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Buchbesprechung

Bingen, Dr. Burkard Chwalek

Nils B. Schulz (S.), promovierter Germanist und Lehrer für Deutsch und Philosophie an einem Berliner Gymnasium, seit vielen Jahren publizistisch insbesondere zu bildungspolitischen Fragen tätig, hat ein mutiges Buch geschrieben. Mutig v. a. deshalb, weil sein Verfasser zentrale Fragen des gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurses gegen die herrschende Tendenz aufnimmt und aspektreich (und schon das ist angesichts so mancher Engführungen gegen den Strich gebürstet) diskutiert. Hierzu zählen in seiner Darstellung die machtvoll vorangetriebene Digitalisierung, der Digital Turn, die Rolle des Change Managements bei der Umsteuerung des Schul- bzw. Bildungswesens unter neoliberalen Vorzeichen, die Umdefinition der Lehrkräfte zu Lernbegleitern oder Coaches, …

… die zunehmenden Einflussnahmen der EdTechindustrie auf die Schulen, die Kompetenzierung von Unterricht und computergestützte Standardisierung der Leistungsüberprüfungen oft in der Form von Massentests, die fortschreitende Niveauabsenkung – um nur einiges zu nennen. Mutig ist ein solches Buch aber auch deshalb, weil es im aktuellen Diskussionsklima sich von vornherein dem Verdacht der Fortschrittsverweigerung und Rückwärtsgewandtheit ausgesetzt sieht und mit einer freundlichen Aufnahme in weiten Kreisen nicht unbedingt rechnen darf, eher schon mit ablehnender Haltung, aus der heraus Kritik häufig als Innovationsbremse diskreditiert, aber nicht in ihrer emanzipatorischen Kraft wahrgenommen wird. Zudem erwecke dezidiert vorgetragene, klar konturierte Positionierung in die vorfindlichen Verhältnisse destabiliserender Absicht leicht den Eindruck der Hybris, mit der von der Warte höherer Einsicht aus auf die Situation (herab)geblickt werde. Auch lasse sich nie ganz der Dialektik von Aufwertung des In-Frage-Gestellten entkommen, indem man es ernst nimmt, der Auseinandersetzung für wert erachtet. Nicht zuletzt sehen sich kritische Einlassungen der Gefahr ungerechtfertigter Vereinnahmug und politischer Instrumentalisierung ausgesetzt durch Gruppierungen, mit denen ihr Verfasser nichts gemein hat.

Ungeachtet dessen oder gerade deswegen muss man für das schmale Buch eine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen, wie etwas ausführlicher begründet werden soll.

S. ist ein in besonderem Maße geeigneter Kritiker der dominanten Kompetenz- und Digitalisierungsagenda, weil er philosophische Belesenheit und theoretische Erschließungskraft mit langjähriger praktischer Erfahrung in der Schule verbindet, was ihn von zahlreichen Stimmen unterscheidet und vor ihnen in der Tat auszeichnet, sofern man in aus Praxis gewonnenen Einsichten ein Qualitätsmerkmal zu erblicken vermag.

Für sein Vorhaben hat er die Form des Essays gewählt, was zu einer bisweilen losen, nicht streng didaktisierten Gedankenfolge, gerade dadurch aber zu flüssiger Lesbarkeit führt, die die Lektüre bei allem Anspruch zu einem Vergnügen macht.

Adressiert ist der Essay explizit „nicht nur an Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch an Studierende und Eltern, die an Fragen des Digital Turn im Bildungssystem interessiert sind.“ (11) Darüber hinaus wünscht man sich für  seine Lektüre auch die in der Bildungspolitik und den Bildungsverwaltungen Tätigen. Reflexive Distanz zum eigenen Tun ist immer ein Gewinn.

Seine Bestandsaufname der derzeitigen bildungspolitischen Debatten und Implementierung ihrer Zielvorgaben wie auch Perspektiven aus deren Verengungen entfaltet S. in fünf Kapiteln.

