Archiv der Kategorie: Bildungspolitik

Buchvorstellung

Rüdiger Maas: Er ist Generationsforscher und Gründer des Instituts für Generationenforschung. Maas hat Psychologie und Philosophie in Deutschland und Japan studiert. Seit 2012 erforscht und analysiert Maas mit seinem Team gesellschaftlich relevante Themen.

Eliane Perret: Sie ist ausgebildete Sonderklassenlehrerin und studierte Psychologin. Nach dem Studium promovierte sie im Bereich der Sonderpädagogik. 1992 eröffnete Perret mit Kollegen einer Praxisgemeinschaft eine Tagessonderschule, an der sie seit 2020 in reduziertem Rahmen tätig ist, während sie zusätzlich publiziert.

Es ist nicht immer einfach, mit Kindern über die Geschehnisse in der Welt zu sprechen – vor allem, wenn es um Themen wie Krieg oder Katastrophen geht. Doch sind genau bei diesen Themen sachliche und aufklärende Gespräche zwischen Erwachsenen und Kindern unentbehrlich. Welche Schwierigkeiten genau bei solchen Gesprächen auf Erziehungsberechtigte, Lehrer und Pädagogen zukommen und was es zu beachten gilt, erläutern Rüdiger Maas und Dr. Eliane Perret in ihrem Ratgeber „Wie ich mit Kindern über Krieg und andere Katastrophen spreche“. In diesem Buch werden neben fundiertem Hintergrundwissen zur kindlichen Verarbeitung von Kriegen und Krisen auch hilfreiche Tipps und Methoden an die Hand gegeben, wie Erwachsene diese doch sehr schwierigen und belastenden Themen sachlich und altersentsprechend für Kinder aufbereiten können. Das theoretische Wissen wird unterstützt durch viele anschauliche Beispiele aus der Berufspraxis.

Beitrag von Eliane Perret in der nzz

Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen

Frankfurt am Main, 22.11.2023: Über 40 führende Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen fordern zusammen mit Kinder- und Jugendärzten von den Kultusminister:innen der Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen.

Unter den Erstunterzeichnern sind führende Experten wie der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Universität Augsburg), die Mediziner Prof. Manfred Spitzer (Universitätsklinik Ulm) und Prof. Thomas Fuchs (Jaspers-Lehrstuhl Universität Heidelberg) sowie der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg).

„Wir fordern die Kultusminister:innen aller 16 Bundesländer auf, bei der Digitalisierung an Schulen und Kitas ein Moratorium zu erlassen“, sagt Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Aufrufs. „Die wissenschaftliche Erkenntnis ist inzwischen, dass Unterricht mit Tablets und Laptops die Kinder bis zur 6. Klasse nicht schlauer, sondern dümmer macht. Hinzu kommen laut Studien negative gesundheitliche, psychische und soziale Wirkungen durch den vermehrten Einsatz digitaler Geräte im Unterricht. Jetzt ist der Zeitpunkt, dass die Schulpolitik auf die Pädagogen und Kinderärzte dieses Landes hört und den Versuch des digitalen Unterrichts abbricht! In Schweden ist es bereits so weit: Die schwedische Bildungsministerin stoppte den Tablet-Einsatz in der Primarstufe. Das können die Kultusminister:innen in den Ländern nun auch tun.“

Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch die schwedische Regierung korrigierte 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professor:innen des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung von Schulen in einem Gutachten als falsch kritisierte: Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die behaupteten positiven Befunde nicht belegbar seien. Die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe. Die Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: „Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen“ (Gutachten des Karolinska-Instituts von 2023, einer der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt).

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) hat 2023 Leitlinien zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend herausgegeben, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie von vielen Fachverbänden aus Medizin, Psychologie und Suchtprävention mitgetragen werden. Die wichtigste Empfehlung für alle Altersstufen: Reduktion der Bildschirmzeiten, keine eigenen Geräte für Kinder und keinen unkontrollierten, unbegleiteten Zugang zum Internet.

Der U.S. Surgeon General (oberste Gesundheitsbehörde in den USA) hat 2023 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Sie zeigt detailliert auf, wie stark junge Menschen von digitalen Medien beeinflusst und abhängig werden. Die immer längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter habe Folgen für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Körperunzufriedenheit, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Depression.

