Bedingt ausbildungsbereit

Auszubildende: IHK diagnostiziert massives Motivationsproblem in Berlin

Berlins IHK hat den jüngsten Ausbildungslehrgang statistisch ausgewertet. Ergebnis: Viele Azubis sind alt, schlecht vorgebildet und kaum motiviert.

Tagesspiegel, 29.01.2019, Kevin P. Hoffmann, verantwortlicher Redakteur für die Berliner Wirtschaft

Der Trend ist nicht ganz neu, aber er hat sich zuletzt offenbar deutlich verschärft: Berlins ausbildungswillige Betriebe finden kaum noch passende Bewerber. Und wenn sie glauben, geeignete junge Menschen gefunden zu haben, entpuppen diese sich oft als zu wenig motiviert, um den Beruf später vernünftig ausüben zu können. Das ist zumindest das Ergebnis einer Analyse, die Berlins Industrie- und Handelskammer (IHK) vorgelegt hat.

Aus: https://www.ihk-berlin.de/politische-positionen-und-statistiken_channel/ZahlenundFakten/Statistik_und_Umfragen/ausbildungsumfrage/226169

Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze ist demnach in der gesamten Berliner Wirtschaft (also inklusive Stellen im Handwerk, freien Berufen und bei Senatsverwaltungen) im Jahr 2018 um immerhin sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen – auf insgesamt 15.829. Davon mussten am Ende 1711 Plätze (10,8 Prozent) unbesetzt bleiben. Das waren 43 Prozent mehr als im Vorjahr. Vor einigen Jahren waren in Berlin jeweils nur wenige Hundert Plätze unbesetzt geblieben. […]

Die IHK Berlin pflegt für ihre Mitgliedsunternehmen – also ohne Handwerksbetriebe, Freie Berufe und Behörden – eine eigene Statistik. Demnach ist die Zahl der Ausbildungsbetriebe in Industrie und Handel und bei Dienstleistern leicht (um knapp neun Prozent) gestiegen. Und noch ein Detail: Die Zahl der Auszubildenden aus den fünf größten Herkunftsländern von Geflüchteten hat sich innerhalb eines Jahres um 115 Prozent mehr als verdoppelt auf insgesamt 551.

Insgesamt gibt es in der Region rund 400 anerkannte Ausbildungsberufe. Die drei beliebtesten bei in den IHK-Mitgliedsunternehmen waren im vergangenen Jahr Kaufmann beziehungsweise Kauffrau im Einzelhandel, gefolgt von Kaufmann/frau für Büromanagement und Hotelfachmann/frau im kaufmännischen Sektor. Bei den gewerblich-technischen Berufen wollten junge Berlinerinnen und Berliner zuletzt am liebsten Fachinformatiker/in werden, gefolgt von Mechatroniker/in und Elektroniker/in.

Wobei „jung“ relativ ist: Berlins Azubis sind bei Ausbildungsbeginn statistisch 21,1 Jahre alt, ein Jahr älter als im bundesweiten Durchschnitt. Ein Grund dafür ist der mittlerweile recht hohe Anteil von Abiturienten an den Auszubildenden (40,2 Prozent). Zudem bemühen sich Berlins Unternehmen verstärkt um Studienabbrecher als Auszubildende in hochqualifizierten Berufen. Für diese Zielgruppe hat die IHK-Berlin zum Beispiel das Programm „Your Turn“ aufgelegt und veranstaltet eine spezielle Berufsmesse. Diese findet das nächste Mal am 10. April 2019 in den Räumen der IHK im Charlottenburger Ludwig-Ehrhard-Haus statt.

„Wir geben uns wirklich Mühe, allen, die einen Ausbildungsplatz wollen, diesen auch zu bieten, aber es gibt leider immer mehr Jugendliche, die sich kaum motivieren lassen, eine Ausbildung anzutreten“, sagte IHK-Präsidentin Beatrice Kramm bei der Vorstellung der Zahlen. Sie verwies auf sinkende Teilnehmerzahlen an der Last-Minute-Ausbildungsbörse, die IHK, Handwerkskammer und die Bundesagentur für Arbeit traditionell Mitte September für junge Menschen veranstalten, die im laufenden Jahr nicht untergekommen sind. 5820 junge Berlinerinnen und Berliner wurden zu dieser Börse 2018 eingeladen, aber nur 928 (16 Prozent) davon kamen zu der zweitägigen Veranstaltung. Im Vorjahr waren es noch 20 Prozent aller Eingeladenen gewesen. […]

Die Kammer sieht mittlerweile ein Motivationsproblem bei dieser Generation. So hatte sie bereits im Sommer 2018 ihre Mitgliedsbetriebe gefragt, welche Mängel sie bei den Schulabgängern feststellen. Ergebnis: Nur 10,9 Prozent erklärten sich rundum zufrieden mit den Bewerberinnen und Bewerbern. Eine relativ kleine Minderheit der Betriebe (13,2 Prozent) hält sie für nicht ausreichend teamfähig. Ein schon deutlich größeres Problem: Für 31,9 Prozent, also fast jedem dritten Ausbildungsbetrieb, mangelt es demnach an Interesse und Aufgeschlossenheit, und 40,5 Prozent der Ausbilder stören sich an schlechten Umgangsformen. […] Dass aber 48,4 Prozent der Unternehmen bei dieser repräsentativen Umfrage angaben, dass Bewerberinnen und Bewerber elementare Rechenfertigkeiten nicht genügend beherrschen, fällt wohl auch auf das aktuelle Berliner Schulsystem zurück. Mangelnde Disziplin bemängelten 52,6 Prozent der örtlichen Betriebe, und für 59,5 Prozent hapert es beim mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögen.