Das erste Kapitel formuliert ausgehend von der anschaulichen Szenerie eines alten Fotos, das die Bedeutung des Zeigens für Vermittlungsprozesse ansichtig macht, die zentrale These, „dass junge Menschen in schulischen Lernsituationen Sachthemen am besten von älteren Menschen lernen – und zwar in leiblicher Präsenz.“ (19) Solche Formen des Unterrichtens, die auf dem „analogen“, persönlichen, situativen Miteinander von Unterrichtenden und Schülerinnen und Schülern aufruht, werden – so die Analyse – durch vielfältige Entwicklungen unterlaufen. Diskutiert werden u. a. das Misstrauen gegen Lehrkräfte, das sich in immer neuen Formen der Kontrolle zur Geltung bringt (dazu auch Kapitel 5), die Umformung der Lehrkräfte zu Coaches, die ihren Einfluss in Lern- und Bildungsprozessen zunehmend in den Hintergrund rückt, allerlei Arten von Schein- bzw. Halbpartizipation (S. spricht von „Simulakrum“, „einer simulierten schulischen Welt“, 22, „Teilhabesimulakren“, 28), Psychotechniken des Change Managements, das die Schulen erobert hat, die in technizistische Terminologie gekleidete Kompetenzierung und die mit ihr einhergehende Fragmentierung des Lernens – alles, überdies von zahlreichen Widersprüchen gekennzeichnete, Entwicklungen, die das Entstehen einer gemeinsamen Welt (Hannah Arendt) und authentischer Bildungsprozesse unterlaufen.

Den kaum zu bestreitenden Anteil der Digitalisierung der Schulen an dieser Entfremdung beleuchtet S. in mehreren Dimensionen; ein Schwerpunkt liegt auf der Problematik der Reduktion unmittelbarer, leiblicher Erfahrung.

Das zweite Kapitel stellt in meinen Augen das Glanzstück des Buches dar. Scharfsinnig und mit geschultem analytischen Blick des Philologen und Hermeneutikers untersucht S.  die Sprache der Positionspapiere zur Digitalsierungsstrategie vorrangig der Kultusministerkonferenz und der ins Leben gerufenen Ständigen wissenschaftlichen Kommission (SWK).

Er charakterisiert diese als Kitsch, kitschig (z. B. 42), wenn man darunter die Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Ausdrücke und Bilder versteht. Nahezu inhaltsleere Termini und Phrasen in überbordendem Nominalstil überführten Reste erziehungswissenschaftlicher Begrifflichkeit in ein technizistisches Sprachuniversum, das sich im Verein mit dem imperativischen Duktus gegen Einsprüche abschotte und Alternativlosigkeit suggeriere. Der blanke Widerspruch zur Verheißung von Individualisierung, Selbstbestimmung, Emanzipation und dgl. scheint nicht einmal mehr aufzufallen. In Anlehnung an Adorno (Erziehung zur Mündigkeit) wird der Verdinglichungscharakter der kalten Sprache der Digitalität akzentuiert. Man spürt die Nähe der Argumentation zur Kritischen Theorie.

Das dritte Kapitel thematisiert mögliche und tatsächliche Abwehrmechanismen im Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Top-down-Durchsetzungsstrategien und Konfliktlinien im Digitalisierungsprozess und der Umsteuerung des Bildungssystems auch im Kontext des stärker werdenden Einfluss von EdTechunternehmen und Lobbyisten („bildungsindustrielles Netzwerk“, 75), deren Werbestrategien sich kaum von der Sprache der Bildungspolitik unterscheide.

Das vierte Kapitel ist den „Paradoxien der Digitalisierung“ (85) gewidmet und gibt Hinweise zur Entwicklung von Anwendungskompetenzen hin zur Medienmündigkeit (mit Berufung auf Paula Bleckmann). Mit bestechender Klarheit präpariert S. die inhärenten Widersprüche heraus, wenn man ein kritisch-reflexives Verhältnis zu Digitalisierungsprozessen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler durch Kompetenzierung anbahnen oder gar erreichen will. Auch werden viel zu vernachlässigte Themen wie Gesundheits-, Natur- und Umwelt- und Datenschutz thematisiert. S. leitet daraus die Forderung nach einem Fach „Medientheorie“ ab (während er gegenüber einem verpflichtenden Fach Informatik für alle gegenüber zurückhaltend ist), für das er selbst bemerkenswerte Impulse gegeben hat. Instruktiv sind die Einblicke in seine eigene unterrichtliche Erprobung an seiner Schule.