Kontakt für Rückfragen: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Redaktionsleitung Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
ralf.lankau@bildung-wissen.eu

Der Moratoriumsaufruf in voller Länge und mit allen Erstunterzeichnern

Buchbesprechung

Bingen, Dr. Burkard Chwalek

Nils B. Schulz (S.), promovierter Germanist und Lehrer für Deutsch und Philosophie an einem Berliner Gymnasium, seit vielen Jahren publizistisch insbesondere zu bildungspolitischen Fragen tätig, hat ein mutiges Buch geschrieben. Mutig v. a. deshalb, weil sein Verfasser zentrale Fragen des gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurses gegen die herrschende Tendenz aufnimmt und aspektreich (und schon das ist angesichts so mancher Engführungen gegen den Strich gebürstet) diskutiert. Hierzu zählen in seiner Darstellung die machtvoll vorangetriebene Digitalisierung, der Digital Turn, die Rolle des Change Managements bei der Umsteuerung des Schul- bzw. Bildungswesens unter neoliberalen Vorzeichen, die Umdefinition der Lehrkräfte zu Lernbegleitern oder Coaches, …

… die zunehmenden Einflussnahmen der EdTechindustrie auf die Schulen, die Kompetenzierung von Unterricht und computergestützte Standardisierung der Leistungsüberprüfungen oft in der Form von Massentests, die fortschreitende Niveauabsenkung – um nur einiges zu nennen. Mutig ist ein solches Buch aber auch deshalb, weil es im aktuellen Diskussionsklima sich von vornherein dem Verdacht der Fortschrittsverweigerung und Rückwärtsgewandtheit ausgesetzt sieht und mit einer freundlichen Aufnahme in weiten Kreisen nicht unbedingt rechnen darf, eher schon mit ablehnender Haltung, aus der heraus Kritik häufig als Innovationsbremse diskreditiert, aber nicht in ihrer emanzipatorischen Kraft wahrgenommen wird. Zudem erwecke dezidiert vorgetragene, klar konturierte Positionierung in die vorfindlichen Verhältnisse destabiliserender Absicht leicht den Eindruck der Hybris, mit der von der Warte höherer Einsicht aus auf die Situation (herab)geblickt werde. Auch lasse sich nie ganz der Dialektik von Aufwertung des In-Frage-Gestellten entkommen, indem man es ernst nimmt, der Auseinandersetzung für wert erachtet. Nicht zuletzt sehen sich kritische Einlassungen der Gefahr ungerechtfertigter Vereinnahmug und politischer Instrumentalisierung ausgesetzt durch Gruppierungen, mit denen ihr Verfasser nichts gemein hat.

Ungeachtet dessen oder gerade deswegen muss man für das schmale Buch eine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen, wie etwas ausführlicher begründet werden soll.

S. ist ein in besonderem Maße geeigneter Kritiker der dominanten Kompetenz- und Digitalisierungsagenda, weil er philosophische Belesenheit und theoretische Erschließungskraft mit langjähriger praktischer Erfahrung in der Schule verbindet, was ihn von zahlreichen Stimmen unterscheidet und vor ihnen in der Tat auszeichnet, sofern man in aus Praxis gewonnenen Einsichten ein Qualitätsmerkmal zu erblicken vermag.

Für sein Vorhaben hat er die Form des Essays gewählt, was zu einer bisweilen losen, nicht streng didaktisierten Gedankenfolge, gerade dadurch aber zu flüssiger Lesbarkeit führt, die die Lektüre bei allem Anspruch zu einem Vergnügen macht.

Adressiert ist der Essay explizit „nicht nur an Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch an Studierende und Eltern, die an Fragen des Digital Turn im Bildungssystem interessiert sind.“ (11) Darüber hinaus wünscht man sich für  seine Lektüre auch die in der Bildungspolitik und den Bildungsverwaltungen Tätigen. Reflexive Distanz zum eigenen Tun ist immer ein Gewinn.

Seine Bestandsaufname der derzeitigen bildungspolitischen Debatten und Implementierung ihrer Zielvorgaben wie auch Perspektiven aus deren Verengungen entfaltet S. in fünf Kapiteln.

Das erste Kapitel formuliert ausgehend von der anschaulichen Szenerie eines alten Fotos, das die Bedeutung des Zeigens für Vermittlungsprozesse ansichtig macht, die zentrale These, „dass junge Menschen in schulischen Lernsituationen Sachthemen am besten von älteren Menschen lernen – und zwar in leiblicher Präsenz.“ (19) Solche Formen des Unterrichtens, die auf dem „analogen“, persönlichen, situativen Miteinander von Unterrichtenden und Schülerinnen und Schülern aufruht, werden – so die Analyse – durch vielfältige Entwicklungen unterlaufen. Diskutiert werden u. a. das Misstrauen gegen Lehrkräfte, das sich in immer neuen Formen der Kontrolle zur Geltung bringt (dazu auch Kapitel 5), die Umformung der Lehrkräfte zu Coaches, die ihren Einfluss in Lern- und Bildungsprozessen zunehmend in den Hintergrund rückt, allerlei Arten von Schein- bzw. Halbpartizipation (S. spricht von „Simulakrum“, „einer simulierten schulischen Welt“, 22, „Teilhabesimulakren“, 28), Psychotechniken des Change Managements, das die Schulen erobert hat, die in technizistische Terminologie gekleidete Kompetenzierung und die mit ihr einhergehende Fragmentierung des Lernens – alles, überdies von zahlreichen Widersprüchen gekennzeichnete, Entwicklungen, die das Entstehen einer gemeinsamen Welt (Hannah Arendt) und authentischer Bildungsprozesse unterlaufen.

