Archiv der Kategorie: Schule und Lesen + Schreiben

„Is doch nicht so wich tich“

Hören kann der Siebenjährige, den wir gebeten haben, die Überschrift zu schreiben, gut. Nur mit dem Schreiben hapert es.

Welt am Sonntag, 16.02.2020, von Freia Peters

Rechtschreibung beherrschen? Nein, findet Winfried Kretschmann. Oh doch, sagen Bildungsforscher und kritisieren: Noch immer wird in vielen Grundschulen gelehrt, nach Gehör zu schreiben. Dabei ist bewiesen, dass das Murks ist.

Satzzeichen können Leben retten.

„Wir essen, Opa!“
klingt gleich viel freundlicher als
„Wir essen Opa!“.

Man muss eben wissen, dass ein Komma in den Satz gehört, und auch noch die richtige Stelle dafür finden.

Mehr als ein Viertel der neunjährigen Jungen und Mädchen wüssten das wahrscheinlich nicht und würden wohl auch die Wörter falsch schreiben. Denn mehr als jeder fünfte Viertklässler erfüllt bei der Rechtschreibung laut einer Studie des Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin nicht die Mindeststandards. In den vergangenen Jahren hat sich die Rechtschreibfähigkeit der deutschen Kinder kontinuierlich verschlechtert – in 20 OECD- Staaten zeigen Grundschüler bessere Leistungen als in Deutschland. […]

Mit dem Ziel, es den Kindern leichter zu machen, hatte sich in den 90er-Jahren wie ein Lauffeuer das Konzept verbreitet, Erstklässlern zunächst die Laute der Buchstaben zu vermitteln und dann erst das Alphabet. Es war eine Gegenbewegung zum starren Unterricht der 70er-Jahre, in dem die Schüler hundert Mal dasselbe Wort schreiben mussten. Mit „Lesen durch Schreiben“ sollte sich jedes Kind die Schriftsprache seinem eigenen Tempo entsprechend erarbeiten, der Lehrer den Prozess nur wohlwollend begleiten. Mithilfe der Anlauttabelle (neben dem „A“ ist ein Apfel abgebildet, neben „G“ eine Gabel) sollten schon Erstklässler alle Worte nach Lauten schreiben können und nicht wie beim Fibellehrgang warten, bis sie die jeweiligen Buchstaben gelernt haben. Doch: So wird aus Mädchen „Metchen“, aus Fahrrad „Farat“, oder aus wichtig „wichtich“.

Dabei hat eine groß angelegte Studie der Uni Bonn bewiesen, dass Kinder, die mit der klassischen Fibel lernen, die Rechtschreibung besser beherrschen. Mit ihrem Doktoranden Tobias Kuhl und rund 30 weiteren Nachwuchswissenschaftlern hat Una Röhr-Sendlmeier, Professorin für Pädagogische Psychologie, Leistungen von mehr als 3000 Kindern aus Nordrhein-Westfalen untersucht, die mit einer von drei verschiedenen Methoden schreiben lernten: Mit dem systematischen Fibelansatz, nach dem Buchstaben und Wörter schrittweise nach festen Vorgaben eingeführt werden. Nach der sogenannten Rechtschreibwerkstatt, gemäß der die Kinder selbstständig in individueller Reihenfolge und ohne zeitliche Vorgaben ihre Materialien bearbeiten. Und nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode.

Am Ende der vierten Klasse machten die Schüler der zuletzt genannten Gruppe 55 Prozent mehr Rechtschreibfehler, Werkstattschüler sogar 105 Prozent mehr als Fibelkinder. „Ein klar strukturierter, systematischer Unterricht vom Einfachen zum Komplexen, vom Häufigen zum Seltenen hat sich als klar überlegen erwiesen“, sagt Röhr-Sendlmeier. Das Problem mit der Anlauttabelle sei, dass unterschiedlich gehörte Laute gleich geschrieben werden, etwa Esel und Ente. „Der Ansatz ,Schreib wie du sprichst‘ kann nicht klappen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Das ist eine Irreführung der Kinder.“ Die Tabelle als Kernmittel beim Schreibenlernen zu verwenden, sei fahrlässig. „Durch das Prinzip Versuch und Irrtum wird ein Kind niemals in vier Jahren schreiben lernen.“