Aus: https://www.ihk-berlin.de/politische-positionen-und-statistiken_channel/ZahlenundFakten/Statistik_und_Umfragen/ausbildungsumfrage/2261698

An der Spitze dieser Berliner Azubi-Mängel-Liste: 65,5 Prozent, also fast zwei von drei Ausbildungsbetrieben, beobachten einen Mangel an Leistungsbereitschaft und Motivation bei den Bewerbern und praktisch ebenso viele (65,8 Prozent) sehen Mängel bei der Belastbarkeit. Eine Folge: Rund ein Drittel der Berliner Ausbildungsbetriebe müsse ihren Azubis derzeit Nachhilfe in Deutsch und Mathematik vermitteln, sagte Kramm.

Doch fast jedes Phänomen hat mindestens zwei Seiten: Insgesamt kann man kaum von einer Faulpelz-Generation sprechen. So ergab zum Beispiel eine vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) im Dezember 2018 vorgestellte Studie, dass rund ein Drittel der Auszubildenden in Berlin und Brandenburg regelmäßig Überstunden leistet.

Zum Artikel: https://www.tagesspiegel.de/berlin/auszubildende-ihk-diagnostiziert-massives-motivationsproblem-in-berlin/23922280.html


„Viele verschwinden im Nirwana“

Bernd Becking, Chef der regionalen Arbeitsagentur, im Interview mit Marie Rövekamp, über verlorene Jugendliche.

Tagesspiegel, 02.03.2019, Marie Rövekamp
Herr Becking, nirgendwo sonst gibt es so viele jugendliche Arbeitslose wie in Berlin. Warum?

Die Quote ist unter den 15- bis 20-Jährigen besonders hoch, also beim Übergang von der Schule in den Beruf. Bundesweit sind in dem Alter 3,1 Prozent ohne Arbeit oder Ausbildungsvertrag. Hier ist es mehr als jeder Zehnte! Da Bildung das Top-Thema für Chancengerechtigkeit ist, müssen die Schulen besser werden. Da, wo Bundesländer bei Vergleichstests der Schulen gut abschneiden, ist die Jugendarbeitslosigkeit niedriger und andersherum. Dass es in Berlin heikle soziale Milieus gibt, lasse ich als Ausrede nicht mehr gelten. Dies hieße, die jungen Menschen abzuschreiben.

Welche Milieus meinen Sie?

Neukölln, Mitte und Marzahn-Hellersdorf sind die drei schwierigsten Bezirke. An manchen Schulen macht dort jeder Vierte keinen Abschluss. Noch eine Zahl, die erschreckt: Von 27.000 Jugendlichen gehen in Berlin nur 3000 direkt nach der Schule in eine betriebliche Lehre. Der Rest besucht weiter die Schule oder muss erst mal ins Übergangssystem. Es braucht besseren Unterricht, intensivere Betreuung und eine hochwertigere Berufs- und Studienorientierung. Sonst kriegen wir die Probleme nicht in den Griff.

Weil die Jugendlichen sonst zu Hartz-IV-Beziehern werden.

Bildungsarmut in frühen Jahren führt in einen Teufelskreis: prekäre Jobs, Langzeitarbeitslosigkeit, Altersarmut. Was anfangs versäumt wird, zieht sich durch das gesamte Leben. Das sollten wir auch bei der Diskussion darüber im Blick haben, wie wir Extremismus und Clan-Kriminalität bekämpfen wollen. […]

zum Interview mit Bernd Becking


Rückblick

Im Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie ist der bereits zehn Jahre vorliegende Beschluss aus dem Jahre 2009 des Berliner Abgeordnetenhauses zur Schulstrukturreform nachzulesen: – Alle Kinder und Jugendlichen sollen zu höchstmöglichen schulischen Erfolgen und die übergroße Mehrheit zum mittleren Schulabschluss [MSA] am Ende der 10. Jahrgangsstufe geführt werden. – Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, sollen sich deutlich verringern (BERLIN-Studie, S. 470). Die Verfasser der BERLIN-Studie konstatieren: 

„Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems“ (S. 483).

Die Bildungsverwaltung bestreitet jedoch einen Niveauverlust und kommt zu der euphemistischen Feststellung: „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet“. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. [siehe auch: Bildungsziel verfehlt]