Das fünfte Kapitel zeigt Perspektiven aus der brüchig gewordenen Verfugung und Dominanz von neoliberalen Steuerungsphantasien, Kompetenzierung, Standardisierung und mit Unterstützung vieler EdTechkonzerne forcierter Digitalisierung. Während bislang die kritische Perspektive im Vordergrund stand, rückt nun der zweite Begriff des Titels, Verantwortung, in den Fokus. Es ist ein engagiertes Eintreten – weg von der Funktion des Classroom Managers – für die Lehrerpersönlichkeit, die Verantwortung trägt zuvörderst für die anvertrauten jungen Menschen, aber auch die Inhalte und die die aktuellen bildungspolitischen Prozesse in bester aufklärerischer Tradition (Kant) mit reflexiver Distanz begleitet und die Rolle einer Lehrkraft einnimmt, die sich ihrer Bedeutung für ihre Lernwirksamkeit, wie sie z. B. Hattie eindrucksvoll empirisch belegt hat, bewusst ist und sie gegebenenfalls auch antikonformistisch ausfüllt. Die Formel dafür lautet: neo-existenzialistische Pädagogik. Sie verbindet das Wahrnehmen und Fördern der Person als Ganzes in ihrem Werden mit den Erkenntnissen der „didaktisch-methodische[n] Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung“ (131).

Die Tonlage des Essays vorzüglich treffend, ist S. über die kritische Bestandsaufnahme hinaus ein kenntnisreiches Plädoyer für eine Bildung gelungen, die sich ihrem Anspruch verpflichtet sieht. Dazu wünscht man ihm nicht nur zahlreiche Leserinnen und Leser bei (zukünftigen) Lehrkräften und Eltern, sondern auch in der Bildungspolitik und den Bildungsadministrationen mit Offenheit auch gegenüber Gedanken, die sich gegenwärtig leitenden Trends als sperrig erweisen.

Nils B. Schulz: Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik, Claudius Verlag München 2023 (ISBN 978-3-532-62887-4)

Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Manfred Fischer, Berlin, 1.5.2023

Der folgende Beitrag nimmt den gescheiterten Bildungsgipfel zum Anlass, insbesondere den beachtlichen Einfluss der sogenannten Bildungsstiftungen auf die Politik kritisch zu kommentieren und die Frage zu verfolgen, welchen Interessengruppen dadurch das Wohl der Schülerinnen und Schüler anvertraut wird. 

Die Sozialpartner DGB und BDA schrieben in einer gemeinsamen Stellungnahme am 13.03.2023: „Von der `Bildungsrepublik Deutschland´, die bereits 2008 von der Bundeskanzlerin und den Ländern ausgerufen worden ist, sind wir 15 Jahre später immer noch meilenweit entfernt.“

Die damals gesteckten Ziele beim Bildungsgipfel vom 22.10.2008 wurden bis heute allesamt „deutlich verfehlt“: Halbierung der Anzahl der Schulabgänger ohne „Hauptschulabschluss“ von 8 Prozent auf 4 Prozent, Halbierung der Zahl der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung von 17,0 Prozent auf 8,5 Prozent sowie die Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Jedoch das Ziel, „die Studienanfängerquote im Bundesdurchschnitt auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu steigern“ war bereits 2008, im Jahr des Bildungsgipfels, mit 40,3 Prozent erreicht. Diese Quote wurde in den Folgejahren von Jahr zu Jahr deutlicher übertroffen. Jedoch nicht nur für Berlin gilt: Die wundersame Leistungssteigerung wurde durch Niveausenkung erkauft! Deutlich wird dies auch durch die hohen Studienabbruchquoten von bis zu 50 Prozent in den Naturwissenschaften.

„Reformprozesses im Bildungswesen“ nach den Vorgaben der „Bildungs“-Stiftungen

Wie aus einer Pressemitteilung vom 14.03.2023 zu entnehmen ist, appelliert ein „breiter Kreis aus [17] Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften an den Bundeskanzler und die Regierungschef:innen der Länder, mit einem Nationalen Bildungsgipfel einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten.“ Die Initiatoren des Appells waren die Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Karg-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland sowie die Wübben Stiftung. [1] Die Akteure sind meinungsstarke und kapitalkräftige Stiftungen, deren Aktivitäten Christian Füller im „Tagesspiegel“ so überschreibt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“.

Betrachtet man die mit den Stiftungen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer, entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel“. Die Stiftungen öffnen durch ihre Medienpräsenz und die sich wiederholenden „Botschaften“, „öffentlichkeitswirksamen Studien“ und „Handlungsempfehlungen“ sowie durch das „Anprangern von Missständen“ die Türen für das milliardenschwere Bildungs- und Testgeschäft der Unternehmen. In den „technologiebasierten Innovationen“ für Lernen, Unterricht und Schule, die Technologien wie „Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics“ nutzen, liegt nicht, wie die Akteure behaupten, verheißungsvoll die Lösung, sondern oft das Problem! Der Einsatz dieser Technologien soll das Bildungssystem „revolutionieren“.