Den kaum zu bestreitenden Anteil der Digitalisierung der Schulen an dieser Entfremdung beleuchtet S. in mehreren Dimensionen; ein Schwerpunkt liegt auf der Problematik der Reduktion unmittelbarer, leiblicher Erfahrung.

Das zweite Kapitel stellt in meinen Augen das Glanzstück des Buches dar. Scharfsinnig und mit geschultem analytischen Blick des Philologen und Hermeneutikers untersucht S.  die Sprache der Positionspapiere zur Digitalsierungsstrategie vorrangig der Kultusministerkonferenz und der ins Leben gerufenen Ständigen wissenschaftlichen Kommission (SWK).

Er charakterisiert diese als Kitsch, kitschig (z. B. 42), wenn man darunter die Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Ausdrücke und Bilder versteht. Nahezu inhaltsleere Termini und Phrasen in überbordendem Nominalstil überführten Reste erziehungswissenschaftlicher Begrifflichkeit in ein technizistisches Sprachuniversum, das sich im Verein mit dem imperativischen Duktus gegen Einsprüche abschotte und Alternativlosigkeit suggeriere. Der blanke Widerspruch zur Verheißung von Individualisierung, Selbstbestimmung, Emanzipation und dgl. scheint nicht einmal mehr aufzufallen. In Anlehnung an Adorno (Erziehung zur Mündigkeit) wird der Verdinglichungscharakter der kalten Sprache der Digitalität akzentuiert. Man spürt die Nähe der Argumentation zur Kritischen Theorie.

Das dritte Kapitel thematisiert mögliche und tatsächliche Abwehrmechanismen im Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Top-down-Durchsetzungsstrategien und Konfliktlinien im Digitalisierungsprozess und der Umsteuerung des Bildungssystems auch im Kontext des stärker werdenden Einfluss von EdTechunternehmen und Lobbyisten („bildungsindustrielles Netzwerk“, 75), deren Werbestrategien sich kaum von der Sprache der Bildungspolitik unterscheide.

Das vierte Kapitel ist den „Paradoxien der Digitalisierung“ (85) gewidmet und gibt Hinweise zur Entwicklung von Anwendungskompetenzen hin zur Medienmündigkeit (mit Berufung auf Paula Bleckmann). Mit bestechender Klarheit präpariert S. die inhärenten Widersprüche heraus, wenn man ein kritisch-reflexives Verhältnis zu Digitalisierungsprozessen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler durch Kompetenzierung anbahnen oder gar erreichen will. Auch werden viel zu vernachlässigte Themen wie Gesundheits-, Natur- und Umwelt- und Datenschutz thematisiert. S. leitet daraus die Forderung nach einem Fach „Medientheorie“ ab (während er gegenüber einem verpflichtenden Fach Informatik für alle gegenüber zurückhaltend ist), für das er selbst bemerkenswerte Impulse gegeben hat. Instruktiv sind die Einblicke in seine eigene unterrichtliche Erprobung an seiner Schule.

Das fünfte Kapitel zeigt Perspektiven aus der brüchig gewordenen Verfugung und Dominanz von neoliberalen Steuerungsphantasien, Kompetenzierung, Standardisierung und mit Unterstützung vieler EdTechkonzerne forcierter Digitalisierung. Während bislang die kritische Perspektive im Vordergrund stand, rückt nun der zweite Begriff des Titels, Verantwortung, in den Fokus. Es ist ein engagiertes Eintreten – weg von der Funktion des Classroom Managers – für die Lehrerpersönlichkeit, die Verantwortung trägt zuvörderst für die anvertrauten jungen Menschen, aber auch die Inhalte und die die aktuellen bildungspolitischen Prozesse in bester aufklärerischer Tradition (Kant) mit reflexiver Distanz begleitet und die Rolle einer Lehrkraft einnimmt, die sich ihrer Bedeutung für ihre Lernwirksamkeit, wie sie z. B. Hattie eindrucksvoll empirisch belegt hat, bewusst ist und sie gegebenenfalls auch antikonformistisch ausfüllt. Die Formel dafür lautet: neo-existenzialistische Pädagogik. Sie verbindet das Wahrnehmen und Fördern der Person als Ganzes in ihrem Werden mit den Erkenntnissen der „didaktisch-methodische[n] Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung“ (131).

Die Tonlage des Essays vorzüglich treffend, ist S. über die kritische Bestandsaufnahme hinaus ein kenntnisreiches Plädoyer für eine Bildung gelungen, die sich ihrem Anspruch verpflichtet sieht. Dazu wünscht man ihm nicht nur zahlreiche Leserinnen und Leser bei (zukünftigen) Lehrkräften und Eltern, sondern auch in der Bildungspolitik und den Bildungsadministrationen mit Offenheit auch gegenüber Gedanken, die sich gegenwärtig leitenden Trends als sperrig erweisen.

