Archiv der Kategorie: Ökonomisierung der Bildung

Schule im Dienst der Konzerne?

Fortbildung und Ausstattung in privater Hand


René Scheppler

René Scheppler ist Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule. Mit den studierten Fächern Geschichte und Deutsch.

Sie sind ein wahrer Innovator, vertrauensvoller Berater, leidenschaftlicher Fürsprecher, authentischer Autor und weltweit tätiger Botschafter? Sie wollen Ihren Kolleginnen und Kollegen den Weg zu effektiver Technologienutzung ebnen?

Sie wollen dem Konzern Microsoft helfen, im Bereich Innovationen führend zu sein? Sie wollen Ihre Ideen für die effektive Nutzung der Technologie im Bildungsbereich verfechten und mit Kolleginnen und Kollegen und politischen Entscheidungsträgern teilen?

Sie wollen Einblicke in neue Produkte und Tools zur Verfügung stellen und für Innovationen werben?

Dann können Sie sich bei den Firmen Apple und Microsoft für die Teilnahme an konzernexklusiven Fortbildungsprogrammen für Lehrerinnen und Lehrer bewerben und – nach Auswahl durch den Konzern und erfolgreicher Teilnahme – zum Microsoft Innovative Educator Expert, Apple Distin guished Educator oder – wenn Sie sich besonders „bewähren“ – zum Apple Certified Trainer avancieren (1). Auf Apple Distinguished Educators trifft man vereinzelt auch in den regionalenMedienzentren, die Schulen im Auftrag der Kultusministerienund Schulträger im Bereich Digitalisierung beraten.

Bild: HLZ 1-2/2019, S. 15, Rene‘ Scheppler

Mit diesen Zertifikaten dürfen Sie dann – als Nebentätigkeit – im Dienst der Konzerne Vorträge halten, Fortbildungen anbieten und Schulen beraten – auch wenn „das Führen eines solchen Titels“ nach einer Auskunft des Hessischen Kultusministeriums nach Vorschriften „in § 58 Abs. 2 HBG sowie in § 3 Abs. 15 HSchG nicht gestattet“ ist (2). Dass sich allerdings eine ganze hessische Schule mit dem Titel einer Samsung Lighthouse School schmücken darf, verwundert dann doch. Aber dazu später mehr…

Microsoft Showcase School…

Auch eine andere Entwicklung ist aus den USA inzwischen in Deutschland angekommen, wie die folgende Erfolgsbilanz von Microsoft zur „Übernahme“ ganzer Schulen dokumentiert:

„Für das Schuljahr 2016/2017 hat Microsoft weltweit 4.800 Lehrende und 851 Schulen aus über 100 Ländern nominiert, darunter sind 175 Lehrerinnen und Lehrer sowie 26 Schulen aus Deutschland. Das Gesamtbudget von Microsoft für die weltweite Bildungsinitiative beläuft sich auf 750 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von 15 Jahren (2003 bis 2018).“ (2)

Als Microsoft Showcase School können sich jedoch nur die Schulen bewerben, „die bereits Microsoft Lösungen wie Surface-Tablets, Office 365 Education, Office Mix, OneNote, Skype oder Minecraft“ nutzen. In Hannover gibt es inzwischen die erste staatliche Schule, die sich als Apple Distinguished School bezeichnen kann. Aber auch diese Auszeichnung erfolgt nicht, ohne dass die folgenden von Apple festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind:

„Ein One-to-One Programm mit iPad oder Mac für Schüler und Lehrer ist seit mehr als zwei akademischen Jahren eingerichtet. Alle Schüler an Ihrer Schule nutzen Apple Geräte als primäres Lerngerät. Alle Lehrer an der Schule nutzen Apple Geräte als primäres Unterrichtsgerät. Lehrkräfte integrieren Apple Apps zur Erstellung von Inhalten (Fotos, iMovie, GarageBand, Pages, Keynote, Numbers und iBooks Author), Lernapps aus dem App Store, Bücher aus dem iBooks Store und Lernmaterialien aus iTunes U intensiv in den Lehrplan. Lehrer verfügen über eine hohe Kompetenz beim Verwenden von Apple Produkten. Für Schulen der Primar- und Sekundarstufe in Deutschland müssen vor Ablauf der Bewerbungsfrist 75 Prozent der Lehrer an der Schule als Apple Teacher anerkannt sein.“ (2)

… und die Samsung Lighthouse School

Im südhessischen Rüsselsheim gibt es die erste und bisher einzige deutsche Samsung Lighthouse School, auf die der Kreis Groß-Gerau als Schulträger des Neuen Gymnasiums und Landrat Thomas Will (SPD) besonders stolz sind. „Wir haben viele Leuchttürme im Kreis Groß-Gerau, aber dieser leuchtet besonders hell“, erklärte Will bei der Überreichung der Urkunde durch die Vertreter von Samsung im September 2015.

Deutlich weniger begeistert zeigte sich Landrat Will von einer Anfrage des Autors dieses Artikels, ob er denn bereit sei, den Inhalt und das konkrete Ausmaß der „Kooperation“ transparent zu machen. Der Vertrag sei schließlich nicht vom Schulträger unterzeichnet worden und er sei als Landrat nur bei der Unterzeichnung anwesend gewesen. Auch das Hessische Kultusministerium erklärte sich für nicht zuständig:

„Da die erbetenen Informationen dem Hessischen Kultusministerium nicht vorliegen, kann Ihrem Antrag nicht entsprochen werden.“ (2)

Die Schulleitung des Neuen Gymnasiums verwies auf „ein schutzwürdiges Interesse (…) der Firma Samsung“, die „die entsprechende Information bereits verweigert hat“. Hierzu muss man wissen, dass auch das Land Hessen seit Mai 2018 ein „Informationsfreiheitsgesetz“ hat. Nach § 80 hat jede Bürgerin und jeder Bürger gegenüber Behörden und öffentlichen Dienststellen einen „Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen“, womit „alle amtlichen Zwecken dienenden Aufzeichnungen, unabhängig von der Art ihrer Speicherung“ gemeint sind.

Nach den zugänglichen Zeitungsberichten und Informationen auf der Homepage der Schule finanziert Samsung als Sponsor der Schule die Einrichtung einer „Tablet-Oberstufe“, wobei die Samsung-Tablets „zu einem reduzierten Preis“ in das Eigentum der Schülerinnen und Schüler übergehen.

Auch andere Elemente der Kooperation sind prototypisch:
• Eine wissenschaftliche Begleitung – in diesem Fall durch den Medienpädagogen Professor Dr. Stefan Aufenanger – sorgt für die nötige Seriosität.

• Als Ausdruck der „Gemeinnützigkeit“ dient die Einbettung entsprechender Kooperationen in Wettbewerbe oder gemeinnützige Stiftungen. In diesem Fall fand die Verleihung der Urkunde an das Neue Gymnasium „im Rahmen der Prämierung des Wettbewerbs IDEEN BEWEGEN der von der Samsung Electronics GmbH geförderten Initiative DIGITALE BILDUNG NEU DENKEN“ statt (3).

„In ihrer Offenheit schon fast putzig…“

In anderen Bundesländern sieht man entsprechende Kooperationen offensichtlich distanzierter. Wolf-Jürgen Karle vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft des Landes Rheinland-Pfalz, der das Ansinnen der IT-Konzerne in einem Artikel der WELT 2013 „in ihrer Offenherzigkeit“ als „schon fast putzig“ (4) bezeichnete, verwies auf die Dienstpflichten der Lehrkräfte:

„Für Lehrkräfte im Beamten- wie im Beschäftigtenverhältnis gilt das Neutralitätsgebot. Jede einseitige Unterrichtung und Information ist unzulässig.“

Lehrkräfte, die sich für den bevorzugten oder ausschließlichen Einsatz von Apple-Geräten im Klassenzimmer einsetzten, verstießen „gegen geltendes Recht in Rheinland-Pfalz“.

Das niedersächsische Kultusministerium erklärte auf dieselbe Anfrage der WELT, dass die von Apple angebotenen „Fortbildungsreisen“ gegen die Antikorruptionsrichtlinien verstoßen, „die für alle beim Land beschäftigten Lehrkräfte gelten“.

Und was soll daran schlimm sein?