Doch dieses Kernprinzip ist noch immer verbreitet. Laut einer Auswertung des Germanistik-Professors Albert Bremerich-Vos [Universität Duisburg-Essen] benutzen 71 Prozent der Viertklässler die Anlauttabelle. 47,9 Prozent der Lehrer setzen sie in ihrem Unterricht sogar intensiv ein. […]

Vor einem Jahr hat die Bonner Psychologin Röhr-Sendlmeier ihre Ergebnisse dem Schulministerium des Landes NRW vorgestellt. Infolgedessen gab im Sommer Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) eine Handreichung an alle Grundschulen des Landes heraus: Der Rechtschreibunterricht benötige mehr Systematik. Schon Erstklässler bräuchten Hinweise auf das normgerechte Schreiben, und sie müssten kurz, aber regelmäßig üben. Die Anlauttabelle könne nicht dem Erwerb der Rechtschreibung dienen, sondern nur ein Hilfsmittel sein. […]

Anne Deimel, Leiterin einer Grundschule und Verbandsvize des Lehrerverbandes VBE in NRW: „Seit etwa zehn Jahren wird der Unterricht in der Grundschule immer schwieriger“. „Die Vorerfahrungen, mit denen die meisten Kinder in die Schulen kommen, haben sich deutlich verändert. Die Klassen werden immer heterogener. Die Lehrkräfte reichen nicht aus.“

Während in den Grundschulen Ressourcen fehlen, entstehen anderswo neue: In den letzten Jahren ist ein riesiger Nachhilfemarkt entstanden. Wer es sich leisten kann, bezahlt seinem Kind die Nachhilfe oder unterrichtet es zusätzlich zu Hause. Das Nachsehen haben Kinder aus bildungsfernen Familien. „Nur bildungsnahe Eltern sind in der Lage, den Schaden von ihrem Kind abzuwenden“, bestätigt die Bonner Forscherin Röhr-Sendlmeier.

„Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal.“

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch folgender Beitrag: „Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden.“

Deutsch-Förderkurs „bei Herr Maier“

Wenn selbst Lehrer die Rechtschreibung nicht beherrschen

Genitiv, Dativ, Satzbau oder Kommasetzung: Viele Lehrer oder Lehramtsstudierende sind schlecht in Grammatik und Rechtschreibung.

F.A.Z., 16.02.2020, Rüdiger Soldt

Auf dem Aufgabenblatt einer Schule in Baden-Württemberg steht:

„Lese den Text und schreibe eine Zusammenfassung.“

Falscher Imperativ. Lies, müsste es heißen. Und weder Schülern noch Lehrern fällt es notwendigerweise auf, wenn ein

Deutsch-Förderkurs „bei Herr Maier“

angeboten wird. Wo es um Rechtschreibung und Grammatik geht, wird gern im kulturpessimistischen Ton über die heutige Schülergeneration geschimpft. Das ist aber eine recht oberflächliche Betrachtung. Denn Schwierigkeiten mit Genitiv, Dativ, Satzbau und Zeichensetzung haben heute nicht wenige Germanistikstudenten, die auf Lehramt studieren, und auch immer mehr Lehrer, die seit vielen Jahren unterrichten. […]

In der Germanistik wird über das Problem erodierender Orthographiekenntnisse seit Mitte der neunziger Jahre diskutiert. Erste Erhebungen über den tatsächlichen Kenntnisstand von Lehramtsstudenten gibt es seit etwa zehn Jahren. Der Linguist und Sprachdidaktiker Albert Bremerich-Vos [Professor i.R., Universität Duisburg-Essen] untersuchte 2016 die Sprachkompetenzen von Studenten, er analysierte 900 studentische Texte. Den Studenten hatte er die Aufgabe gestellt, aus einem feuilletonistischen Zeitungsartikel die zentrale These herauszuarbeiten. 30 Prozent der Texte enthielten mindestens sechs Orthographie- und mindestens fünf Kommafehler. Nur 20 Prozent der Texte wurden als gut eingestuft. Vielen Studenten war es übrigens auch nicht gelungen, die These herauszufiltern.