Nils B. Schulz: Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik, Claudius Verlag München 2023 (ISBN 978-3-532-62887-4)

Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Manfred Fischer, Berlin, 1.5.2023

Der folgende Beitrag nimmt den gescheiterten Bildungsgipfel zum Anlass, insbesondere den beachtlichen Einfluss der sogenannten Bildungsstiftungen auf die Politik kritisch zu kommentieren und die Frage zu verfolgen, welchen Interessengruppen dadurch das Wohl der Schülerinnen und Schüler anvertraut wird. 

Die Sozialpartner DGB und BDA schrieben in einer gemeinsamen Stellungnahme am 13.03.2023: „Von der `Bildungsrepublik Deutschland´, die bereits 2008 von der Bundeskanzlerin und den Ländern ausgerufen worden ist, sind wir 15 Jahre später immer noch meilenweit entfernt.“

Die damals gesteckten Ziele beim Bildungsgipfel vom 22.10.2008 wurden bis heute allesamt „deutlich verfehlt“: Halbierung der Anzahl der Schulabgänger ohne „Hauptschulabschluss“ von 8 Prozent auf 4 Prozent, Halbierung der Zahl der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung von 17,0 Prozent auf 8,5 Prozent sowie die Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Jedoch das Ziel, „die Studienanfängerquote im Bundesdurchschnitt auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu steigern“ war bereits 2008, im Jahr des Bildungsgipfels, mit 40,3 Prozent erreicht. Diese Quote wurde in den Folgejahren von Jahr zu Jahr deutlicher übertroffen. Jedoch nicht nur für Berlin gilt: Die wundersame Leistungssteigerung wurde durch Niveausenkung erkauft! Deutlich wird dies auch durch die hohen Studienabbruchquoten von bis zu 50 Prozent in den Naturwissenschaften.

„Reformprozesses im Bildungswesen“ nach den Vorgaben der „Bildungs“-Stiftungen

Wie aus einer Pressemitteilung vom 14.03.2023 zu entnehmen ist, appelliert ein „breiter Kreis aus [17] Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften an den Bundeskanzler und die Regierungschef:innen der Länder, mit einem Nationalen Bildungsgipfel einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten.“ Die Initiatoren des Appells waren die Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Karg-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland sowie die Wübben Stiftung. [1] Die Akteure sind meinungsstarke und kapitalkräftige Stiftungen, deren Aktivitäten Christian Füller im „Tagesspiegel“ so überschreibt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“.

Betrachtet man die mit den Stiftungen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer, entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel“. Die Stiftungen öffnen durch ihre Medienpräsenz und die sich wiederholenden „Botschaften“, „öffentlichkeitswirksamen Studien“ und „Handlungsempfehlungen“ sowie durch das „Anprangern von Missständen“ die Türen für das milliardenschwere Bildungs- und Testgeschäft der Unternehmen. In den „technologiebasierten Innovationen“ für Lernen, Unterricht und Schule, die Technologien wie „Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics“ nutzen, liegt nicht, wie die Akteure behaupten, verheißungsvoll die Lösung, sondern oft das Problem! Der Einsatz dieser Technologien soll das Bildungssystem „revolutionieren“.

Von den Stiftungen wird vordergründig und vermeintlich selbstlos in ihren „Botschaften“ hervorgehoben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen, und den Lehr- und Fachkräften im Bildungsbereich wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Es geht jedoch den Stiftungs-Akteuren darum, die „digitalen Bildungskonzepte“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Kitas und Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion.

Euphemistisch schreiben die Initiatoren in ihrem Appell, dass auf dem von ihnen eingeforderten „Nationalen Bildungsgipfel“ neben dem Bundeskanzler „alle relevanten Akteure“ vertreten sein sollen. Festzuhalten ist: Nur ein ergebnisoffener Dialog auf Augenhöhe, ohne interessenbezogene Auswahl von Experten und Teilnehmern könnte zielführend sein. Jedoch eine entgegengesetzte, verschleiernde Vorgehensweise wurde z.B. bei der Trend-Studie „KI@Schule“ im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung praktiziert. Dort wurde die Auswahl der Experten und Teilnehmer mit dem Auftraggeber abgestimmt! [2] Auch ein Austausch in „gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“ wäre zu begrüßen, doch die Akteure haben schon längst die Steuerung des „Reformprozesses“ im Bildungsbereich übernommen! Deutlich wird dies auch in einem Interview im „Tagesspiegel“. Beim geforderten Nationalen Bildungsgipfel setzt der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung Thomas de Maizière nur auf eine „öffentliche Begleitung“ und darauf, dass man sich „informell miteinander“ austauscht. [3]

