kita waren, konnten nur 4,5 Prozent kaum oder gar nicht Deutsch – bei denen ohne Kita-Besuch waren es 74,3 Prozent. TSP, 06.08.2019

Langenbrinck: Scheitern ohne Sprachvermittlung

„Ein Staat, der auf die Durchsetzung seiner Regeln verzichtet, verspielt den Respekt und die Glaubwürdigkeit“, geißelte Langenbrinck damals den Befund. Und er warnte: „Eine Gesellschaft scheitert, die es nicht schafft, Sprachvermittlung durchzusetzen“. Seither hat sich kaum etwas getan, wie man den aktuellen Zahlen entnehmen kann.

Dass es auch ganz anders gehen kann, zeigt das Beispiel Hamburg. Die Hansestadt hatte bereits 2006 durchgesetzt, dass alle Kinder mit viereinhalb Jahren durch speziell ausgebildete Sprachlernberater getestet werden. Auf dieser Basis kann für das letzte vorschulische Jahr eine verpflichtende Sprachförderung ausgesprochen werden.

In den letzten Jahren galt das für 13 bis 15 Prozent eines Jahrgangs, wie Peter Albrecht, der Sprecher der Hamburger Schulbehörde, auf Anfrage mitteilte. Diese Sprachförderung findet dann in den Vorschulklassen an den Grundschulen statt oder – in deutlich geringerem Maße – an den Kitas.

In Hamburg sind die Vorklassen beliebt

„Aktuell nehmen 60 Prozent eines Jahrgangs am vorschulischen Jahr in der Grundschule teil, davon 15 Prozent verpflichtend aufgrund der Sprachförderung, 85 Prozent freiwillig“, berichtet Albrecht. Anders gesagt: Die Kinder werden in Hamburg nicht nur getestet, sondern die Hamburger Schulbehörde stellt auch sicher, dass die Kinder tatsächlich in der Förderung landen.

Da es die Vorklassen in Hamburg seit 50 Jahren gibt und sie in der Bevölkerung einen guten Ruf haben, drängen auch Familien hinein, deren Kinder nicht zum Besuch verpflichtet sind: „Wir haben eine Flut von Anmeldungen, obwohl wir keine Werbung machen“, berichtet Albrecht.

Iris Brennberger, Sprecherin der Berliner Jugendverwaltung, betonte am Mittwoch, dass es in den Berliner Kitas „eine große Expertise“ für die Sprachförderung und das Sprachlerntagebuch gebe. Allerdings belegen die Sprachtests in Berlin stets, dass tausende Kinder trotz Kitabesuchs schlecht Deutsch sprechen.

Ein Brief plus Merkblatt der Berliner Bildungsbehörde an die Eltern von Vorschulkindern soll  darüber informieren, wie wichtig es ist, Deutsch zu lernen. Beide Papiere enthielten sprachliche und grammatikalische Fehler sowie Auslassungen.
Es ist zu lesen:
„Ihr Kind hat in der Kindertageseinrichtung sein Sprachlerntagebuch erhalten, mit dem vor allem die Beobachtung seiner sprachlichen Entwicklung dokumentiert und mit Ihnen regelmäßig über die Fortschritte Ihres Kindes gesprochen (!) wird. Wenn Sie es wünschen, erhalten (!) selbstverständlich eine Kopie. Mit dem Erhebungsbogen der ,Quasta‘ auf der Grundlage des Sprachlerntagebuches wird im Sinne des Gesetzes zu dem vorgegebenen Zeitpunkt der Sprachstand für Kinder (von Kindern !) ab einem Alter von vier Jahren festgestellt. Es ist zu (!) dringend zu empfehlen, die weitere Förderung zu sichern.“
Die Bildungsverwaltung scheint wenig Interesse daran zu haben, ob die Eltern verstehen können, was ihnen mitgeteilt wird. Das Schreiben sei „unseres Erachtens durchaus verständlich, sowohl im Inhalt als auch in der Gliederung“ teilte die Sprecherin von Bildungssenatorin Sandra Scheeres, Beate Stoffers, mit.
Glosse von Harald Martenstein im Tagesspiegel vom 03.05.2015.

