Die Schulergebnisse waren einfach zu schön, um wahr zu sein

Diplome für alle

Nur ein amerikanischer Präsident hat je seine Kinder auf eine staatliche Schule in Washington geschickt – denn die zählen zu den schlechtesten des Landes. Eine Schulreform sollte mehr Schüler zum Abschluss führen und machte so alles noch schlimmer.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), 26.08.2018, Markus Günther

Dr. Markus Günther, geboren 1965 in Bottrop, machte am Heinrich-Heine Gymnasium 1986 sein Abitur, studierte Geschichte und Politikwissenschaften, bevor er für verschiedene Zeitungen tätig war. Er ist Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und lebt in Washington, D.C.

Für seinen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Text „Nur noch Analphabeten“ erhielt er 2015 den Dietrich Oppenberg-Medienpreis der Stiftung Lesen. 2018 zeichnete ihn Bundesfamilienministerin Franziska Giffey für seinen Essay „Du musst kämpfen“ mit dem mit 10.000 € dotierten Preis der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus.

Märchenhaft, anders kann man es nicht nennen. Vor zehn Jahren begann die Reform der völlig desolaten Schulen in Washington. Sie verlief so erfolgreich, dass man mitunter seinen Augen nicht traute, wenn wieder neue Fortschritte vermeldet wurden. Die Noten wurden immer besser, die Schüler immer schlauer, die Lehrer immer beliebter. Die Disziplin an den Schulen stieg, die Zahl der Abschlüsse auch, die Zahl der Problemfälle und Schulverweise sank. Der damalige amerikanische Präsident Barack Obama hielt vor nationalem Publikum eine Lobrede auf das Washingtoner Erfolgsmodell, das ein Vorbild für alle Schulen in den Vereinigten Staaten sein müsse. Das Magazin „Time“ setzte die strahlende Schuldezernentin Michelle Rhee mit einem eisernen Besen in der Hand aufs Cover und feierte sie als siegreiche Heldin im Kampf gegen die verkrustete Bürokratie. Mehr Ehre geht gar nicht.

Manche Ergebnisse waren einfach zu schön, um wahr zu sein – etwa an der Ballou High School in Washingtons Schwarzen-Getto. Die Schule war vormals von Problemen aller Art gebeutelt. Dass sie 2017 dann alle 164 Schüler der Abschlussklasse zum erfolgreichen High-School-Diplom führen konnte, überstieg die kühnsten Erwartungen in der Stadt. Schließlich hatte in Washington vor zehn Jahren nur die Hälfte aller Achtzehnjährigen die Schule mit einem Abschluss verlassen.

Wie war dieser märchenhafte Erfolg nur möglich? Um das besser zu verstehen, studierte Kate McGec, Reporterin des Hörfunksenders NPR, die Akten der Schule. Zwischen Mai und November 2017 interviewte sie Schüler und Lehrer, besuchte Eltern und Ehemalige. Doch fand sie nicht das Erhoffte – weder die pfiffigen Lehrer noch die innovativen Methoden, keine wirkungsvolle Reformpädagogik und keinen durchschlagenden Förderunterricht. Alles, was sie fand, waren Lug und Trug: Die Ballou High School hatte die Diplome praktisch an alle Schüler verschenkt, unabhängig davon, welche Leistungen sie erbracht hatten oder ob sie überhaupt am Unterricht teilgenommen hatten. Jeder zweite Absolvent hatte mehr als drei Monate des Schuljahres unentschuldigt gefehlt, jeder Fünfte hatte sogar mehr als die Hälfte des Jahres geschwänzt, viele andere waren in den entscheidenden Tests durchgefallen. Sogar Schüler, die sich praktisch nie hatten blicken lassen, bekamen zum Abschied von ihrer Schule ein Diplom aber auch solche, die wegen Gewalt- und Drogendelikten aufgefallen waren. Spätere Nachforschungen zeigten, dass mehrere Schüler des Abschlussjahrgangs nach gängigen Maßstäben kaum lesen und schreiben konnten – was darauf hindeutet, dass sie schon in früheren Jahren kaum am Unterricht teilgenommen hatten.

Den Meldungen über die skandalösen Zustände an Ballou High folgte die öffentliche Empörung und dann die nüchterne Erkenntnis, dass Ballou keine Ausnahme, sondern der Normalfall in Washington war. Es stellte sich heraus, dass die anderen Highschools es genauso gemacht hatten. Sie waren nur nicht so doof, die Absolventenquote auf hundert Prozent hochzuschrauben. Sondern ließen wenigstens ein paar Schüler durchfallen, um den Schein zu wahren.