Die Akteure schreiben auf der website des „Forum Bildung Digitalisierung“, einem Netzwerk, in dem die meisten Initiatoren des Appells vereint sind: „Auf politischer Ebene war insbesondere die Übernahme zahlreicher Positionen des Forums in der ergänzenden Empfehlung `Lehren und Lernen´ zur Strategie `Bildung in der digitalen Welt´ der Kultusministerkonferenz (KMK) ein großer Erfolg.“ [4] Um die Quellen zu verschleiern, macht die KMK in ihrem Bericht [5] keine Angaben zu den Autoren! So ist auch in dem oben genannten Interview nicht verwunderlich, dass der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung von Lob und Anerkennung gegenüber der KMK spricht, da sich die KMK durch „externe Beratung“ selbst auf den „Prüfstand“ stelle.

Der geforderte „grundlegende Reformprozess im Bildungswesen“ ist von den Stiftungen längst vorformuliert, ein „Neustart in der Bildung“ durch eine „digitale Transformation und systemische Veränderungen im Bildungsbereich“ längst beschlossene Sache. Die Frage stellt sich: Wem nutzt es?

Von der Bedeutung im Bildungsprozess von „sinnstiftendem Lernen in tragfähigen Beziehungen“, „wirklichen Lernzeiten in der Klassengemeinschaft“, der „Weltdeutung der Kinder und ihrer Familien“ [6] sowie über den Erwerb der Fähigkeiten wie Anstrengungsbereitschaft, Konzentration, Kreativität, Mitgefühl ist keine Rede. Dies sind aber die Grundlagen auf dem Weg hin zu einer wirklichen Bildung. Den positiv besetzten Begriff „Bildung“ nutzen die Akteure 32mal in dem zweiseitigen Appell. Das kann vordergründig beeindrucken, eine inhaltliche Auseinandersetzung wird jedoch vermieden! Die „Bildungs“-Stiftungen sind auch hier Meister im Verschleiern ihrer wirklichen Absichten – denn „Bildung“ ist ihr Geschäft.

Bei den bildungspolitisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ist „keine Ernsthaftigkeit bei der Problemlösung“ in Schule und Bildung zu erkennen, bemerkt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz. Einige verlieren sich in „persönlichen Profilierungsversuchen“, so die zum Bildungsgipfel noch amtierende KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse. Sie alle werden ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht gerecht! Das Wohl der Kinder, der Schülerinnen und Schüler, der Lehr- und Fachkräfte haben sie seit Jahren allesamt aus dem Auge verloren. Den Verheißungen und den ökonomischen Vorstellungen der „Bildungs“-Stiftungen oder deren Protagonisten jedoch jetzt blind zu folgen, ist nicht die Lösung! Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen und nicht um die Umsetzung der Interessen der international agierenden Education Technology-Unternehmen.


[1] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52.

[2] Siehe dazu die Kurzfassung der Studie: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[3] TSP, 24.04.2023, Interview mit Thomas de Maizière: „Es ist höchste Zeit, das Bildungssystem zu ändern“ von Susanne Vieth-Entus und Tilmann Warnecke.

[4] Siehe dazu eine Kurzfassung: Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

[5] https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09-Lehren-und-Lernen-Digi.pdf

[6] Siehe dazu: FAZ, 13.04.2023, „Messen macht noch keine Bildung“ oder „Offener Brief von Bildungswissenschaftler:innen und Fachdidaktiker:innen an die KMK gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses“

Den ausführlichen Bericht „Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ in der PDF-Datei

Bildung ist das, was uns innerlich hält

Die „Bilder von Bildung“ des Wuppertaler Kunstpädagogen Jochen Krautz entdecken das „überzeitlich Pädagogische“

von Nils B. Schulz

Seit einigen Jahren öffnet sich die gegenwärtige Pädagogik wieder für existenzphilosophische Ansätze. Der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart sprach kürzlich sogar von einer neo-existentialistischen Wiederentdeckung des Lehrers. Man kann die Betonung der Wichtigkeit leiblicher Lehrerpräsenz sicherlich als kritische Reaktion auf die jüngsten Digitalisierungsimperative deuten. Und so hat auch das neue im Claudius Verlag erschienene Buch des Wuppertaler Pädagogen Jochen Krautz einen existentiellen Zug. Es trägt den Titel „Bilder von Bildung“ und beginnt mit einer persönlichen Vorbemerkung: Nachdem im Juli 2021 das Hochwasser aus Krautz‘ Arbeitszimmer abgeflossen war, fiel ihm nämlich bei den Aufräumarbeiten das Buch „Krise und neuer Anfang“ des existenzphilosophischen Pädagogen Otto Friedrich Bollnow entgegen. Der Buchtitel markiert dann gleich das Thema. Denn für Krautz ist es „weitläufiger Konsens, dass sich schulische Bildung und pädagogisches Denken in einer Krise befinden“. Ihm geht es zum einen im Rekurs auf Bollnow darum, die „verschütteten Gründe“ der Pädagogik freizulegen; zum anderen aber möchte er in Anspielung auf seine „Arbeit nach der Flut“ zum „pädagogischen Anpacken“ ermutigen. Das heißt: nicht nur der allgemeinen Krise zu begegnen, die sich hinter einem auf Dauer gestellten Bildungsreformwahn verbirgt, sondern auch einer besonderen, nämlich der Corona-Krise und den Folgen der Schul-Lockdowns.