„Das ist doch weltfremd.“ Mit diesen Worten und dem Hinweis auf das Auslaufen der Kooperationsvereinbarung im Sommer 2018 kommentierte der stellvertretende Schulleiter des Neuen Gymnasiums eine Anfrage der FAZ zur Pressemitteilung der GEW (5). Den „Mehrwert“ aus der Kooperation „möchte man nicht mehr missen“. Und so sehen das mit Sicherheit auch viele Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und Eltern der Schule. Also: Wo ist hier die Gefahr?

In dem Maße, in dem der Staat seine Aufgaben im Rahmen der Lehreraus- und -fortbildung vernachlässigt und sogar an Konzerne mit erkennbaren und formulierten Eigeninteressen zu Gunsten der eigenen Produkte abgibt, verliert er die eigene Expertise in diesem Bereich.

In zahlreichen Bundesländern kann man dies bereits an der erschreckend geringen Zahl von Fortbildungsangeboten staatlicherseits ablesen. So werden beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern wichtige Zukunftsthemen in der digitalen Welt in produktexklusive Fortbildungen ausgelagert.

Werbung in Schulen ist in Hessen ausdrücklich verboten, doch der (neue) § 3 Abs.15 des Hessischen Schulgesetzes zeigt, wo es langgehen kann:

„Schulen dürfen zur Erfüllung ihrer Aufgaben Zuwendungen von Dritten entgegennehmen und auf deren Leistungen in geeigneter Weise hinweisen (Sponsoring), wenn die damit verbundene Werbewirkung begrenzt und überschaubar ist, deutlich hinter den schulischen Nutzen zurücktritt und das Sponsoring mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule vereinbar ist. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter.“

Der Staat vernachlässigt seine Aufgaben

Offensichtlich – und eine andere Lesart ist kaum möglich – ist der Staat nicht mehr in der Lage, den ihm hoheitlich aufgetragenen Verpflichtungen zur vollumfänglichen Finanzierung von Schulen nachzukommen. Auch im Bereich der Lehreraus- und -fortbildung ist man offenbar nicht mehr in der Lage, der Versuchung zu widerstehen, Dritten Zugänge zu gewähren, so dass der Eindruck der Abhängigkeit immer deutlicher wird.

Das Argument, dass sich „die Konzerne nun mal am besten mit der Technik und den eigenen Produkten auskennen“, ist zugleich ein Affront gegenüber den Medienzentren, die trotz viel zu geringer Ausstattung gute Arbeit leisten. Wer sich an derartige Strukturen gewöhnt hat, wird mittelfristig nicht mehr in der Lage sein, sich daraus aus eigener Kraft zu befreien und unabhängig seinen ursprünglichen Aufgaben nachzukommen.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir uns die Frage stellen müssen, wie wir uns aus dieser „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wieder befreien können. Um eine Generation zu erziehen, die den Mut hat, „sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen“, scheint die Etablierung von Apple Distinguished Schools, Microsoft Showcase Schools und Samsung Lighthouse Schools nicht der vielversprechendste Ansatz zu sein.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Artikel in PDF-Format und Website des Autors „BildungsRadar“

Fließbandarbeit in der Lernfabrik

Große Klassen und die „Neue Lernkultur“ industrialisieren den Lehrerberuf.

Von Nils Björn Schulz

Dr. Nils Björn Schulz ist Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in Berlin.

Lehrerinnen und Lehrer sind zu Arbeitern einer hybriden Bildungsindustrie geworden. 50-Stunden-Wochen und Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmen den Berufsalltag vieler Kolleginnen und Kollegen – vor allem an Gymnasien. Die fortschreitende Digitalisierung, die Test- und Evaluationseuphorie und die Kompetenzorientierung der Neuen Lernkultur, wie sie Christoph Türcke in seinem Buch „Lehrerdämmerung“ nennt [siehe Bücherliste], haben innerhalb von knapp fünfzehn Jahren ein ganzes Berufsfeld industrialisiert und die Schule in eine Lernfabrik verwandelt. Das Produktionsziel: höhere Abiturientenquoten bei gleichzeitiger Absenkung des Anspruchsniveaus, wie die jüngsten Studien des Frankfurter Bildungsforschers Hans-Peter Klein zeigen konnten. [Siehe dazu auch für Berlin die Studie von Angela Schwenk und Norbert Kalus, Auswertung der Abiturdaten von 2006 bis 2016.]

Die Niveauabsenkung wird vor allem durch das ständige Gerede über Qualität und Qualitätsmanagment kaschiert. Aber für die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer ist sowieso eine ganz andere Kategorie zentral: die der Quantität. Es ist die schiere Quantität an Klassenarbeiten, Noten, Tests, Evaluationen, Methodentrainings – und die Lautstärke in den Klassenräumen, die erschöpft. An Gymnasien sitzen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einem Klassenraum, in Berlin sind es sogar bis zu 32.

Man kann es ja begrüßen, dass die Disziplinargesellschaft verabschiedet wurde, jedoch hat man deren Raum- und Zeitstruktur beibehalten. Klassenräume und Stundenrhythmen gehören einem Typus an, den Michel Foucault als Einschließungsmilieu bezeichnete. Nur lassen sich Kinder und vor allem pubertierende Jugendliche so nicht mehr disziplinieren.

Aufgrund überbordenden Gebrauchs digitaler Medien völlig dezentriert, können sich viele in den vorgegebenen Strukturen nicht mehr konzentrieren. Die täglichen Mediennutzungszeiten Pubertierender variieren je nach Studie zwischen 5 und 7 Stunden. Es ist laut geworden in den spätmodernen Lernfabriken. Gerade die kooperativen Lernformen, die auf die Dezentrierung reagieren und sie zugleich verstärken, werden schon in der Grundschule eingeübt und lassen je nach Lerngruppe in den Räumen den Lärmpegel bis auf 80 Dezibel ansteigen. Anderen Berufsgruppen wird da Gehörschutz verordnet.

Aber viele Lehrerinnen und Lehrer sprechen nicht offen über dieses Thema, weil sie das Ressentiment fürchten, der Grund für den Lärm sei mangelnde pädagogische Kompetenz. Genauso schreiben sich gegenwärtig viele Eltern ihr Scheitern selbst zu, wenn es darum geht, den Medienkonsum ihrer Kinder zu reglementieren; dabei haben sie schlichtweg keine Chance gegen die Produktentwicklungs- und Werbestrategien großer IT-Konzerne. Es ist ja gerade das Geschäftsmodell vieler Firmen, die Begierden der Nutzer so anzutriggern, dass das Virtuelle ihr Dasein bestimmt oder Smartphones als Quasiorgane ins Körperschema integriert werden. Die Nutzer werden nervös, wenn die Geräte nicht in Reichweite sind.

Dass die Hattie-Studie für kleinere Klassen eine eher niedrige Lerneffektstärke ermittelte, kam den Bildungs- und Finanzministerien sehr zupass: So konnte man die Klassengrößen mit ruhigem pädagogischen Gewissen beibehalten. Jedoch zeigt eine genaue Lektüre von John Hatties Buch „VisibleLearning“ [siehe nebenstehende Bücherliste], dass gerade das Thema „Klassengröße“ unbedingt weiter untersucht werden muss. Hattie weist nämlich selbst darauf hin, dass veränderte Lehrmethoden, anderes Feedback-Verhalten, neue Formen der Interaktion, die nur in kleineren Lerngruppen möglich sind, das Lernen fördern können.

Und viele Lehrerinnen und Lehrer haben die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Methoden – wie beispielsweise das von vielen Oberstufenschülerinnen und -schülern immer noch sehr geschätzte lehrerzentrierte Unterrichtsgespräch – nur in Klassen bis maximal 20 Schülern überhaupt funktionieren.

Große Lerngruppen produzieren quantitativ mehr Arbeit als kleine. Das wäre an sich vielleicht eine lapidare Aussage, wenn sich nicht die Benotungskriterien und – damit eng verbunden – die sogenannte Schreibkompetenz, also die Fähigkeit, lesbare Texte zu schreiben, so gravierend verändert hätten. Oberstufenklausuren mit 10 bis 15 Rechtschreib- und Grammatikfehlern pro Seite sind leider nicht die Ausnahme; und für einige Handschriften benötigt man Werkstattleuchten und Leselupen.