Fachleute begründen das damit, dass diese Kinder nicht regelmäßig genug in die Kita kämen oder dass die Erzieherinnen vor Ort nicht genug Zeit oder Expertise hätten. In Hamburg hingegen haben Kitas nur dann das Recht, Vorschulgruppen einzurichten, wenn es diese Expertise gibt. Auch dies teilte Hamburgs Behördensprecher Albrecht mit. […]

Die Ergänzungsausbildung für Erzieherinnen zur Vorklassenleiterin an der Pädagogischen Hochschule Berlin in den 70er Jahren beinhaltete: Psychologische Probleme der Eingangsstufe und des Elementarbereichs (Enwicklung, Lernen, Denken), Allgemeine Didaktik, Hören und Sprechen in der Vorklasse, Lese-Schreiblehrgang in der Eingangsstufe, Mathematik in der Eingangsstufe, Sachunterricht in der Eingangsstufe. Die Absolventinnen wurden eingesetzt in Kitas und Grundschulen. Ausbildung wie Vorschulgruppen wurden in Berlin abgeschafft – sie waren politisch nicht mehr gewollt.

Grau unterlegte Einschübe und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: Disskussion um Vorschulpflicht

Die Bildungspolitik in der Hauptstadt gefährdet den sozialen Frieden

Berlin hat eine Bildungs-Leerstelle

Die rot-rot-grüne Bildungspolitik ist eine Aneinanderreihung politischen Versagens. Es wird Zeit für einen personellen Neuanfang.

Tagesspiegel, 06.08.2019, Kommentar von Sabine Beikler

Bildungspolitik in Berlin muss man sich so vorstellen: Man dreht an einer Stellschraube im System und wundert sich dann, dass das Gesamtgefüge ins Wanken gerät. Reformen und Reförmchen [siehe Kasten] aus 23 Jahren sozialdemokratisch geprägter Bildungspolitik in der Hauptstadt [siehe Kasten] gefährden allmählich den sozialen Frieden [siehe auch TSP vom 25.06.2018.]

„Schulreformen“: Jahrgangsübergreifendes Lernen (JüL), Schreiben nach Gehör, Inklusion/Abschaffung der Förderschulen, Einschulung mit 5, Grundschulreform, Abschaffung der Vorschulgruppen in Kitas/Vorklassen in Schulen, Hortbetreuung an die Grundschule angegliedert, Offener Unterricht/Selbstorganisiertes Lernen, Kompetenzorientierung der Lehrpläne, Einführung der Schulinspektion, Schulstrukturreform (vom mehrgliedrigen zum zweigliedrigen Schulsystem), Minimierung von Leistungsanforderungen, Abschaffung der Versetzung, Ganztagsunterricht, Zusammenfassung von Fächern (Geschichte, Politische Bildung, Geographie), Reduzierung der Unterrichtszeit der Leistungskurse in der Oberstufe (von 6 U-Std. auf 5 U-Std.), Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium (G9 auf G8), Verkürzung des Referendariats, Quer- und Seiteneinsteiger als Lehrkräfte, usw.

Verantwortliche Bildungspolitiker: Ingrid Stahmer, SPD: 25. Januar 1996 bis 9. Dezember 1999, Senatorin für Schule, Jugend und Sport;  Klaus Böger, SPD: 9. Dezember 1999 bis 23. November 2006, Senator für Schule, Jugend und Sport, ab 17. Januar 2002: Bildung, Jugend und Sport; Jürgen Zöllner, SPD: 23. November 2006 bis 30. November 2011, Senator für  Bildung, Wissenschaft und Forschung; Sandra Scheeres, SPD: 30. November 2011, noch im Amt, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie

Zwei Drittel der Neueinstellungen sind Quer- und Seiteneinsteiger statt ausgebildeter Lehrkräfte. Immer wieder schneiden die Drittklässler bei Vergleichsarbeiten [VERA ] in Mathematik und Deutsch besonders schlecht ab. Bundesweit richtig Spitze ist Berlin nur bei der Schulabbrecherquote mit 11,7 Prozent [siehe Kasten].

In Berlin verlassen deutschlandweit die meisten Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss. Das hat eine am 29.07.2019 veröffentlichte Studie der Caritas ergeben. Laut dieser hatten 2017 11,7 Prozent der Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss. 2015 waren es noch 9,3 Prozent [siehe nachfolgender Kasten]. Der Bundesdurchschnitt lag im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent. Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit waren laut Caritas über 52.000 Jugendliche betroffen – 5000 mehr als noch zwei Jahre zuvor.