Die Frage nach den „tragenden Gründen“ pädagogischen Handelns zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch; und ähnlich wie zuletzt der Schweizer Pädagoge Carl Bossard sucht Krautz zeitunabhängige „pädagogische Konstanten“, welche die Bildungspolitik aus den Augen verloren hat und die es wiederzugewinnen gilt. Deswegen trägt das Buch als weiteren Hinweis auf Bollnow den Untertitel „Für eine Renaissance der Schule“.

Die persönliche Vorbemerkung ist neben einem Foto platziert, das den Buchfund zeigt; und diesem doppelseitigen Nebeneinander von Bild und Text folgen nun die „Bilder von Bildung“ über knapp 140 Seiten. Gemälde, Skizzen, Fotos auf der linken Seite, Kommentare, Zitate, Reflexionen – zuweilen aphoristisch – auf der gegenüberliegenden. Die Kompositionsidee entsprang einem Seminarkonzept: Um Studentinnen und Studenten der Kunstpädagogik an pädagogische Grundgedanken heranzuführen, sie mit pädagogischen Situationen zu konfrontieren, die sie vielleicht aus ihrer eigenen Schulzeit gar nicht mehr kennen, benutzte Krautz Bilder und Fotos als Ausgangsmaterial für das gemeinsame Nachdenken. Das Buch fordert den Leser nicht nur durch Fragen am Ende mancher Texte zum Mit- und Weiterdenken auf, sondern verführt ihn dazu, selbstständig eigene Bild-Text-Reihen zu imaginieren, das Buch gleichsam fortzuschreiben. Der Aufbau folgt dem Prinzip der losen Reihung, ist aber nicht unsystematisch. Genuin pädagogischen Begriffen und Themen wie „Bildung“ oder „Liebe zur Sache“ folgen Überschriften wie „Üben“, „Lesen“, „Konzentration“ bis hin zu aktuellen Fragen nach „Bildungsgerechtigkeit“ und „Inklusion“. Auch sind die Textseiten gleichsam rhizomartig miteinander verbunden, so dass zentrale Gedanken immer wieder neu kontextualisiert werden; dabei bleiben Redundanzen nicht aus, sind vielleicht sogar intendiert.

Bestimmt ist das Buch von einer Positivanthropologie, das den Menschen im Anschluss an die jüngsten Forschungen des US-amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello als ein soziales und kommunikatives Wesen fasst, dessen besonderes Charakteristikum es ist, dass es seine Lebenswelt als einen Raum geteilter Aufmerksamkeit begreift und gestaltet – für Krautz die Grundlage gelingenden Unterrichts. Das Gravitationszentrum des pädagogischen Bilder-Buchs ist der aufklärerische Gedanke, dass es die Aufgabe der Lehrenden ist, Schülerinnen und Schüler zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und dass dies ein dialektischer Prozess ist. Das Freigeben ins Offene, so Krautz, setzt pädagogische Bindung voraus. Aus der Sicht des Schülers formuliert: sich leiten lassen zur Selbstbestimmung. Diesen Gedanken illustriert ein Bild von Norbert Schwontkowski aus dem Jahr 2010, das betitelt ist mit „Der Lehrer“, auf dem eine stehende Figur einer schwebenden die Hand reicht, konzentriert und zugewandt; doch gerade die zentrale Stelle der Handreichung ist so gestaltet, dass sie nicht genau erkennbar ist. Diese Unschärfe deutet Krautz als einen Verweis auf eine ebenso „kunstvoll auszutarierende pädagogische Beziehung“. An anderer Stelle spricht der Autor in Anlehnung an Johann Friedrich Herbart von „pädagogischem Takt“. Dieser Takt ist ein Feingefühl dafür, „welcher ‚Zwang‘ die Entwicklung verantwortlicher Freiheit ermöglicht und welcher sie verhindert“. So wird der Leser en passant mit Gedanken älterer Pädagogen wie Herbart, Comenius oder Pestalozzi bekannt gemacht, dem auch das Foto auf dem Cover des Buches gewidmet ist: „Pestalozzi in Stans“. Das Bild stammt von dem Schweizer Maler Albert Anker und zeigt Pestalozzi mit einem Waisenkind auf dem Arm, umgeben von zwei weiteren Kindern. Im Buch ist diesem Bild der Text „Pädagogische Liebe“ zugeordnet. Die „gefühlsmäßig positive innere Haltung“ gegenüber dem „anderen als sorgebedürftigem Mitgeschöpf“ stellt genau das dar, was Krautz als einen „tragenden Grund“ der Pädagogik ansieht und den gerade der gegenwärtige Professionalisierungsdiskurs und die technokratische Testindustrie zum Verschwinden bringen. Eindimensionale technische Rationalität und zunehmende analytische Distanz dürfen nicht die Reaktion auf das Bekanntwerden der schrecklichen Übergriffe in der Odenwaldschule oder im Berliner Canisius-Kolleg sein; dabei wird der Leser der „Bilder“ prüfen müssen, ob für ihn der begriffliche Rekurs auf den pädagogischen Liebes-Begriff „trägt“ oder ob er nicht selbst eher von Zugewandtheit oder Aufmerksamkeit sprechen möchte. Sowohl das schöpferische Nachdenken über Sprache als auch über ethische Haltungen wird durch solche Einträge unmittelbar erzeugt.