Für Lehrerinnen und Lehrer heißt das aber, dass die Klausurenkorrektur durchschnittlich länger dauert als früher, dass jede Klausur mindestens zwei Mal gelesen werden muss: Zunächst müssen die Orthographie-, Grammatik- und Ausdrucksfehler analysiert und markiert werden, dann die – oft durch die Fehler produzierten – semantischen Unverständlichkeiten.

Aufgefordert, Lehrerarbeitszeiten transparent zu machen, veranschlagt der Berliner Senat 20 bis 25 Minuten Korrekturzeit für eine Oberstufenklausur inklusive der Beurteilung durch ein elektronisches Bewertungsraster. Dieses sogenannte Onlinegutachten hat für bestimmte Klausurformate zum Beispiel im Fach Deutsch 12 Bewertungskriterien parat. Je nachdem benötigt man für die endgültige kriteriengeleitete Beurteilung einer einzigen Klausur über 50 Klicks.

Das ist Fließbandarbeit im digitalen Zeitalter: Erst korrigiert man die Klausur mit der Hand, dann klickt man sich durch die Onlineraster, druckt sie aus, unterschreibt und heftet sie an die Klausuren. Das Arbeitszimmer muss für solche Abläufe optimiert werden. Im Kreis läuft man so oder so … und die veranschlagte Arbeitszeit wird immer überschritten. Weil es nicht zu schaffen ist. Unter 45 Minuten kann man keine Deutsch- oder Philosophie-Klausur korrigieren, wenn man der Schülerarbeit einigermaßen gerecht werden möchte. So sitzt man dann 15 Stunden (oder länger) an der Korrektur eines einzigen Klausurenstapels.

Sind Oberstufenkurse im Allgemeinen kleiner als die der Mittelstufe, so können sich die Mittelstufenlehrerinnen und -lehrer zwar damit trösten, dass die zu korrigierenden Texte nicht so lang sind; aber es sind eben mehr (und meistens enthalten sie mehr Fehler). Schlimm wird es für Kolleginnen und Kollegen, deren Fächer nur zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden. So kann es sein, dass eine Ethik- und Biologielehrerin in der Mittelstufe vier Klassen in beiden Fächern unterrichtet. Geht man davon aus, dass sie pro Halbjahr zwei Lernerfolgskontrollen (LEKs) schreiben lässt, allein um die Zeugnisnote valide abzusichern, so sind das 8 mal 4 mal 30 LEKs, die korrigiert werden müssen. In der Summe: 960 Arbeiten. Geht man von Sekundarschul-Klassen mit 25 Schülern aus, so sind es immer noch 800 LEKs. Stückzahlen, die korrigiert werden müssen.

Da aber jede Vollzeit-Lehrkraft noch weitere 9 oder 10 Stunden unterrichtet, kommen weitere Korrekturbelastungen hinzu. Und damit sind viele andere Arbeiten wie digitale Fehlzeitenverwaltung, das Anfertigen von Abiturentwürfen für das dezentrale Abitur (zum Beispiel im Fach Philosophie) oder vermehrte Prüfungsaufgaben noch gar nicht berührt.

Auch führt die Kompetenzorientierung dazu, dass mittlerweile gerade junge Lehrerinnen und Lehrer digital verwaltete Notenarsenale anlegen; denn die Kompetenzideologie fordert, dass ein Schüler differenziert nach unterschiedlichen Kompetenzen bewertet wird. Erteilt man einem Schüler oder einer Schülerin drei Mal pro Schulhalbjahr jeweils fünf oder sogar mehr Kompetenznoten für die Mitarbeit im Unterricht, so heißt das, dass ein Lehrer mit vollem Stundendeputat – in Berlin sind das 26 Unterrichtsstunden – im ganzen Schuljahr weit über 5000 Noten gibt; unterrichtet er vor allem zweistündige Fächer, so erhöht sich die Zahl schnell auf 6000 bis 7000 Noten pro Schuljahr. Man muss sich solche Zahlen vor Augen führen, um die Absurdität der kompetenzorientierten Benotung zu erkennen.

Als Lehrer ist man gegenwärtig die meiste Zeit am Rechnen, und zwar vor allem mit dem vergeblichen Versuch, seine Arbeitsbelastung zu reduzieren. Denn die Reaktion der Bildungsverwaltungen ist: Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Zeitmanagement verbessern. Es ist die für neoliberale Gesellschaften typische Forderung an das erschöpfte Selbst: Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, musst du deine Abläufe optimieren. Es liegt an dir! Der Zynismus geht mittlerweile so weit, dass Lehrerinnen und Lehrern von externen Evaluationsbehörden empfohlen wird, in ihrer Freizeit, die es ja kaum noch gibt, „Wohlfühlteams“ zu bilden oder Workshops zur „Work-Life-Balance“ zu buchen.

Es mag paradox klingen, dass die so gehypte Neue Lernkultur entfremdete Arbeit und Lärm erzeugt; doch machen eben diese Zustände die technokratisch-metrische Grundstruktur der Kompetenz-Modellierung nun auch für diejenigen sichtbar, die sie bisher fetischisierten. Und auch den neoliberalen Selbstoptimierungsimperativ sollte man als das durchschauen, was er ist: eine Ausbeutungsstrategie. Vor allem aber führt die neue Unterrichtstechnokratie dazu, dass Bildung nur noch unter dem Aspekt der Operationalisierung und Messbarkeit betrachtet wird; deshalb spricht der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann von der „Praxis der Unbildung“ [siehe Bücherliste].

Würden Klassen verkleinert, würde man sich vom Metrisierungswahn, der Output-Orientierung und vom Diktat des kooperativen Lernens abkehren, so würden sich Korrekturpensen, Lärm und Stress enorm verringern; und es gäbe mehr Zeit für schöpferische und zwischenmenschliche pädagogische Aufgaben – vor allem für eigenständige Unterrichtsgestaltung.

Zumindest was den Korrekturaufwand betrifft, produziert die Neue Lernkultur einen – leider sehr zweifelhaften – Kollateralnutzen: Da die Bildungsverwaltungen die Bedeutung von Orthographie und Grammatikfehlern für die Gesamtnote einer Klausur immer weiter marginalisieren, schleicht sich sowieso schon bei manchem Lehrer eine resignative Laxheit ein. Man streicht gar nicht mehr alle Fehler an. Das spart Zeit! – führt aber dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die Fehlerhaftigkeit ihrer Klausuren gar nicht mehr erkennen können. Und viele von ihnen werden später selbst Lehrerinnen und Lehrer … Auch hier gilt: Die Masse macht’s.

aus: Frankfurter Rundschau vom 12./13.01.2019, S.21

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Baut nicht unser ganzes Leben auf der Kulturtechnik von Lesen und Schreiben auf?

Nur noch Analphabeten

Die Welt von morgen braucht keine Menschen mehr, die lesen oder schreiben können. Das Ende der Schriftkultur hat längst begonnen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.), von Markus Günther

Dr. Markus Günther, geboren 1965 in Bottrop, machte am Heinrich-Heine Gymnasium 1986 sein Abitur, studierte Geschichte und Politikwissenschaften, bevor er für verschiedene Zeitungen tätig war. Er ist Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und lebt in Washington, D.C. Für seinen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Text „Nur noch Analphabeten“ erhielt er 2015 den Dietrich Oppenberg-Medienpreis der Stiftung Lesen. [Dieser Text wurde in den Gemeinsamen Abituraufgabenpool der Länder im Jahr 2017 für das Fach Deutsch aufgenommen. Aus: Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)].

Über die Zukunft von Buch und Zeitung wird seit Jahr und Tag debattiert. Nur eine simple Frage wird erstaunlicherweise nie gestellt: Kann der Mensch der Zukunft überhaupt noch lesen? Die Antwort lautet: nein. Nicht das Papier wird überflüssig, sondern die alphabetisierte Gesellschaft schlechthin. Die Welt von morgen wird kaum noch Menschen brauchen, die lesen und schreiben können. Bei dieser Prognose kann man sich auf Widerspruch verlassen. Baut nicht unsere Arbeitswelt, ja, unser ganzes Leben auf der Kulturtechnik von Lesen und Schreiben auf? Wie sollten Lesen und Schreiben bedroht sein, wenn doch beides in den Schulen gelehrt wird?