Von den Stiftungen wird vordergründig und vermeintlich selbstlos in ihren „Botschaften“ hervorgehoben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen, und den Lehr- und Fachkräften im Bildungsbereich wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Es geht jedoch den Stiftungs-Akteuren darum, die „digitalen Bildungskonzepte“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Kitas und Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion.

Euphemistisch schreiben die Initiatoren in ihrem Appell, dass auf dem von ihnen eingeforderten „Nationalen Bildungsgipfel“ neben dem Bundeskanzler „alle relevanten Akteure“ vertreten sein sollen. Festzuhalten ist: Nur ein ergebnisoffener Dialog auf Augenhöhe, ohne interessenbezogene Auswahl von Experten und Teilnehmern könnte zielführend sein. Jedoch eine entgegengesetzte, verschleiernde Vorgehensweise wurde z.B. bei der Trend-Studie „KI@Schule“ im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung praktiziert. Dort wurde die Auswahl der Experten und Teilnehmer mit dem Auftraggeber abgestimmt! [2] Auch ein Austausch in „gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“ wäre zu begrüßen, doch die Akteure haben schon längst die Steuerung des „Reformprozesses“ im Bildungsbereich übernommen! Deutlich wird dies auch in einem Interview im „Tagesspiegel“. Beim geforderten Nationalen Bildungsgipfel setzt der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung Thomas de Maizière nur auf eine „öffentliche Begleitung“ und darauf, dass man sich „informell miteinander“ austauscht. [3]

Die Akteure schreiben auf der website des „Forum Bildung Digitalisierung“, einem Netzwerk, in dem die meisten Initiatoren des Appells vereint sind: „Auf politischer Ebene war insbesondere die Übernahme zahlreicher Positionen des Forums in der ergänzenden Empfehlung `Lehren und Lernen´ zur Strategie `Bildung in der digitalen Welt´ der Kultusministerkonferenz (KMK) ein großer Erfolg.“ [4] Um die Quellen zu verschleiern, macht die KMK in ihrem Bericht [5] keine Angaben zu den Autoren! So ist auch in dem oben genannten Interview nicht verwunderlich, dass der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung von Lob und Anerkennung gegenüber der KMK spricht, da sich die KMK durch „externe Beratung“ selbst auf den „Prüfstand“ stelle.

Der geforderte „grundlegende Reformprozess im Bildungswesen“ ist von den Stiftungen längst vorformuliert, ein „Neustart in der Bildung“ durch eine „digitale Transformation und systemische Veränderungen im Bildungsbereich“ längst beschlossene Sache. Die Frage stellt sich: Wem nutzt es?

Von der Bedeutung im Bildungsprozess von „sinnstiftendem Lernen in tragfähigen Beziehungen“, „wirklichen Lernzeiten in der Klassengemeinschaft“, der „Weltdeutung der Kinder und ihrer Familien“ [6] sowie über den Erwerb der Fähigkeiten wie Anstrengungsbereitschaft, Konzentration, Kreativität, Mitgefühl ist keine Rede. Dies sind aber die Grundlagen auf dem Weg hin zu einer wirklichen Bildung. Den positiv besetzten Begriff „Bildung“ nutzen die Akteure 32mal in dem zweiseitigen Appell. Das kann vordergründig beeindrucken, eine inhaltliche Auseinandersetzung wird jedoch vermieden! Die „Bildungs“-Stiftungen sind auch hier Meister im Verschleiern ihrer wirklichen Absichten – denn „Bildung“ ist ihr Geschäft.

Bei den bildungspolitisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ist „keine Ernsthaftigkeit bei der Problemlösung“ in Schule und Bildung zu erkennen, bemerkt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz. Einige verlieren sich in „persönlichen Profilierungsversuchen“, so die zum Bildungsgipfel noch amtierende KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse. Sie alle werden ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht gerecht! Das Wohl der Kinder, der Schülerinnen und Schüler, der Lehr- und Fachkräfte haben sie seit Jahren allesamt aus dem Auge verloren. Den Verheißungen und den ökonomischen Vorstellungen der „Bildungs“-Stiftungen oder deren Protagonisten jedoch jetzt blind zu folgen, ist nicht die Lösung! Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen und nicht um die Umsetzung der Interessen der international agierenden Education Technology-Unternehmen.


[1] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52.

[2] Siehe dazu die Kurzfassung der Studie: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[3] TSP, 24.04.2023, Interview mit Thomas de Maizière: „Es ist höchste Zeit, das Bildungssystem zu ändern“ von Susanne Vieth-Entus und Tilmann Warnecke.