Als vor kurzem das neue Schuljahr zu Ende ging und diesmal unter den Blicken einer misstrauisch gewordenen Öffentlichkeit alles mit rechten Dingen zugehen musste, kam die traurige Wahrheit ans Licht: Nur 58 Prozent aller Schüler in Washington haben den Abschluss in diesem Jahr tatsächlich geschafft und damit die Eintrittskarte zum College erworben. Damit ist man nach zehn Jahren Schulreform und politischer Selbstbeweihräucherung wieder etwa dort, wo man damals angefangen hat: Washingtons Schulen ebnen nur der Hälfte aller Schüler den Weg zu Berufsausbildung oder College und entlassen die andere Hälfte in die weitere Verwahrlosung, Verdummung und Verarmung. Über Jahrzehnte standen ausgerechnet die Schulen der amerikanischen Hauptstadt am untersten Ende der nationalen Statistik, dann stiegen sie bis fast an die Spitze auf. Jetzt sind sie wieder ganz unten angekommen.

Natürlich hat Washington nicht nur die schlechtesten Schulen Amerikas, sondern auch die besten. Doch dabei handelt es sich um Privatschulen, die im Grundschulalter etwa 10.000 bis 20.000 Dollar pro Kind und Schuljahr kosten, in der Highschool sogar 25.000 bis 40.000. Ganz so unsozial, wie es klingt, ist das nicht: Praktisch alle Privatschulen bieten für begabte Schüler aus weniger wohlhabenden Familien großzügige Stipendien an, in manchen Fällen werden über 40 Prozent aller Schüler finanziell gefördert. Doch unterm Strich ist das nur eine Chance für wenige Begabte, deren Eltern sich für die Ausbildung ihrer Kinder kräftig ins Zeug legen. Für die meisten anderen bleiben nur die staatlichen (gebührenfreien) Schulen und mit ihnen die Reise in die soziale und berufliche Sackgasse. Wer in Washington lebt und es sich irgendwie leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen oder zieht in einen der Vororte in Maryland oder Virginia, wo die öffentlichen Schulen deutlich besser sind. Amerikanische Präsidenten sind in diesem Zusammenhang zwar kein Maßstab. Es ist aber vielsagend, dass in den letzten hundert Jahren mit Jimmy Carter nur ein einziger Präsident das Experiment wagte, seine Kinder auf eine staatliche Schule in Washington zu schicken. Dagegen entschieden so unterschiedliche Präsidenten wie Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump die Schulfrage für ihre eigenen Kinder ganz ähnlich und wählten die besten (und teuersten) Privatschulen.

Man kann es ihnen nicht verdenken. In Washington muss man beim Besuch einer staatlichen Highschool vieles in Kauf nehmen: flughafenähnliche Sicherheitskontrollen für alle Schüler und Lehrer etwa, deren Rucksäcke am Eingang auf Waffen und Drogen kontrolliert werden. Streifenwagen, die am Ende des Schultages vor dem Gebäude patrouillieren. Oder die heruntergekommenen Klassenzimmer. Die verschiedenen Untersuchungskommissionen, die nach dem Skandal an Ballou High eingesetzt wurden, förderten haarsträubende Details zutage:

– Mehr als ein Viertel aller Lehrer in Washington hat keine Zulassung und hätte nie als Lehrer eingestellt werden dürfen;
– die Plätze an den begehrten staatlichen Förderschulen wurden vorzugsweise an Politikerkinder vergeben;
– der Rückgang der Disziplinarmaßnahmen ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Lehrer die Schulverweise nicht länger dokumentierten, um so die Statistik zu schönen. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Details, die jeder Beschreibung spotten.

Der neue Schuldezernent Antwan Wilson musste nach kurzer Zeit wieder zurücktreten, weil er sein Kind durch Beziehungen auf eine bessere Schule in einem anderen Stadtteil bugsierte und dabei 600 Plätze auf der Warteliste übersprang.

Leidtragende der desolaten Zustände in Washingtons Schulen sind vor allem die Jugendlichen und dabei besonders die Schwarzen. Gut 60 Prozent der Einwohner Washingtons sind Afroamerikaner, aber an den staatlichen Highschools der Stadt sind weit über 90 Prozent Schwarze, weil die Weißen auf Privatschulen ausweichen. Untersuchungen zeigen ein radikales Gefälle zwischen schwarzen und weißen Teenagern: In Mathematik zum Beispiel bestehen nur sieben Prozent der schwarzen Achtklässler Washingtons den nationalen Standardtest eine winzige Minderheit also. Unter weißen Achtklässlern in Washington sind es 72 Prozent.