Die Einwände klingen überzeugend, sind aber kurzsichtig. Die revolutionäre Veränderung nimmt gerade erst richtig Fahrt auf. Die entfesselten Kräfte der vernetzten und audiovisuell organisierten Welt lassen keinen Stein auf dem anderen. Die fast vollständige Alphabetisierung der Gesellschaft war ein kurzlebiges Phänomen – auch wenn das heute noch so schwer vorstellbar ist wie anno 1900 eine Welt, in der Autos die Pferdekutsche überflüssig machen. Dass das Ende der Schriftkultur so schwer vorstellbar ist, liegt daran, dass die geschriebene Sprache allgegenwärtig ist. Nie zuvor ist – dank Smartphone, E-Mail und SMS – so viel geschrieben worden. Keine Arbeit, keine Ausbildung, kein Leben als Mensch unter Menschen kommt ohne Schriftkultur aus. Doch bei genauerem Hinsehen hat die Erosion schon begonnen. Wer heute einen Einkaufszettel, eine E-Mail oder Textnachricht „schreiben“ will, kann das auch mündlich tun. Die Programme, die jedes Smartphone bietet, nehmen Diktate ganz passabel auf. Und es versteht sich von selbst, dass der Empfänger die Nachrichten nicht lesen muss. Er kann eine Taste drücken und sie sich von einer sehr sympathischen Stimme, wahlweise Mann oder Frau, vorlesen lassen. Das alles funktioniert noch nicht reibungslos, das stimmt. Noch ist das schnelle Tippen einfacher. Es ist eben eine Technologie in den Kinderschuhen. Doch sie wird bald erwachsen sein. Dann kann die exzessive Alltagskommunikation zuverlässig durch Sprechen und Hören erledigt werden.

Aber kann, was im Privatleben funktionieren mag, auch in der Arbeitswelt klappen?
Es klappt schon jetzt. An vielen Stellen, an denen früher eine Gebrauchsanweisung in Bibelumfang studiert werden musste, ersetzt heute ein Kurzvideo die Erklärungen. Und das Video führt zu besseren Ergebnissen, wie man nicht nur in der Flugzeugindustrie festgestellt hat, wo die Wartung und Reparatur für die Mechaniker immer häufiger audiovisuell auf mobilen Bildschirmen dargestellt wird.

Auch in vielen anderen Branchen ist die audiovisuelle Kommunikation auf dem Vormarsch. Dabei muss man nicht nur an die praktischen Tätigkeiten im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungssektor denken. Piktogramme, Blink- und Piepsignale zeigen dem Pommes-frites-Brater im Schnellrestaurant genau, was er zu tun hat.

Aber auch ein guter 90-Minuten-Lehrfilm über die Bauchspeicheldrüse trägt mehr zur medizinischen Ausbildung bei als ein dreitägiges Studium des entsprechenden Lehrbuches. Audiovisuelle und interaktive Didaktik sind der Textlektüre in vielen Bereichen überlegen. Auch das wird die Schriftkultur weiter zurückdrängen.

Die Veränderungen lassen sich schon jetzt beobachten. Dass Google die größte Suchmaschine der Welt ist, weiß jedes Kind. Weniger bekannt ist, dass Youtube die zweitgrößte ist. Komisch, oder? Suchen die alle Musikvideos? Mitnichten. Auf Youtube finden sich Antworten auf alle möglichen Fragen, von der Hämorrhoidenbehandlung bis zur Schlauchbootreparatur. Der Segelkurs, die Vorzüge der neuen Waschmaschine, die Mailänder Sommermode, archäologische Funde, Erste Hilfe – Youtube hat alles. Und lesen können muss hier niemand, weder Buchstaben noch Noten. Wer einen Song auf dem Klavier nachklimpern will, findet auf Youtube ein „Tutorial“, das ohne Noten auskommt. Klappt prima. Und den Suchbegriff kann man einsprechen.

Dennoch ist es nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie die neue Technologie, die das Lesen und Schreiben bedroht. Es ist eine Wechselwirkung aus neuen Möglichkeiten und alten Triebkräften, aus Effizienzsteigerungen und Wettbewerbsdruck.

Der Kapitalismus ist eine Kraft, die auf maximale Wertschöpfung abzielt. Sie fördert jede Produktivitätssteigerung und bekämpft jedes Wachstums- und Handelshemmnis. Die größten Hemmnisse sind unterschiedliche politische und rechtliche Systeme, sodann Währungs- und Sprachunterschiede sowie die Unter- und Überqualifizierung der Arbeiter und Konsumenten. Man muss weder Marxist noch Volkswirt sein, um zu verstehen, dass der Kapitalismus an gebildeten Menschen kein Interesse haben kann. Er bemisst die Qualifikation der Menschen funktional und nicht kulturell. Eliten braucht es natürlich, Juristen zum Beispiel, denn auch in Zukunft werden Rechtsetzung und Rechtsprechung jede wirtschaftliche Tätigkeit regeln. Aber das heißt nicht, dass alle Welt in der Lage sein muss, zu lesen und zu schreiben. Im Gegenteil, allein die Abschaffung der Handschrift, die ja schon gut vorankommt, verspricht einen erheblichen Produktivitätsschub. Und ein globaler audiovisueller Markt, in dem durch Sprechen, Sehen und Hören die Frequenz jeder Interaktion gesteigert werden kann und Sprachunterschiede nur noch ein Problem der Übersetzungssoftware sind – das wäre Gold wert.

Es ist kein Zufall, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika nie dieselbe Alphabetisierungsquote erreicht worden ist wie etwa in Deutschland. Dabei muss man nicht einmal an die wüsten Schätzungen von 21 Prozent „funktionalen Analphabeten“ in Amerika glauben. Auch die alphabetisierte Bevölkerung ist nicht so gebildet wie in Deutschland. Die Eliten sind in Amerika bestens ausgebildet, oft besser als hierzulande.

Aber der einfache Arbeiter, vor allem in Dienstleistungsberufen, ist schon heute eher schlecht als recht alphabetisiert. Wo in Deutschland Menschen über Jahre zu Floristen ausgebildet werden, zur Berufsschule gehen, eine kaufmännische Grundausbildung erhalten und Prüfungen in Pflanzenkunde absolvieren, dauert die Einweisung in den Vereinigten Staaten drei Minuten: Das da sind die Rosen, die laufen immer am besten. Den Preis kann man einscannen. Bei Problemen den Chef rufen. Mehr Bildung braucht es nicht.

Der Schritt in eine Welt, in der es hochqualifizierte Eliten und eine mangelhaft qualifizierte Masse gibt, ist ein Schritt in die Zukunft, aber auch in die Vergangenheit. Die flächendeckende Alphabetisierung ist, historisch betrachtet, erst einen Wimpernschlag alt.

In Deutschland überschritt die Alphabetisierungsquote in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die 90-Prozent-Marke. Doch in Frankreich lag sie noch vor 100 Jahren bei 87 Prozent, in Italien bei 62 Prozent, in Spanien bei 50 Prozent, in Portugal bei 25 Prozent.
Noch heute liegt die Quote in Bangladesch bei nur 47 Prozent – die Produktion unserer Textilien läuft dort dennoch wie am Schnürchen. Unsere Schriftsprachen sind zwar Jahrtausende alt, doch von den letzten 150 Jahren abgesehen, waren sie immer nur einer kleinen Oberschicht zugänglich.

Dass die allgemeine Lesefähigkeit wieder zurückgehen könnte, ist schon lange vermutet worden.
Vor 50 Jahren rief Marshall McLuhan in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ das Ende der Schriftkultur aus. Dabei ahnte er noch nicht, dass es einmal Internet und Smartphones geben würde. Doch er dachte in die richtige Richtung: Mit der Erfindung der drahtlosen Telegrafie 1894 sah er den Weg zurück in die Mündlichkeit vorgezeichnet. Auch Jürgen Habermas warf vor Jahrzehnten die Frage auf, ob wir wieder zu einer „oralen Gesellschaft“ werden, schließlich war die Schriftkultur nur ein Werkzeug der Kommunikation. Anders ließ sich ja kein Wort speichern oder über Zeit und Raum transportieren.