[4] Siehe dazu eine Kurzfassung: Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

[5] https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09-Lehren-und-Lernen-Digi.pdf

[6] Siehe dazu: FAZ, 13.04.2023, „Messen macht noch keine Bildung“ oder „Offener Brief von Bildungswissenschaftler:innen und Fachdidaktiker:innen an die KMK gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses“

Den ausführlichen Bericht „Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ in der PDF-Datei

Bildung ist das, was uns innerlich hält

Die „Bilder von Bildung“ des Wuppertaler Kunstpädagogen Jochen Krautz entdecken das „überzeitlich Pädagogische“

von Nils B. Schulz

Seit einigen Jahren öffnet sich die gegenwärtige Pädagogik wieder für existenzphilosophische Ansätze. Der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart sprach kürzlich sogar von einer neo-existentialistischen Wiederentdeckung des Lehrers. Man kann die Betonung der Wichtigkeit leiblicher Lehrerpräsenz sicherlich als kritische Reaktion auf die jüngsten Digitalisierungsimperative deuten. Und so hat auch das neue im Claudius Verlag erschienene Buch des Wuppertaler Pädagogen Jochen Krautz einen existentiellen Zug. Es trägt den Titel „Bilder von Bildung“ und beginnt mit einer persönlichen Vorbemerkung: Nachdem im Juli 2021 das Hochwasser aus Krautz‘ Arbeitszimmer abgeflossen war, fiel ihm nämlich bei den Aufräumarbeiten das Buch „Krise und neuer Anfang“ des existenzphilosophischen Pädagogen Otto Friedrich Bollnow entgegen. Der Buchtitel markiert dann gleich das Thema. Denn für Krautz ist es „weitläufiger Konsens, dass sich schulische Bildung und pädagogisches Denken in einer Krise befinden“. Ihm geht es zum einen im Rekurs auf Bollnow darum, die „verschütteten Gründe“ der Pädagogik freizulegen; zum anderen aber möchte er in Anspielung auf seine „Arbeit nach der Flut“ zum „pädagogischen Anpacken“ ermutigen. Das heißt: nicht nur der allgemeinen Krise zu begegnen, die sich hinter einem auf Dauer gestellten Bildungsreformwahn verbirgt, sondern auch einer besonderen, nämlich der Corona-Krise und den Folgen der Schul-Lockdowns.

Die Frage nach den „tragenden Gründen“ pädagogischen Handelns zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch; und ähnlich wie zuletzt der Schweizer Pädagoge Carl Bossard sucht Krautz zeitunabhängige „pädagogische Konstanten“, welche die Bildungspolitik aus den Augen verloren hat und die es wiederzugewinnen gilt. Deswegen trägt das Buch als weiteren Hinweis auf Bollnow den Untertitel „Für eine Renaissance der Schule“.

Die persönliche Vorbemerkung ist neben einem Foto platziert, das den Buchfund zeigt; und diesem doppelseitigen Nebeneinander von Bild und Text folgen nun die „Bilder von Bildung“ über knapp 140 Seiten. Gemälde, Skizzen, Fotos auf der linken Seite, Kommentare, Zitate, Reflexionen – zuweilen aphoristisch – auf der gegenüberliegenden. Die Kompositionsidee entsprang einem Seminarkonzept: Um Studentinnen und Studenten der Kunstpädagogik an pädagogische Grundgedanken heranzuführen, sie mit pädagogischen Situationen zu konfrontieren, die sie vielleicht aus ihrer eigenen Schulzeit gar nicht mehr kennen, benutzte Krautz Bilder und Fotos als Ausgangsmaterial für das gemeinsame Nachdenken. Das Buch fordert den Leser nicht nur durch Fragen am Ende mancher Texte zum Mit- und Weiterdenken auf, sondern verführt ihn dazu, selbstständig eigene Bild-Text-Reihen zu imaginieren, das Buch gleichsam fortzuschreiben. Der Aufbau folgt dem Prinzip der losen Reihung, ist aber nicht unsystematisch. Genuin pädagogischen Begriffen und Themen wie „Bildung“ oder „Liebe zur Sache“ folgen Überschriften wie „Üben“, „Lesen“, „Konzentration“ bis hin zu aktuellen Fragen nach „Bildungsgerechtigkeit“ und „Inklusion“. Auch sind die Textseiten gleichsam rhizomartig miteinander verbunden, so dass zentrale Gedanken immer wieder neu kontextualisiert werden; dabei bleiben Redundanzen nicht aus, sind vielleicht sogar intendiert.