Gerade die Testergebnisse, so sah es das lange gepriesene Reformmodell vor, sollten zum Maßstab des Fortschritts genommen werden. Doch wie sich jetzt zeigt, ging der Schuss nach hinten los: Viele Lehrer halfen aktiv mit, um die Ergebnisse ihrer Schüler aufzubessern, oder ließen Tricks und Täuschungen ausdrücklich zu. Das führte naturgemäß zu phantastischen Testergebnissen und erregte schon am Anfang der Reform vor zehn Jahren Misstrauen. Verschärfte Kontrollen führten später zu einem Einbruch der Testergebnisse. Schon damals wurde eine Kommission eingesetzt, die die wundersame Entwicklung der Washingtoner Mathematikkenntnisse untersuchen sollte. Sie konnte aber keine systematischen Täuschungen nachweisen.

Lehrer und Direktoren berichten von dem Druck, unter dem sie seit Beginn der Reform standen: „Jedes Jahr hatte ich eines dieser Treffen mit der Stadtverwaltung, in dem mir neue Ziele für das Schuljahr ausgegeben wurden. Ich habe gesagt, dass das unrealistisch ist, aber die haben nur freundlich gelächelt. Es gab auch kein Gespräch darüber, es war einfach eine Anweisung“, berichtet Richard Jackson, inzwischen pensionierter Direktor der Coolidge High School in Washington. Er und seine Kollegen wussten, dass alle versetzt oder entlassen wurden, die die Ziele verfehlen. Nach amerikanischem Arbeitsrecht ist das ohne große Umstände möglich.

Als verhängnisvoll erwies sich im Rückblick auch das System der Leistungsanreize für Lehrer, das Rhee 2008 einführte. Es sah vor, dass Lehrer einen jährlichen Bonus bekommen können, der sich nach den vereinbarten Erfolgskriterien richtete: Bessere Testergebnisse pro Klasse etwa. Wie jetzt herauskam, führte das nicht nur zu Betrügereien und dreisten Fälschungen. Es wurden auch Schwerpunkte verschoben: Weil etwa Physik und Biologie nicht in den nationalen Tests Vorkommen, wurde der Unterricht in diesen Fächern von vielen Lehrern eigenmächtig zurückgefahren. So sollte mehr Zeit gewonnen werden, um die Schüler auf die Tests vorzubereiten.

Bonus und Prämien der Schulleiter richteten sich in diesem System nach der Quote der bestandenen Abschlussprüfungen (was zur Hundert-Prozent-Quote an Ballou High führte), aber auch nach dem Rückgang der Disziplinarmaßnahmen. Viele Schulverweise wurden deshalb diskret verschwiegen, um dem Schulleiter nicht den Bonus zu vermasseln. Stattdessen etablierte sich ein formloses System, in dem die Lehrer Schüler aus dem Unterricht warfen oder nach Hause schickten, ohne den Vorfall zu melden.

Zur Reform gehörte auch, die Aufsicht über das Schulwesen direkt dem Bürgermeister zu unterstellen. So sollte an der Stadtspitze das Verantwortungsbewusstsein geschärft werden. Doch Kritiker meinen, dass auch das kontraproduktiv war: Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser, die in diesem Jahr zur Wiederwahl steht, soll über Jahre Druck auf die Mitarbeiter ausgeübt haben, gute Zahlen zu liefern wohl wissend, dass sie damit politisch punkten kann. Die parteilose Stadtverordnete Elissa Silverman sagt dazu: „Es gibt in unserer politischen Kultur eine Bereitschaft, fast alles zu tun, Manipulation der Statistik eingeschlossen, wenn es nur irgendwie zeigt, dass es mit den Schulen in Washington endlich aufwärtsgeht.“ Die Bürgermeisterin äußert sich in ihren Wahlkampfreden diplomatisch. Von den himmelschreienden Missständen will sie nichts gewusst haben, und die Schulen sieht sie immer noch auf einem guten Weg: „Wir haben trotz der jüngsten Vorkommnisse insgesamt gute Fortschritte gemacht.“ Mary Cheh, Demokratin wie die Bürgermeisterin und Stadtverordnete, sieht das anders: „An unseren Schulen gibt es nach wie vor Diplome für Analphabeten.“

Zu den Kollateralschäden der Washingtoner Schulreform gehören auch sagenhafte Kosten von drei Milliarden Dollar. Die wurden vor allem in Prestigeobjekte wie den olympischen Wettkampfpool der Wilson High School investiert. Von den schwarzen Schülern wird der nun kaum genutzt, dafür aber von den ganz überwiegend weißen Schwimmvereinen in Washington. Auch die Prämien und Boni für Lehrer, Direktoren und leitende Beamte im Schulamt haben Millionen verschlungen und die laufenden Kosten der Schulen in Washington auf nationale Rekordhöhe getrieben. Das alles wurde lange damit gerechtfertigt, dass diese Investitionen ja den Schülern in Washington zugutekommen und die besseren Noten und Schulabschlüsse den Reformern recht gäben.