All diesen Prognosen wurde energisch widersprochen. Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz schrieb 1993 in Erwiderung auf McLuhan, dass „die alten Kulturtechniken des Lesens und Schreibens“ auch in ferner Zukunft „keineswegs überflüssig“ würden. Heute teilt er allerdings skeptisch, fast zynisch mit: „Die Welt ist in (wenige) Programmierer und (allzu viele) Programmierte zerfallen. Die Programmierer können noch lesen und schreiben, wenn auch nur Quellcode. Die Analphabeten sitzen in meinen Seminaren.“ Bolz und andere, die fassungslos vor dem Verfall der Schriftkultur stehen und schier unlesbare Seminararbeiten vor Augen haben, denken aber eher an einen radikalen Niveauverlust als an eine echte Entalphabetisierung.

Das liegt daran, dass die Schulpflicht die Alphabetisierung garantiert. Doch vermutlich wähnen sich Bolz und andere in falscher Sicherheit. Saul B. Robinson hat 1967 in einer bahnbrechenden Studie gezeigt, wie schnell veränderte Erziehungsziele auch die Curricula verändern. Wird nicht bald schon die Frage auftauchen, ob die Lehrpläne in der digitalen Welt noch zeitgemäß sind? In manchen Schulen haben „Smartboards“ mit fenstergroßen Touchscreens schon die Tafel ersetzt.

Demnächst wird jemand die Frage stellen, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn Kinder sofort mit der Tastatur schreiben lernen. [1] Oder sollten die Abc-Schützen von morgen nicht noch besser lernen, wie man Bildschirmsymbole liest und audiovisuellen Anweisungen folgt, wie man mit den Fingern auf einem Bildschirm möglichst schnell bestimmte Aufgaben löst? Der Kanon aus Lesen, Schreiben, Rechnen ist nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt. [2]

Wenn aber weder die Bedürfnisse der Wirtschaft noch das Schulsystem die Alphabetisierung garantieren, fällt der Blick auf den einzelnen Menschen: Wollen wir nicht im eigenen Interesse weiterhin lesen und schreiben? Wird es nicht auch in Zukunft das Bedürfnis nach seriösem Journalismus, einem guten Buch, niveauvoller literarischer Unterhaltung geben?

Das klingt alles gut, aber wer genau hinsieht, merkt, dass das Ende dieser Schriftkultur längst begonnen hat. Die Fähigkeit, einen passablen Brief zu schreiben, ist selbst unter Akademikern selten geworden. Und die Frage „Welches Buch lesen Sie gerade?“ garantiert heute auf jeder Party knallrote Köpfe. Viele haben es verlernt, umfangreiche Texte zu lesen. Ihnen fehlt die innere Ruhe, die Geduld, die Übung.

Dass ersatzweise aber im Internet umso mehr gelesen wird, ist ein Gerücht, das vorzugsweise von Journalisten verbreitet wird. Und es stimmt auch: Gute Texte, vor allem Meinungsbeiträge, werden gelesen – von einer kleinen Minderheit. Die Masse liest im Internet nur Überschriften und Kurzinformationen. Im Netz gefragt sind Suchmaschinen, Pornographie, Unterhaltung, E-Shopping und Service-Infos wie Wetter, Fahrpläne et cetera. Wer bei den Zeitungshäusern hinter die Kulissen blickt, weiß, was gut geklickt wird: Bildergalerien und Kurzvideos. Auch die angeblich seriösen Nachrichtenportale machen solche Erfahrungen. Am 20. Februar 2014, als die Krim-Krise gerade eskalierte, war auf Spiegel Online der meistgeklickte Artikel die Fotostrecke „Grimassen beim Eiskunstlauf. Au Backe!“.

Es lohnt sich, genau zu beobachten, wie die Zeitungen sich verändern. Amazon-Gründer und Internet-Guru Jeff Bezos zum Beispiel krempelt gerade die „Washington Post“ um, die er sich zum Spaß gekauft hat. Nach sechsmonatiger Analyse hat er die Schwachstelle der Zeitung entdeckt: Es müssen mehr Videos her. Folgerichtig investiert er Millionen in Filmtechnik.

Texte sind in Zukunft ein vertiefendes Angebot für eine Minderheit. Unterhaltung, offene oder verdeckte Werbung und grafisch aufbereitete Kurzinformationen dominieren.
Manche sogenannte Nachrichtenportale haben schon heute mit Nachrichten so viel zu tun wie ein Newsletter von Tchibo.

Mit anderen Worten: Wer meint, eine aufgeklärte Gesellschaft werde sich nicht für dumm
verkaufen lassen und die mühsam errungene Lesefähigkeit nicht aufs Spiel setzen, könnte sich täuschen. Dass die Menschen mit Leib und Seele an der Schriftkultur hängen, dass sie Literatur und Journalismus zum Leben brauchen und sich einer schleichenden Enteignung ihrer Lesefähigkeit widersetzen werden, ist vorerst nicht erkennbar. Die manipulativen Kräfte der Märkte und der Monopole haben die Menschen der Gegenwart gut im Griff.

Ray Bradbury hat in „Fahrenheit 451“ eine Horrorwelt vorausgesehen, in der Bücher verboten sind. Da er sich 1953 als Trägermedium nur Papier vorstellen konnte, bekämpfen bei ihm die Herrscher, die Angst vor denkenden Bürgern haben, jedes Buch und jede Zeitung mit dem Einsatz von Flammenwerfern. Vor 60 Jahren war das schön schaurig, aber so unrealistisch wie eine Reise in der Zeitmaschine. Heute kommen wir der Welt Bradburys, in der die Masse dumm gehalten, zur reinen Funktionalität erzogen und zugleich mit Unterhaltung fortwährend betäubt wird, bedrohlich nahe.


[1] Finnland stellte es seinen Grundschulen ab dem Herbst 2016 frei, ob sie die Schreibschrift noch lehren möchten. Die Entscheidung darüber liegt beim persönlichen Wollen jeder einzelnen Lehrkraft. Die Kinder sollen mehr tippen, weil das fließende Tippen auf der Tastatur grundständig gelernt werden soll – quasi als nationale Zukunftskompetenz im digitalen Zeitalter.

[2] Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann konstatiert zur Tatsache, dass grundlegende Kulturtechniken nicht mehr beherrscht werden: „Volkskrankheit Analphabetismus“! Er sieht darin „den Skandal der modernen Zivilisation schlechthin“. Schreiben nach Gehör sowie das Ansinnen, Texte immer weiter zu vereinfachen, um die Lesefähigkeit zu verbessern oder auch die Vereinfachung der Schrift zählen für ihn zu hochproblematischen Methoden und Strategien (LIESSMANN 2014, Geisterstunde – Praxis der Unbildung). (…) Die Tatsache, dass der Erwerb von Kulturtechniken nicht jedem leicht fällt, kann daher nicht als Grund herhalten, „das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren“. „Wenn etwas schwerfällt, bieten die Didaktiker Erleichterungen an. Doch wo alle Schwierigkeiten umgangen werden, herrscht eine Praxis der Unbildung“ (LIESSMANN 2014). Damit auch weiterhin in und mit Sprache gedacht, argumentiert, artikuliert oder abgewogen und fein nuanciert wird, solle lieber alles Erdenkliche unternommen werden, damit auch jene mit Schwierigkeiten wirklich Schreiben und Lesen lernen.

Anmerkungen in rechteckiger Klammer […] durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel:  Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.), 25.05.2014, Markus Günther, Nur noch Analphabeten

„Das Bildungswesen vor dem Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen schützen“

„Der Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer ist voll entbrannt.“

BEGEGNUNG  – Deutsche schulische Arbeit im Ausland, 2-2018, S. 50-52

Kinder und Jugendliche sind die konsumkräftigste und beeinflussbarste Zielgruppe. Gleichzeitig sind die Kommunen bei steigenden Schülerzahlen seit Jahren finanziell überbelastet. Prof. Dr. Tim Engartner erklärt im Gespräch mit Stefany Krath, wie man das Bildungswesen vor dem Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen schützen muss.

Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt. Zudem ist er Sprecher der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft.

Herr Prof. Engartner, Sie haben einmal gesagt, Deutschland entwickle sich vom Land der „Dichter und Denker“ zum Land der „Stifter und Schenker“. Was meinen Sie damit?