Das hehre Ziel des Dresdner Bildungsgipfels aus dem Jahr 2008, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss bis zum Jahr 2015 auf vier Prozent zu senken, ist in fast allen Ländern verfehlt worden. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die Schulabbrecherquoten sind in die Höhe geschnellt. Im Schulabbruch zeigt sich ein Systemversagen, für das es bisher keine Lösung gibt. […] Derzeit legt jedes Land andere Kriterien zugrunde, um sich die eigenen Zahlen schönzurechnen. In den Kultusministerien will man nämlich nicht so genau wissen, wie viele Schulabbrecher es tatsächlich gibt, weil sich schulpolitisches Scheitern nirgendwo deutlicher zeigt. FAZ, 25.08.2019, Heike Schmoll, Im Schulabbruch liegt Systemversagen

Dabei muss man wissen:

Der Senat hat die Hürden für Schulabschlüsse gesenkt [TSP, 08.05.2014]. Sowohl die Berufsbildungsreife – der frühere Hauptschulabschluss – als auch der Mittlere Schulabschluss (MSA) sind ab dem Schuljahr [2014/15] leichter zu erreichen als es bisher an den Gesamtschulen möglich war. Zudem kann man mit schlechteren Noten in die gymnasiale Oberstufe aufsteigen. Dies soll nach Einschätzung von Schulleitern die mit Spannung erwartete Bilanz des ersten Sekundarschuljahrgangs verbessern. Die Neuerungen betreffen vor allem die Mindestanforderungen für die Jahrgangsnoten, die zusammen mit den Prüfungen den Mittleren Schulabschluss ausmachen. Als Durchschnittsnote auf dem Zeugnis reicht für den MSA jetzt eine „Vier“. An den früheren Gesamtschulen wurden befriedigende Leistungen verlangt. Zudem ist eine „Sechs“ erlaubt, was früher an den Hauptschulen ausgeschlossen war, wenn man den MSA anstrebte. Zusätzlich werden den Schülern etliche Nachprüfungen angeboten, damit sie die Berufsbildungsreife schaffen. „Das Ziel ist: Jeder kommt durch“.

Und dass kostenlose Hort-, Kita- und Essensangebote kein Mehr an Bildung bringen, dürfte jedem Sozialdemokraten, Grünen und Linken in der Koalition klar sein. Die nächste Hiobsbotschaft, dass im Jahr 2021 rund 26.000 Schulplätze fehlen, komplettiert die Liste politischen Versagens.

In Berlin fehlen demnächst 26.000 Schulplätze. Irgendwie scheint die Geburtenrate, wie sie vor einigen Jahren war, von der Schulsenatorin nicht bemerkt worden zu sein. Auch der Zuzug, wie er sich ebenfalls Jahr für Jahr ermitteln und für die Zukunft grob hochrechnen lässt, scheint der Regierung unbekannt gewesen zu sein. Allerdings muss man, um den Bedarf zu ermitteln, jede Menge addieren, womöglich sogar Prozentrechnung anwenden. […] Man muss gerecht sein. Seit Jahren werden die Anforderungen an die Berliner Schüler gesenkt und gesenkt. Da wäre es wirklich eine Riesenungerechtigkeit, wenn nicht auch irgendwann die Anforderungen an die Berliner Schulsenatorinnen gesenkt würden. Tagesspiegel, 10.08.2019, eine Glosse von Harald Martenstein

Die Verantwortung wird beim Schwarzer-Peter-Spiel von der Bildungsverwaltung auf andere Verwaltungen und die Bezirke geschoben. Kann die Koalition tatsächlich tatenlos zusehen, wenn die Elternvertretung jetzt droht, die Zusammenarbeit mit Bildungssenatorin Scheeres einzustellen? Die Bildungspolitik braucht dringend eine inhaltliche und personelle Zäsur. Das kann auch ein Rücktritt sein.

Dazu Scheeres in der Bildungsdebatte am 15.08.2019 im Abgeordnetenhaus: „Die Eltern müssen sich keine Sorgen machen“.

Eigentlich müssten die Eltern geschlossen auf die Barrikaden gehen.

Grau unterlegte Einschübe und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Vera 3: Berliner Drittklässler können viel zu wenig

Vergleichsarbeiten in Mathe und Deutsch

Die Ergebnisse sind seit Jahren miserabel: Mehr als die Hälfte der Schüler kann nicht ausreichend lesen und rechnen.