Das müsste nun im Umkehrschluss dazu führen, dass die Reform neu und kritisch bewertet wird, dass man sich von Täuschungen und Selbsttäuschungen verabschiedet. Doch dass nach diesen Enthüllungen demnächst einiges besser wird, muss bezweifelt werden. Denn bislang hat die Stadt Washington nur eine einzige ihre Schulvorschriften aufgrund des Skandals geändert: Auch wer mehr als vier Wochen pro Halbjahr unentschuldigt fehlt, kann künftig ein Diplom bekommen. Außerdem müssen Lehrer ihren Schülern Nachholtermine für Aufgaben und Prüfungen anbieten, die sie verpasst haben, wenn sie mal wieder die Schule schwänzten. Die bisherigen Regeln, so das Schulamt, seien einfach zu streng gewesen. „Mit den neuen Regeln unterstützen wir unsere Schüler und tragen ihren Lebensumständen besser Rechnung“, sagt die neue Schuldezernentin Amanda Alexander. Außerdem sollen auch Lehrer ohne formale Zulassung erst einmal ihre Stelle behalten. Begründung: „Diese Lehrer sind ja nicht unqualifiziert, nur weil sie keine formale Zulassung haben.“ Vieles spricht also dafür, dass das Märchen von der erfolgreichen Schulreform in Washington weitergehen kann.

Die einst wie ein Guru gefeierte Schulreformerin Michelle Rhee hat Washington ohnehin längst verlassen und predigt nach Jahren in Kalifornien neuerdings in Tennessee die Segnungen ihrer kompromisslosen „datenbasierten Schulpolitik“. Ihre eigenen Kinder, erfuhren die erstaunten Zeitungsleser in Washington vor einer Weile, besuchen Privatschulen.

Zum Artikel: FAS, 26.08.2018, Markus Günther, Diplome für alle
siehe auch: Heinrich-Heine Gymnasium Bottrop


Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) brachte am 31.08.2018 einen Beitrag von Martin Beglinger: Einst hatten die Lehrerinnen und Lehrer das Sagen. Wer heute die Schule regiert.  Darin ist neben dem Thema „Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat“ auch zum Schulsystem in den USA nachzulesen:

[…] Einen grossen Kontrast zur Schweiz bilden hingegen die USA, gemäss Richard Münch das «Pionierland» für den bildungsindustriellen Komplex. [Richard Münch: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Beltz-Juventa-Verlag, 2018.] Die Ausrichtung auf Output und konsequentes Testen sind an amerikanischen Schulen seit bald fünfzig Jahren Standard. Der Soziologe hat nicht grundsätzlich etwas gegen Tests einzuwenden, hingegen stört ihn, wenn die «Bildungs- und Testindustrie» die Schule zu dominieren beginnt und diese am Ende gleichwohl nicht einzulösen vermag, was versprochen wird: bessere Leistungen und mehr Chancengerechtigkeit. Stattdessen kam es zu Auswüchsen wie 2011 in der Stadt Atlanta, wo ehrgeizige bildungspolitische Vorgaben zur Folge hatten, dass an 44 von 56 öffentlichen Schulen Testergebnisse systematisch gefälscht wurden, um die Ziele zu erreichen. Von den 170 beteiligten Lehrpersonen mussten drei für mehrere Jahre ins Gefängnis. […]

Kaum zu bestreiten ist hingegen, dass das amerikanische Schulsystem insgesamt nicht besser geworden ist in den letzten fünfzig Jahren. Die Pisa-Resultate – wenn man sie denn als Messlatte nehmen will – belegen das anhaltende Mittelmass. Insbesondere haben es die USA nicht geschafft, die Bildungskluft zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiss, zwischen Akademikern und Arbeitern zu verkleinern. Auch nach dem Neustart seiner Schulen bleibt New Orleans bei den schulischen Leistungen am Schluss, weit entfernt von Städten wie Boston; ebenso gross sind die Differenzen zwischen Gliedstaaten wie Louisiana und Massachusetts. Gegen 70 Prozent dieser Unterschiede lassen sich gemäss Münch mit den sozioökonomischen Unterschieden bei der Bevölkerung erklären. Bildungspolitik, folgert er daraus, könne eine ausgleichende Sozialpolitik nicht ersetzen. […]