Ich bezog mich damit auf den Zeitgeist, dem wir in Schulen und Hochschulen, aber auch in außerschulischen Bildungseinrichtungen mehr und mehr erliegen. Oskar Negt hat einmal gesagt, wir leben im Zeitalter der „Verbetriebswirtschaftlichung“. Wir gehen dem Humboldtʼschen Bildungsideal immer seltener nach, sondern zielen stattdessen auf die Verwertbarkeit sowie die Drittmittelfähigkeit von Bildungsaktivitäten. Das führt leider auch dazu, dass vielfach „Stifter und Schenker“ in Anspruch genommen werden, denen man nicht immer ein redliches Interesse nachsagen kann. Ich rede nicht von etablierten Forschungsprogrammen, sondern von privatwirtschaftlichen Stiftungen. Mehr und mehr Schulen, auch Auslandsschulen, sind darauf bedacht, Kooperationen mit privaten Wirtschaftsunternehmen einzugehen. Das wird oftmals verquer dargestellt unter dem Schlagwort „Öffnung von Schule“.

Leider ist das Ideal der Berufsorientierung oft der Wegbereiter für Kooperationen, gerade auch mit privaten Experten, die sich seit etwa einem Jahrzehnt in die Schulen drängen. Wirtschaftsvertreter aus Banken und Versicherungen sind da besonders aktiv. Sie versuchen, den durch die Finanz- und Wirtschaftskrise entstandenen Reputationsschaden auszugleichen. 16 der 20 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland produzieren Unterrichtsmaterialien. Der Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer ist somit voll entbrannt.

Was sind die Auslöser dieser Entwicklung?

Ich würde behaupten, dass es dafür vier Gründe gibt. Der erste Grund ist die chronische Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte. Nicht selten bröckelt in den Schulen der Putz von den Wänden, fallen Deckenelemente auf den Klassenzimmerboden oder sind Turnhallendächer undicht. Das ist das größte und sicherlich triftigste Argument für die Wegbereitung des Lobbyismus.

Der zweite Grund liegt in der wachsenden Zahl von Lehrkräften, die ihre Unterrichtsfächer nicht grundständig studiert haben, sondern fachfremd unterrichten, insofern nicht sensibel sind für tendenziöse Unterrichtsmaterialien. Drittens hat sich das Bildungsverständnis gewandelt: eine Abkehr von theoriegesättigtem, langlebigem Wissen hin zu funktionalem Wissen, das unmittelbar verwertbar ist. Das Verlangen gibt es auf Seiten der Schüler und leider auch auf Seiten der Studierenden.

Was verstehen Sie unter funktionalem Wissen?

Das ist Wissen, das eine unmittelbar greifbare Funktion erfüllt. Dabei ist das Wissen über Steuererklärungen, Mietverträge und Versicherungen kein Wissen, das es in der Schule zu vermitteln gilt. Für die Steuererklärung sind Steuerberater zuständig. Für Mietverträge interessiere ich mich, wenn ich eine Wohnung beziehe. Und über Versicherungen denke ich nach, wenn ich den ersten Job habe. Das ist Wissen, das außerhalb des schulischen Regelkontextes – sprich: auf informellem Wege – erworben werden kann und soll. Man weiß: Je konkreter Wissen ist, desto vergänglicher ist es auch. Je abstrakter Wissen ist, desto länger ist seine Halbwertszeit.

Sie sprachen von vier Gründen.

Ein viertes Motiv für die Wegbereitung ist darin zu sehen, dass Unternehmen aus den Daten der Werbepsychologie erkannt haben, dass Bildungslobbyismus ein extrem attraktives, lukratives und dauerhaft zu bestellendes Feld sein kann.

Wo sehen Sie denn die Grenzen zwischen Werbung und Sponsoring?

Die würde ich zunächst mal als fließend beschreiben. Unmittelbare Werbung zielt auf Produkt-, Marken- oder Anwerbung. Das Anwerben und Bewerben fällt unter den Aspekt der Werbung. Es gibt nicht wenige Schulen, die das mittlerweile verboten haben. Sponsoring ist einfach die Zuwendung in Form von Geld. Es gab einen Fall in Niedersachsen, wo von ExxonMobil 10.000 EUR im Jahr an Schulen flossen. ExxonMobil ist in Niedersachsen gestoppt worden, weil dort Unternehmensvertreter in die Schulen kamen und für die Energiegewinnung mittels Fracking warben – wohl nicht zufällig in einer Gegend, die auf Fracking setzt.

Wen sehen Sie in der Bringschuld?

Vater Staat! Wir brauchen dringend eine Neujustierung der Steuer- und Abgabenarchitektur. Durch den Wettbewerb in der EU erleben wir seit Jahren einen Rückgang der Gewerbesteuer. Die Kommunen haben zusätzliche Lasten zu tragen wie erhöhte Sozialausgaben im Zuge der Hartz-IV-Reformen. Jetzt soll noch die Bekämpfung der Abgaslast im Zuge des Dieselskandals von den Kommunen gestemmt werden. In Nordrhein-Westfalen unterliegt jede zweite Gemeinde dem Haushaltssicherungsgesetz. Selbst über einst wohlhabenden Städten wie Köln und Berlin kreist der Pleitegeier. Deutschland gibt immer noch nur 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Bildung aus. Das ist deutlich weniger als der OECD-Durchschnitt. Und wenn wir uns nicht nur als Bundesrepublik, sondern auch als Bildungsrepublik verstehen, dann müssen wir dringend mehr investieren.

Sie kritisieren offen die Entrepreneurship Education an Schulen, die eine unternehmerische Einstellung bei Jugendlichen fördern soll. Erlangen junge Menschen durch solche Lehre nicht auch ein besseres Selbstbewusstsein oder mehr Weitblick?

Unterrichtszeit kann nur einmal verausgabt werden. Gerade unter den Vorzeichen von G 8 und vor dem Hintergrund einer fixen Stundentafel können Sie nicht beliebig neue Inhalte, Interessen und Schulfächer einführen. Das geht immer zu Lasten anderer Bildungsaspekte. Entrepreneurship Education ist ein klassisches Ergebnis gezielter Lobbypolitik. Neun von zehn Schülern werden später als abhängig Beschäftigte arbeiten. Anstatt Berufs- und Studienorientierung, die jetzt in Baden-Württemberg als eigenständiges Fach eingeführt worden ist, würde ich einen Unterricht begrüßen, der Kinder und Jugendliche – gerade auch Hauptschulabsolventen – unter anderem darauf vorbereitet, dass die Strukturen des Arbeitsmarkts sie unter Umständen erst mal arbeitslos sein lassen. Dass sie mit den Gefahren des Scheiterns und einer befristeten Beschäftigung umgehen lernen. Damit man weiß, das sind keine individuellen Versagensängste, die da eine Rolle spielen sollten, sondern auch ein Stück weit Kollektivschuld, wenn man auf dem Arbeitsmarkt keinen Erfolg hat. Das halte ich für sehr viel wichtiger als Entrepreneurship Education oder Berufsorientierung.

Müssen Abiturienten denn nicht wissen, was die Eurokrise ist?

Das gehört doch zur Allgemeinbildung. In der Tat bin ich ein glühender Befürworter ökonomischer Bildung. Die Frage ist nur, welche ökonomische Bildung wir wollen. Die von Ihnen angesprochene Eurokrise wird auch schon jetzt im sozialwissenschaftlichen Unterricht beleuchtet. Schon deshalb ist es abwegig, ein Pflichtfach Wirtschaft einzuführen. Zudem laufen wir Gefahr, dass dort Inhalte zum Tragen kommen, wie sie vorhin genannt wurden: Entrepreneurship Education und finanzielle Bildung. Wissen um Aktien und Anleihen, Devisen und Derivate, Fonds und Futures. Das ist eine verkürzte Sichtweise auf ökonomische Sachverhalte. Steuerpolitik, Steuersystematik, was sind direkte und indirekte Steuern? Warum zahlen wir Steuern? Warum sind Steuern im Gegensatz zu Abgaben nicht zweckgebunden? Das sind zentrale sozialwissenschaftliche Fragen. Aber nicht die Frage, wie ich meine Steuererklärung mache. Wenn wir in Form eines Separat- oder Partikularfachs Wirtschaft zu viel ökonomische Bildung in die Schulen transportieren, werden die Schüler nicht ökonomisch gebildet, sondern ökonomistisch verbildet. Das können wir in einer Welt, die schon jetzt von allem den Preis und von immer weniger den Wert kennt, nicht wollen.