Bestimmt ist das Buch von einer Positivanthropologie, das den Menschen im Anschluss an die jüngsten Forschungen des US-amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello als ein soziales und kommunikatives Wesen fasst, dessen besonderes Charakteristikum es ist, dass es seine Lebenswelt als einen Raum geteilter Aufmerksamkeit begreift und gestaltet – für Krautz die Grundlage gelingenden Unterrichts. Das Gravitationszentrum des pädagogischen Bilder-Buchs ist der aufklärerische Gedanke, dass es die Aufgabe der Lehrenden ist, Schülerinnen und Schüler zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und dass dies ein dialektischer Prozess ist. Das Freigeben ins Offene, so Krautz, setzt pädagogische Bindung voraus. Aus der Sicht des Schülers formuliert: sich leiten lassen zur Selbstbestimmung. Diesen Gedanken illustriert ein Bild von Norbert Schwontkowski aus dem Jahr 2010, das betitelt ist mit „Der Lehrer“, auf dem eine stehende Figur einer schwebenden die Hand reicht, konzentriert und zugewandt; doch gerade die zentrale Stelle der Handreichung ist so gestaltet, dass sie nicht genau erkennbar ist. Diese Unschärfe deutet Krautz als einen Verweis auf eine ebenso „kunstvoll auszutarierende pädagogische Beziehung“. An anderer Stelle spricht der Autor in Anlehnung an Johann Friedrich Herbart von „pädagogischem Takt“. Dieser Takt ist ein Feingefühl dafür, „welcher ‚Zwang‘ die Entwicklung verantwortlicher Freiheit ermöglicht und welcher sie verhindert“. So wird der Leser en passant mit Gedanken älterer Pädagogen wie Herbart, Comenius oder Pestalozzi bekannt gemacht, dem auch das Foto auf dem Cover des Buches gewidmet ist: „Pestalozzi in Stans“. Das Bild stammt von dem Schweizer Maler Albert Anker und zeigt Pestalozzi mit einem Waisenkind auf dem Arm, umgeben von zwei weiteren Kindern. Im Buch ist diesem Bild der Text „Pädagogische Liebe“ zugeordnet. Die „gefühlsmäßig positive innere Haltung“ gegenüber dem „anderen als sorgebedürftigem Mitgeschöpf“ stellt genau das dar, was Krautz als einen „tragenden Grund“ der Pädagogik ansieht und den gerade der gegenwärtige Professionalisierungsdiskurs und die technokratische Testindustrie zum Verschwinden bringen. Eindimensionale technische Rationalität und zunehmende analytische Distanz dürfen nicht die Reaktion auf das Bekanntwerden der schrecklichen Übergriffe in der Odenwaldschule oder im Berliner Canisius-Kolleg sein; dabei wird der Leser der „Bilder“ prüfen müssen, ob für ihn der begriffliche Rekurs auf den pädagogischen Liebes-Begriff „trägt“ oder ob er nicht selbst eher von Zugewandtheit oder Aufmerksamkeit sprechen möchte. Sowohl das schöpferische Nachdenken über Sprache als auch über ethische Haltungen wird durch solche Einträge unmittelbar erzeugt.

Wie wichtig aufrichtige und authentische Beziehungen von Lehrerinnen und Lehrern zu ihren Schülern sind, hat gerade die Corona-Krise gezeigt. Die traurige Verlorenheit des Schülers vor dem Bildschirm, Video-Konferenzen ohne Blickkontakt und das stupide Erledigen von Aufgaben zeigte ex negativo die Bedeutsamkeit von lebendigen Beziehungen im Klassenraum. Gleichzeitig verweist der Autor unter der Überschrift „Bindung“ aber auch darauf, dass eine gelingende Beziehung sowohl Nähe als auch Ferne braucht – eine weitere Konturierung dessen, was „pädagogischer Takt“ bedeutet. Dem entspricht die wiederholte Warnung vor einer „Helikopter-Erziehung“.