Wie wichtig aufrichtige und authentische Beziehungen von Lehrerinnen und Lehrern zu ihren Schülern sind, hat gerade die Corona-Krise gezeigt. Die traurige Verlorenheit des Schülers vor dem Bildschirm, Video-Konferenzen ohne Blickkontakt und das stupide Erledigen von Aufgaben zeigte ex negativo die Bedeutsamkeit von lebendigen Beziehungen im Klassenraum. Gleichzeitig verweist der Autor unter der Überschrift „Bindung“ aber auch darauf, dass eine gelingende Beziehung sowohl Nähe als auch Ferne braucht – eine weitere Konturierung dessen, was „pädagogischer Takt“ bedeutet. Dem entspricht die wiederholte Warnung vor einer „Helikopter-Erziehung“.

Noch einmal zurück zum Buch-Cover: Ankers Bild aus dem Jahr 1870 ruft die berühmte Pestalozzi-Formel auf, dass Lernen am besten mit „Kopf, Herz und Hand“ geschieht und dass es sich lohnt, zurück in die Geschichte der Pädagogik zu blicken. So stärkt das Buch, das auch künstlerische Schüler-Arbeiten zeigt, all diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, die seit Jahren leiborientierte Formen des konzentrierten Übens nicht aufgegeben haben, weil sie davon überzeugt sind, dass Bildung das ist, was uns – so Krautz – „innerlich hält“. Man würde das pädagogische Bilder-Buch jedoch gründlich missverstehen, wenn man ihm bloße Rückwärtsgewandheit, Nostalgie oder gar Verklärung einer schulischen Vergangenheit vorwürfe, die es nie gegeben hat. Gerade die Auswahl der Bilder von Albert Anker, die uns heute beinahe idyllisch anmuten, versuchten ja im Stile realistischer Malerei ein aufgeklärtes und progressives Bildungsverständnis zu vermitteln. Und genau das gelingt den „Bildern“, die getragen sind vom Prinzip Hoffnung, dem die letzte Doppelseite gewidmet ist – Hoffnung darauf, dass man sich wieder auf das Wesentliche der Pädagogik besinnt, nachdem die Entfremdungsprozeduren permanenter Kompetenzmessung und fetischisierter Digitaltechnik entlarvt sind.

Die Rezension erschien in der Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes (DPhV): Profil 3/2023, S. 40-41, Link: https://www.profil-dphv.de/#magazin

Die Rezension erscheint auf der website Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Jochen Krautz, Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule, Claudius Verlag München 2022

Eine systematische Überprüfung und Metaanalyse der Evidenz zum Lernen während der COVID-19-Pandemie

Kinder verloren etwa ein Drittel des Lernwertes eines normalen Schuljahres. Die Studie wurde Ende Januar 2023 im Online-Fachjournal „Nature Human Behaviour“[1] veröffentlicht.

Um das Ausmaß der Lerndefizite während der Pandemie zu bewerten, sammelte das Forschungsteam Daten aus 42 früheren Studien aus 15 Ländern, die im Zeitraum März 2020 bis August 2022 veröffentlicht wurden.

Die primäre Forschungsfrage des Teams lautete: „Wie wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf den Lernfortschritt von Kindern im Schulalter aus?“ Das zweite Forschungsziel war „Zu untersuchen, ob sich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Lernen in verschiedenen sozialen Hintergrundgruppen, Altersgruppen, Jungen und Mädchen, Lernbereichen oder –fächern und nationalen Kontexten unterscheiden“.[2]

Die Pandemie der Coronavirus-Krankheit hat zu einer der größten Unterbrechungen des Lernens in der Geschichte geführt. Dies ist zu einem großen Teil auf Schulschließungen zurückzuführen, von denen schätzungsweise „95 % der weltweiten Schülerschaft“[3] betroffen waren.