Im Bundestagswahlkampf war Schulpolitik ein großes Thema, Lobbyismus kam aber wenig zur Sprache. Wohin geht der Trend?

Ich glaube, es gibt in Deutschland noch kein gewachsenes Bewusstsein für die Gefahren, die in Schulen mit Lobbyismus verbunden sind. Wir haben bekanntlich eine auf zehn Jahre lautende Schulpflicht. Das heißt, die Kinder sind Schutzbefohlene. Der ‚Schonraum Schule‘ darf somit nicht von privatwirtschaftlichen Interessen geentert werden. Leider geben sich die Lehrkräfte oft dem Irrglauben hin, sie könnten das mit ihren mündlichen Beiträgen im Unterricht korrigieren, was an unlauteren Materialien dort Eingang gefunden hat. Oder sie glauben, dies mit gegensätzlich gelagerten Unterrichtsmaterialien, die sie für die Hausaufgaben mitgeben, auffangen zu können. Eltern geben sich häufig dem Irrglauben hin, sie könnten das mit Tischgesprächen am Abend auffangen. Aber mittlerweile sehe ich einen Silberstreif am Horizont, denn das politische Bewusstsein für die Problematik wächst. Es gibt in 13 von 16 Bundesländern eine Prüfung von Schulbüchern, bevor sie für den Schulunterricht zugelassen werden. Diese Prüfverfahren gelten leider für die Materialien privater Content Anbieter nicht. Mittlerweile pochen jedoch die ersten Bundesländer darauf, dass diese Materialien ein Prüfverfahren durchlaufen, wie es für Schulbücher üblich ist. Ansonsten hängt die Entwicklung maßgeblich davon ab, ob wir die Steuerpolitik so gestalten, dass die Bildungsrepublik Deutschland den Namen Bildungsrepublik verdient. Eine weitere Steuersenkungspolitik können wir uns mit Blick auf das Bildungswesen nicht erlauben.
Wir investieren immer noch mehr Geld ins Militär als in Bildung. Das ist schlicht skandalös.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: https://www.auslandsschulwesen.de/SharedDocs/Downloads/Webs/ZfA/DE/Publikationen/BEGEGNUNG/BEGEGNUNG_2018_2.pdf?__blob=publicationFile&v=5

zum Thema siehe auch die Website:  BildungsRadar – Ökonomisierung der Bildung unter Beobachtung

Der Einsatz digitaler Medien im Unterricht ist an den Zielen der Technikanbieter ausgerichtet

»Weltweit größtes Experiment am lebenden Objekt«

Über die falsche Heilslehre vom Digitalen, automatisierte Lernfabriken ohne Pädagogen und die »Verzweckung« unserer Kinder

Ralf Wurzbacher im Gespräch mit Prof. Ralf Lankau
aus:  junge Welt, 4.11.2017

Ralf Lankau ist Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Er leitet dort das Labor »Grafik.Werkstatt« an der Fakultät Medien und Informationswesen, forscht zu experimenteller Medienproduktion in Kunst, Lehre und Wissenschaft und publiziert zu Design, Kommunikationswissenschaft und (Medien-) Pädagogik. Lankau betreibt das Projekt »Futur iii – ­Digitaltechnik zwischen Freiheitsversprechen und Totalüberwachung« (futur-iii.de) und ist Mitinitiator des »Bündnisses für humane Bildung – aufwach(s)en mit digitalen Medien« (www.aufwach-s-en.de). Von Lankau erschien Anfang Oktober im Beltz-Verlag: »Kein Mensch lernt ­digital: Über den ­sinnvollen Einsatz neuer ­Medien im Unterricht« [siehe Bücherliste]

In unserem Gespräch wird es auch darum gehen, wie doof oder klug Smartphones, Tablets und Computer sind bzw. wie dumm oder schlau sie uns Menschen machen. Fangen wir mit dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner an, der sich im Bundestagswahlkampf mit dem Spruch »Digital first. Bedenken second.« auf Plakaten verewigen ließ. Sollte man sich um diesen Herrn Sorgen machen?

Würde er sein Plädoyer ernst meinen, müsste man sich in der Tat um seine geistige Gesundheit sorgen und ihn als nicht zurechnungsfähig aus dem Verkehr ziehen. Wer die notwendige Reflexion über die Folgen von Digitaltechnik, also die klassische Technikfolgenabschätzung, ausblenden will, kann weder politisch noch als Person ernstgenommen werden. Andererseits passt das ins Bild. Deutschland ist im Digitalfieber: Digitalagenda, Digitalgipfel, Digitalpakte. Die Art, wie diese Technik propagiert und abgefeiert wird, hat etwas von Heilslehre und einem Fetisch. Und auf dieser populistischen Pro-Digital-Welle, die von der IT-Wirtschaft und ihren Lobbyisten losgetreten wurde, reitet eben auch Lindner.

Also Berechnung, keine Dummheit?

Lindner ist nicht dumm. Es geht ihm um Aufmerksamkeit und darum, sich als »Politmarke« aufzubauen. Das Ego und die Karriere einzelner stehen im Mittelpunkt, nicht politische Fragen und sozialverträgliche Lösungen. Und das heißt dann eben auch: Für das Erreichen der eigenen Ziele darf man gerne das politische System beschädigen, koste es, was es wolle.

Die Digitalisierung soll den Steuerzahler ja einiges kosten. Der »Digitalpakt#D«, mit dem Bund und Länder Deutschlands Schulen flächendeckend mit modernster IT- und Breitbandtechnik ausstatten wollen, soll fünf Milliarden Euro verschlingen. Es wäre zu hoffen, dass bei solchen Summen eine eingehende Kosten-Nutzen-Analyse erfolgt.

Eine Kosten-Nutzen-Analyse gab es so wenig wie eine auch nur annähernd realistische Kalkulation. Fünf Milliarden Euro in fünf Jahren, das klingt nach viel Geld. Bei 33.500 allgemeinbildenden Schulen wären das pro Einrichtung und Jahr knapp 30.000 Euro. Nimmt man alle 44.000 Schulen, dann landet man bei etwas mehr als 22.000 Euro. Es gibt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung mit zwei Szenarien. Im ersten teilen sich fünf Schüler einen Computer oder ein Tablet. Dabei ergäben sich nach den Berechnungen Ausgaben zwischen 538 Millionen und 1,03 Milliarden Euro pro Jahr. Hätten, wie im zweiten Fall, alle Schüler ein Endgerät, wäre man schon bei 1,82 Milliarden bis 2,62 Milliarden Euro pro Jahr.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat vorgerechnet, dass alleine die Berufsschulen 2,5 Milliarden Euro in fünf Jahren und damit schon die Hälfte des Geldes vom Digitalpakt beanspruchen. Ein Kostenrahmen weit über dem von fünf Milliarden Euro ergibt sich auch aus einer Kalkulation des Städtetags Baden-Württemberg. All die Beispiele zeigen: Das mit den fünf Milliarden Euro ist Augenwischerei.

Wie verhält es sich mit dem Nutzen? Politik und Wirtschaft bauen ja darauf, dass sich die Digitalisierungsoffensive auf lange Sicht rentieren wird – in Gestalt besser qualifizierter Schulabgänger, Lehrlinge und Studierender. Gibt es dafür belastbare Belege?

Eben nicht, und das macht den Ansatz vollends absurd. Schon die berühmte Metaanalyse »Visible Learning« des neuseeländischen Pädagogen John Hattie, hat gezeigt, dass Rechner und Software in Schulen nichts bringen. Eine PISA-Sonderauswertung der OECD-Studie »Students, Computers and Learning« ergab, dass in den vergangenen zehn Jahren Investitionen in die IT-Ausstattung der Schulen keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erbrachten. Selbst in einer Telekom-Studie steht, was auch bei Hattie zu lesen ist: »Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an.« Andreas Schleicher, OECD-Direktor für Bildung, formulierte es in einem Interview mit einer australischen Zeitung so: »Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.«

Woher nehmen dann die Bundesregierung und mit ihr fast der ganze Politikbetrieb bis in die Reihen der Partei Die Linke die Überzeugung, dass Bildung und digitale Medien wie selbstverständlich zusammengehören?