Noch einmal zurück zum Buch-Cover: Ankers Bild aus dem Jahr 1870 ruft die berühmte Pestalozzi-Formel auf, dass Lernen am besten mit „Kopf, Herz und Hand“ geschieht und dass es sich lohnt, zurück in die Geschichte der Pädagogik zu blicken. So stärkt das Buch, das auch künstlerische Schüler-Arbeiten zeigt, all diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, die seit Jahren leiborientierte Formen des konzentrierten Übens nicht aufgegeben haben, weil sie davon überzeugt sind, dass Bildung das ist, was uns – so Krautz – „innerlich hält“. Man würde das pädagogische Bilder-Buch jedoch gründlich missverstehen, wenn man ihm bloße Rückwärtsgewandheit, Nostalgie oder gar Verklärung einer schulischen Vergangenheit vorwürfe, die es nie gegeben hat. Gerade die Auswahl der Bilder von Albert Anker, die uns heute beinahe idyllisch anmuten, versuchten ja im Stile realistischer Malerei ein aufgeklärtes und progressives Bildungsverständnis zu vermitteln. Und genau das gelingt den „Bildern“, die getragen sind vom Prinzip Hoffnung, dem die letzte Doppelseite gewidmet ist – Hoffnung darauf, dass man sich wieder auf das Wesentliche der Pädagogik besinnt, nachdem die Entfremdungsprozeduren permanenter Kompetenzmessung und fetischisierter Digitaltechnik entlarvt sind.

Die Rezension erschien in der Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes (DPhV): Profil 3/2023, S. 40-41, Link: https://www.profil-dphv.de/#magazin

Die Rezension erscheint auf der website Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Jochen Krautz, Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule, Claudius Verlag München 2022

Eine systematische Überprüfung und Metaanalyse der Evidenz zum Lernen während der COVID-19-Pandemie

Kinder verloren etwa ein Drittel des Lernwertes eines normalen Schuljahres. Die Studie wurde Ende Januar 2023 im Online-Fachjournal „Nature Human Behaviour“[1] veröffentlicht.

Um das Ausmaß der Lerndefizite während der Pandemie zu bewerten, sammelte das Forschungsteam Daten aus 42 früheren Studien aus 15 Ländern, die im Zeitraum März 2020 bis August 2022 veröffentlicht wurden.

Die primäre Forschungsfrage des Teams lautete: „Wie wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf den Lernfortschritt von Kindern im Schulalter aus?“ Das zweite Forschungsziel war „Zu untersuchen, ob sich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Lernen in verschiedenen sozialen Hintergrundgruppen, Altersgruppen, Jungen und Mädchen, Lernbereichen oder –fächern und nationalen Kontexten unterscheiden“.[2]

Die Pandemie der Coronavirus-Krankheit hat zu einer der größten Unterbrechungen des Lernens in der Geschichte geführt. Dies ist zu einem großen Teil auf Schulschließungen zurückzuführen, von denen schätzungsweise „95 % der weltweiten Schülerschaft“[3] betroffen waren.

Auswirkungen

Die Metaanalyse legt nahe, dass sich der Lernfortschritt während der COVID-19-Pandemie erheblich verlangsamt hat und dass die Schüler etwa „35 % des Lernwertes eines normalen Schuljahres“[4] verloren haben. Diese Defizite blieben über den untersuchten Zeitraum von etwa 2,5 Jahren konstant.

Die Forschergruppe verwendet den Begriff „Lerndefizit“, um sowohl eine Verzögerung des erwarteten Lernfortschritts als auch den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse zu umfassen. Das in der Pandemie entstandene Lerndefizit wird wahrscheinlich die Lebenschancen von Kindern durch ihre Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten beeinträchtigen. Auf gesellschaftlicher Ebene kann sie wichtige Auswirkungen auf Wachstum, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt haben.

Die Auswirkungen des eingeschränkten Präsenzunterrichts, so das Forscherteam, wurden durch die Folgen der Pandemie für das außerschulische Lernumfeld von Kindern sowie ihre geistige und körperliche Gesundheit verstärkt. Lockdowns haben die Bewegungsfreiheit von Kindern und ihre Fähigkeit, zu spielen, andere Kinder zu treffen und sich an außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, eingeschränkt. Das Wohlergehen der Kinder und die familiären Beziehungen haben auch unter wirtschaftlichen Unsicherheiten und widersprüchlichen Anforderungen an Arbeit, Betreuung und Lernen gelitten. Es ist zu erwarten, dass diese negativen Folgen in schwachen sozioökonomischen Familienverhältnissen am ausgeprägtesten sind und bereits bestehende Bildungsungleichheiten verschärfen.

Die meisten Studien, die das Team untersuchten, stellen fest, dass die Lerndefizite bei Kindern aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen am größten waren. Dies gilt über verschiedene Zeitpunkte während der Pandemie, Länder, Klassenstufen und Lernfächer hinweg und unabhängig davon, wie der sozioökonomische Hintergrund gemessen wird. Es deutet darauf hin, dass die Pandemie Bildungsungleichheiten zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund verschärft hat.