Auswirkungen

Die Metaanalyse legt nahe, dass sich der Lernfortschritt während der COVID-19-Pandemie erheblich verlangsamt hat und dass die Schüler etwa „35 % des Lernwertes eines normalen Schuljahres“[4] verloren haben. Diese Defizite blieben über den untersuchten Zeitraum von etwa 2,5 Jahren konstant.

Die Forschergruppe verwendet den Begriff „Lerndefizit“, um sowohl eine Verzögerung des erwarteten Lernfortschritts als auch den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse zu umfassen. Das in der Pandemie entstandene Lerndefizit wird wahrscheinlich die Lebenschancen von Kindern durch ihre Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten beeinträchtigen. Auf gesellschaftlicher Ebene kann sie wichtige Auswirkungen auf Wachstum, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt haben.

Die Auswirkungen des eingeschränkten Präsenzunterrichts, so das Forscherteam, wurden durch die Folgen der Pandemie für das außerschulische Lernumfeld von Kindern sowie ihre geistige und körperliche Gesundheit verstärkt. Lockdowns haben die Bewegungsfreiheit von Kindern und ihre Fähigkeit, zu spielen, andere Kinder zu treffen und sich an außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, eingeschränkt. Das Wohlergehen der Kinder und die familiären Beziehungen haben auch unter wirtschaftlichen Unsicherheiten und widersprüchlichen Anforderungen an Arbeit, Betreuung und Lernen gelitten. Es ist zu erwarten, dass diese negativen Folgen in schwachen sozioökonomischen Familienverhältnissen am ausgeprägtesten sind und bereits bestehende Bildungsungleichheiten verschärfen.

Die meisten Studien, die das Team untersuchten, stellen fest, dass die Lerndefizite bei Kindern aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen am größten waren. Dies gilt über verschiedene Zeitpunkte während der Pandemie, Länder, Klassenstufen und Lernfächer hinweg und unabhängig davon, wie der sozioökonomische Hintergrund gemessen wird. Es deutet darauf hin, dass die Pandemie Bildungsungleichheiten zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund verschärft hat.

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, bestätigt die Ergebnisse der Metaanalyse: „Je geringer also das Leistungsniveau der Lernenden ist, je jünger die Lernenden sind und je bildungsferner das Milieu der Lernenden sich zeigt, desto negativer sind die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Bildungsprozesse.“[5]

Er wird zu den geschilderten Auswirkungen noch deutlicher und führt zur „Demokratiefähigkeit“ der Gesellschaft weiter aus: „Ein geringes Bildungsniveau in Kombination mit einer vergrößerten Bildungsschere ist der Nährboden für demokratiedestabilisierende Entwicklungen.“[6]

Die Forschergruppe macht darauf aufmerksam, dass weitere Nachweise erforderlich sind, um die Wirksamkeit der verschiedenen bisherigen Interventionen zur Begrenzung oder Behebung von Lerndefiziten, bewerten zu können.

Was also tun?

Zierer schreibt in seinem Beitrag weiter: „Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in der Krise noch das Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog“[7] […]. Er fasst zusammen: „Das Miteinander und das Gemeinschaftliche sind sinnstiftend und die Grundlage für Bildungsprozesse.“[8]

Ralf Lankau, Professor für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie an der HS Offenburg, ergänzt und formuliert zu den Auswirkungen der eklatanten Lernrückständen eine These: „Wenn die Bereitschaft bestünde, ergebnisoffen über die Auswirkungen und Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu sprechen, wäre die erste Konsequenz die Forderung nach einer pädagogischen Wende. Statt Ausrichtung der Schulen an den Forderungen der IT-Wirtschaft und den Parametern der empirischen Bildungsforschung muss wieder das Individuum und seine persönliche Entwicklung in Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen: Persönlichkeitsentwicklung statt Leistungsvermessung.“[9]

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Im Januar 2023 erschien das Buch mit dem Titel: „Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie“, Ralf Lankau (Hrsg.). Die zusammengestellten Beiträge von 16 Vertretern aus Wissenschaft, Schulpraxis und Kinderheilkunde ergeben ein faktenbasiertes und praxistaugliches Fundament für die Frage, was die zentralen Parameter für Schule und gelingenden Unterricht sind.


[1] A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic, Betthäuser, B. A., Bach-Mortensen, A. M. & Engzell, P. Nature Hum. Behav., https://doi.org/10.1038/s41562-022-01506-4
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Zierer, Klaus (2023): Die pädagogische Klimakrise bewältigen. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 225
[6] ebd. S. 225
[7] ebd. S. 225f 
[8] ebd. S. 226
[9] Lankau, Ralf (2023): Lehren aus der Pandemie – Pädagogische Alternativen zur Digitalisierung als De-Humanisierung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 209