Ich würde das nicht Überzeugung nennen. Claus Pias hat in seiner »Kurzen Geschichte der Unterrichtsmaschinen« das Scheitern der Geräte im Unterricht aufgezeigt. Verdient hat an dieser Lerngutprogrammierung aber immer jemand. In der Diskussion zeichnen sich im wesentlichen zwei Lager ab. Wer mit der Digitalisierung von Schulen und Unterricht Geld verdienen will – Hard- und Softwareanbieter, IT-Dienstleister, App-Entwickler, Medienpädagogen oder Lehrmittelanbieter –, plädiert für den möglichst frühen Einsatz von Digitaltechnik in der Schule oder sogar schon in der Kita.

Wer hingegen Kinderärzte, Kognitionswissenschaftler, Suchtforscher oder ­Pädagogen fragt, bekommt als Einstiegsalter zehn bis zwölf Jahre genannt. Wer weiß, dass die ersten zehn Lebensjahre für die Entwicklung eines Menschen entscheidend sind, wird einschätzen können, ob die Interessen an Absatzmärkten für Digitaltechnik darüber bestimmen sollten, ab welchem Alter die Geräte in der Schule eingesetzt werden oder doch besser die leibliche und geistige Gesundheit der Kinder geschützt wird.

Soll heißen: Die Politik übernimmt einfach die Position der Industrie?

Ja, hier haben die IT-Lobbyisten ganze Arbeit geleistet. Wir erleben eine kollektive Gehirnwäsche. Bildung, Gesundheit, Verkehr, Wissenschaft, überall gilt die Heilslehre vom Digitalen. Schauen Sie sich die Kampagnen, Websites und Arbeitspapiere aus den Ministerien an und die der IT-Unternehmen. Da weiß man gar nicht mehr, wer was geschrieben hat. Weiterlesen

Digitales Geräteturnen in der Schule

„Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen“

Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein

Der Ruf nach der Digitalisierung der Schulen ist so laut, so schrill, so penetrant geworden, dass es an der Zeit ist für eine Pause.

Man möchte sie vom Desktop wischen – all die PDFs des Bundesbildungsministeriums, die Zwischenberichte von Arbeitsgruppen, die Expertisen aus IT und Wirtschaft, die humorigen FDP-Wahlplakate mit der Zeile „Digital first. Bedenken second“. Man möchte stattdessen die Frage beantwortet wissen: Von welcher Digitalisierung ist eigentlich die Rede, wenn es um die Schulen geht?

Mit Schwung gehören auch die Studien vom Tisch gewischt, die deutsche Schulen zu Orten der digitalen Ödnis erklären. Diese Studien schüren die Angst, heutige Schüler könnten den Anschluss an eine immer automatisiertere Arbeits- und Kommunikationswelt verlieren. Hallo, die Schüler sind schon jetzt „digitaler“, als gegenwärtige Eltern und Lehrer es jemals sein werden. Natürlich brauchen sie die Hilfe der Schule, um mündige Mediennutzer zu werden und die Chancen des Digitalen von seinen Gefahren unterscheiden zu können; auch vielen Erwachsenen täte Nachhilfe hier gut. Aber brauchen sie dafür Unterricht an digitalen Geräten? Wenn ja, welchen? In welchem Alter, in welchen Schularten und Fächern? Wie oft, wie lange? Mit welchen Inhalten? Vor allem: Mit welchem pädagogischen Nutzen?

Das Bildungsbarometer 2017 des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik verriet, was erwachsene Bürger von Computern in Schulen halten. 63 Prozent der Befragten finden demnach, dass Schüler ein Drittel der Unterrichtszeit für das selbständige Erarbeiten [des Unterrichtsstoffes] am PC nutzen sollten [siehe Grafik und Text unterhalb der Grafik]. Man nehme das wörtlich: Ein Drittel der Unterrichtszeit sind 25 Augenpaare auf 25 Monitore gerichtet, um mit einer Maschine zu lernen, was man im Leben so braucht. Fragt sich, wozu eine solche Studie gut ist [siehe Anmerkung am Ende des Artikels]. Vielleicht dafür, zu zeigen, dass die Diskussion dringend differenzierter geführt werden muss. Dass es absurd ist, die Schulen für Milliarden zu digitalisieren und die Schüler dann vor die Geräte zu setzen, ohne sich ganz genau zu überlegen, was ihnen das bringt.

Aus dem Bildungsbarometer 2017, S. 21:

Andreas Schleicher, als Pisa-Chef der OECD, sagt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führe nicht per se zu besseren Schülerleistungen, das hätten Beobachtungen über ein Jahrzehnt gezeigt. Und die Schülertests Iglu und Timss belegen, dass Grundschüler, die mindestens einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzen, in einigen Fächern niedrigere Kompetenzen zeigen als Grundschulkinder, die seltener vorm PC sitzen.

Gegenbeweise konnte die Forschung bislang nicht liefern, aber das stört die Studienmacher nicht. Diesen Freitag präsentierte die Bertelsmann-Stiftung unverdrossen ihren „Monitor Digitale Bildung“, in dem sie beklagt, die Schule verkenne pädagogische Potenziale der Digitalisierung, hätte weder Strategien noch Konzepte – und schlechtes Wlan sowieso. [Das] klingt so, als müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken. Als sollten sie die pädagogischen Potenziale einer Technik anerkennen (und Konzepte dafür entwickeln), obwohl diese Potenziale bislang nur behauptet sind. Worin sie bestehen, weiß auch Bertelsmann nicht.

Im Tagesspiegel vom 15.09.2017 berichtet Amory Burchard aus der Studie: Bessere Technik erhoffen sich die meisten Lehrkräfte und Schulleitungen aber nicht etwa für den Einsatz im Unterricht. 81 Prozent der Lehrkräfte beziehungsweise 88 Prozent der Schulleiter sehen die Chancen des digitalen Wandels vor allem darin, „administrative Aufgaben besser bewältigen zu können“, heißt es. Und nur acht Prozent der Direktorinnen und Direktoren setzen sich Digitalisierung als strategisches Ziel für die Entwicklung ihrer Schule. Gleichwohl sind etwa 70 Prozent der Pädagogen davon überzeugt, dass digitale Medien die Attraktivität ihrer Schule steigern werden.

Auch an den Haltungen und Kompetenzen der Lehrkräfte müsse noch gearbeitet werden, resümiert die Bertelsmann-Stiftung. Deshalb sollte der Einsatz digitaler Medien zum Pflichtprogramm im Lehramtsstudium und in der Weiterbildung gehören, erklärte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Mit dem „Monitor digitale Bildung“ sondiert die Stiftung auch ein wichtiges Geschäftsfeld des Bertelsmann-Konzerns. Die 2016 gegründete „Bertelsmann Education Group“ etwa hat zahlreiche Bildungsanbieter hinzugekauft, vor allem solche, die auf digitale Bildung spezialisiert sind.  [siehe nachfolgender Beitrag:  Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung – Perfektes Zusammenspiel]

Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Damit die Schulen nicht zur nächsten Reform verdonnert werden, die eine kurzsichtige Politik irgendwann zurücknehmen muss.

Hervorhebungen im Fettdruck und eingerückte Elemente durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel:  Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein, Digitales Geräteturnen in der Schule

siehe auch:  „Digitale Bildung“: Big Brother ist teaching you!
Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?

Das Steuerungselement – Schaffung eines öffentlichen Meinungsklimas:

[Beim ifo Bildungsbarometer] wird nicht untersucht, wie Bildungspolitik bestmöglich gestaltet werden sollte, um das Bildungssystem zu verbessern. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, welche Meinungen die Deutschen haben und in welchen Bereichen und unter welchen Umständen sich politische Mehrheiten für oder gegen Bildungsreformen finden. (S. 17)

Die Ergebnisse zeigen also Bereiche auf, in denen politische Reformen auf öffentliche Akzeptanz treffen und somit leichter umsetzbar sein dürften. (S. 18)

Insgesamt zeigt das ifo Bildungsbarometer deutlich, dass die Bereitstellung bestimmter Informationen bildungspolitische Meinungen verändern kann. (S. 37)

aus ifo Bildungsbarometer 2017:
https://www.cesifogroup.de/de/ifoHome/research/Departments/Human-Capital-and Innovation/Bildungsbarometer/Bildungsbarometer2017.html
ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München