Tagesspiegel, 20.07.2019, Laura Hofmann

Mit Deutsch und Mathe haben Berlins Schüler weiterhin große Probleme. Wie in den vergangenen Jahren bleiben mehr als die Hälfte der Drittklässler hinter den durchschnittlichen Erwartungen des Bildungsstandards zurück.

In Deutsch wurden die Kompetenzbereiche Lesen und Zuhören abgefragt, in Mathematik die Kompetenzbereiche Raum und Form sowie Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit.

Die Ergebnisse: Beim Lesen bleiben 29 Prozent der Kinder hinter den Mindestanforderungen zurück (Kompetenzstufe 1), 23 Prozent erfüllen zwar die Mindestanforderungen, aber nicht die durchschnittlichen Erwartungen (Kompetenzstufe 2). 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler übertreffen die Erwartungen bei Weitem. In Berlin gelten die Kinder in Kompetenzstufe 1 als Schüler mit besonderem Förderbedarf. [Diesen Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kenntnisse, um den erfolgreichen Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule zu bewältigen. (aus: VERA 3 2016 – Landesbericht Berlin, S.2]

Beim Zuhören, also Sprachverständnis, schneiden 27 Prozent der Getesteten besonders schlecht ab (Kompetenzstufe 1), 25 Prozent erfüllen lediglich die Mindestanforderungen. Immerhin knapp ein Drittel der Schüler (32 Prozent) erreicht überdurchschnittliche Ergebnisse (Kompetenzstufe 4 und 5).

Die Ergebnisse in Mathematik: Im Kompetenzbereich Raum und Form erreichen ganze 30 Prozent der Kinder nur die Kompetenzstufe 1, haben also Förderbedarf. 25 Prozent werden in Kompetenzstufe 2 erfasst. 22 Prozent der Drittklässler lieferten überdurchschnittliche Leistungen ab oder übertrafen die Erwartungen sogar bei Weitem (Kompetenzstufe 4 und 5).

Ganze 57 Prozent der Schüler haben große Probleme im Bereich Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit (Kompetenzstufe 1 und 2). Besonders gut schneidet hier ein Viertel der Drittklässler ab (Kompetenzstufe 4 und 5). Die Vergleichsprüfungen der Drittklässler in Berlin weisen seit mehreren Jahren schon große Defizite auf. Bei den jetzigen Prüfungen vom Mai wurde die Rechtschreibung nicht getestet. Die Anfang 2018 veröffentlichten Ergebnisse der Rechtschreibprüfung von 2017 zeigten, dass knapp die Hälfte der Schüler die Mindestanforderungen nicht erfüllte.[…]

Die Vergleichsarbeiten in der Jahrgangsstufe 3 sind Teil der von der Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedeten Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring. Ausgehend von den für das Ende der Jahrgangsstufe 4 definierten Bildungsstandards für den Primarbereich überprüft VERA 3 die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der dritten Jahrgangsstufe in den Fächern Mathematik und Deutsch. Die zentrale Funktion von VERA 3 liegt in der Unterrichts-und Schulentwicklung von Einzelschulen. VERA 3 ist ein diagnostisches Instrument, das insbesondere den Lehrkräften frühzeitig eine objektive Rückmeldung zu den Kompetenzständen ihrer Schülerinnen und Schülergibt, auf deren Grundlage sie ihren Unterricht weiterentwickeln können. Aus: https://www.isq-bb.de/wordpress/wp-content/uploads/2019/01/VERA-3_-2019_allgemeine-Hinweise.pdf

Grau unterlegte Einschübe, Tabelle sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.


Im Tagesspiegel schrieb bereits am 11.09.2016, Harald Martenstein eine Glosse zu diesem Thema. Heute so aktuell wie vor drei Jahren:

(…) „Es gibt seit Jahren einen bundesweiten Schultest namens „Vera“. Berlin schneidet meist desaströs ab. Zuletzt wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Berliner Drittklässler im Grunde weder lesen noch schreiben kann. Einige wissen immerhin, dass es so etwas wie „Schrift“ gibt. Vor ein paar Tagen kam dank „Tagesspiegel“ heraus, dass die Schulverwaltung die neuen Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen wollte, vermutlich, um in der Bevölkerung keine Ängste zu schüren. Das kam nicht gut an, sie mussten den Geheimhaltungsplan aufgeben. Es reicht, wenn die Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt werden.
Wenn es dir nicht mal mehr gelingt, etwas zu vertuschen, hast du als Regierender wirklich ein Problem. (…)“