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, bestätigt die Ergebnisse der Metaanalyse: „Je geringer also das Leistungsniveau der Lernenden ist, je jünger die Lernenden sind und je bildungsferner das Milieu der Lernenden sich zeigt, desto negativer sind die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Bildungsprozesse.“[5]

Er wird zu den geschilderten Auswirkungen noch deutlicher und führt zur „Demokratiefähigkeit“ der Gesellschaft weiter aus: „Ein geringes Bildungsniveau in Kombination mit einer vergrößerten Bildungsschere ist der Nährboden für demokratiedestabilisierende Entwicklungen.“[6]

Die Forschergruppe macht darauf aufmerksam, dass weitere Nachweise erforderlich sind, um die Wirksamkeit der verschiedenen bisherigen Interventionen zur Begrenzung oder Behebung von Lerndefiziten, bewerten zu können.

Was also tun?

Zierer schreibt in seinem Beitrag weiter: „Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in der Krise noch das Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog“[7] […]. Er fasst zusammen: „Das Miteinander und das Gemeinschaftliche sind sinnstiftend und die Grundlage für Bildungsprozesse.“[8]

Ralf Lankau, Professor für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie an der HS Offenburg, ergänzt und formuliert zu den Auswirkungen der eklatanten Lernrückständen eine These: „Wenn die Bereitschaft bestünde, ergebnisoffen über die Auswirkungen und Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu sprechen, wäre die erste Konsequenz die Forderung nach einer pädagogischen Wende. Statt Ausrichtung der Schulen an den Forderungen der IT-Wirtschaft und den Parametern der empirischen Bildungsforschung muss wieder das Individuum und seine persönliche Entwicklung in Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen: Persönlichkeitsentwicklung statt Leistungsvermessung.“[9]

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Im Januar 2023 erschien das Buch mit dem Titel: „Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie“, Ralf Lankau (Hrsg.). Die zusammengestellten Beiträge von 16 Vertretern aus Wissenschaft, Schulpraxis und Kinderheilkunde ergeben ein faktenbasiertes und praxistaugliches Fundament für die Frage, was die zentralen Parameter für Schule und gelingenden Unterricht sind.


[1] A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic, Betthäuser, B. A., Bach-Mortensen, A. M. & Engzell, P. Nature Hum. Behav., https://doi.org/10.1038/s41562-022-01506-4
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Zierer, Klaus (2023): Die pädagogische Klimakrise bewältigen. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 225
[6] ebd. S. 225
[7] ebd. S. 225f 
[8] ebd. S. 226
[9] Lankau, Ralf (2023): Lehren aus der Pandemie – Pädagogische Alternativen zur Digitalisierung als De-Humanisierung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 209

Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.

Das „digitale Bildungskonzept “ der Stiftungen

Leserbrief von Manfred Fischer an den Tagesspiegel

Die Absichten bei der Digitalisierung der Schule

Im Tagesspiegel vom 18.11.2022 wird unter der Überschrift „Was die digitale Schule lernen muss“, von einer Konferenz berichtet, die vom „Forum Bildung Digitalisierung“ in Berlin veranstaltet wurde. Ein Blick auf die wirklichen Absichten der zusammengeschlossenen Akteure ist angesagt.

Im Fokus von Jacob Chammon, ehemals Schulleiter und heute Vorstand des Forums, steht die Nutzung der digitalen Potenziale, „um das System Schule auf eine digital und von zunehmenden Unsicherheiten und Krisen geprägte Welt auszurichten“. Gefordert wird ein Kulturwandel zur digitalen Transformation des deutschen Schulsystems. Was die beteiligten Aktivisten unter den vorgegebenen „digitalen Potenzialen“ verstehen und wie sie diese für die Schule „nutzen“ wollen, wird deutlich in der von der Deutschen Telekom Stiftung 2021 veröffentlichten Trendstudie „KI@Bildung“ mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“. Darin wird bereits im ersten Absatz festgestellt: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. Betrachtet man die Strategie der im „Forum Bildung Digitalisierung“ zusammengefassten Akteure – darunter, man staune, die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung – und der mit ihnen verbundenen Konzerne genauer, entdeckt man ein perfektes Zusammenspiel. Es geht darum, das „digitale Bildungskonzept“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Schulen umzusetzen.

Die Vereinzelung beim Lernen vor dem Bildschirm, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen sowie der stete Leistungsabfall in den Grundkompetenzen, all das wird kommentarlos hingenommen.

Ist die Fokussierung auf eine „digitale Schule“, wie die Education Technology-Unternehmen und ihre Lobbyisten es fordern, zum Nutzen unserer Schülerinnen und Schüler?