In dem Forschungsprojekt zur Untersuchung des studentischen Sprachvermögens, verfasst von Dirk Scholten-Akoun [Universität Duisburg-Essen, Zentrum für Lehrerbildung], heißt es: „Mehr als ein Viertel der Lehramtsstudierenden verfügt zu Beginn des Studiums nicht oder nicht in akzeptablem Umfang über die sprachlichen Mittel, die ihnen eine Weiterentwicklung ihrer Schreibkompetenz hin zur wissenschaftlichen Schreibkompetenz erlauben.“ Die Forscher untersuchten die Sprachkompetenzen an drei Universitäten in Nordrhein-Westfalen, die in der Studie anonymisiert wurden. Das Ergebnis zeigt besorgniserregende Defizite:

Elf bis 27 Prozent der Studenten haben erheblichen Förderbedarf in Rechtschreibung, von denen mit Migrationshintergrund sogar bis zu 49 Prozent. Nur ein Zehntel der Studenten beherrscht Grammatik und Rechtschreibung nahezu perfekt und fehlerfrei. Ein Drittel hat Probleme in der Textauslegung und Rechtschreibung. […]

Die Germanisten und Praktiker aus der Lehrerausbildung sind von den Äußerungen zur Rechtschreibung des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, wenig überzeugt. Er sagte, es sei nicht mehr so wichtig, Rechtschreibung zu pauken, weil es ja „kluge Geräte“ gebe, die Grammatik und Fehler korrigierten. […]

Die Fachdidaktikerin Dr. Ulrike Behrens, Institut für Germanistik [an der Universität Duisburg-Essen]: „Wenn die Rechtschreibprobleme von Schülern und Lehrern auf die Digitalisierung oder Whatsapp geschoben werden, ist mir das viel zu simpel. […] Die Schule ist der Ort, wo die Rechtschreibnormen thematisiert werden müssen, darauf können wir nicht verzichten.“ […] Behrens weiter: „Ob die Künstliche Intelligenz das Lernen von Rechtschreibregeln irgendwann überflüssig machen wird, bezweifle ich.“

Es sei schon besser, wenn die Schüler weiterhin lernten, im Kopf zwischen Komma und Koma zu unterscheiden.

zum Artikel: F.A.Z., 16.02.2020, Rüdiger Soldt, Deutschstunde bei Herr Maier

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Ministerpräsident Kretschmann: „Rechtschreibung nicht mehr so wichtig wie früher“.

Rechtschreib-Streit: Philologen kritisieren Kretschmann – und die Grundschulen

NEWS4TEACHERS, 27. 01. 2020

STUTTGART. Mit scharfen Worten hat der Vorsitzende des Philologenverbands Baden-Württemberg, Ralf Scholl, die Aussagen von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zum Thema Rechtschreibung zurückgewiesen – und dabei den Grundschulen einen Seitenhieb versetzt: Die hätten mit der Methode “Schreiben wie Hören” dafür gesorgt, dass eine “ganze Generation von Kindern” mit Rechtsschreibproblemen aufwachse.

Kretschmann hatte die Ansicht vertreten, dass die Bedeutung, Rechtschreibung zu pauken, abnehme, «weil wir heute ja nur noch selten handschriftlich schreiben». Außerdem gebe es «kluge Geräte», die Grammatik und Fehler korrigierten. «Ich glaube nicht, dass Rechtschreibung jetzt zu den großen, gravierenden Problemen der Bildungspolitik gehört», hatte er gesagt und Widerspruch von der CDU und deren Kultusministerin Susanne Eisenmann im eigenen Land geerntet. […]

„Ich habe gute Rechtschreibkenntnisse. Ich glaube, die sind sogar sehr gut.“: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann [schön für ihn].

Die Stärkung des Deutsch-Unterrichts und der Rechtschreibung, nachdem in den letzten 25 Jahren in den Bildungsplänen immer weniger Wert auf Rechtschreibung gelegt wurde, sei überfällig und richtig. “Die fatale Methode ‘Schreiben nach Hören’ in der Grundschule hat ein übriges dazu getan, eine ganze Generation von Kindern mit massiven Rechtschreibproblemen aus der Schule ins Leben zu entlassen. Es ist gut, dass daraus mittlerweile Konsequenzen gezogen wurden”, meint Scholl mit Blick auf einen Erlass von Landeskultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), mit dem die Methode nach einem Absturz Baden-Württembergs im IQB-Länderranking „Schreiben wie Hören“ verboten wurde.

Wenn politische und ideologische Vorstellungen auf Wirklichkeit treffen:

Rainer Werner, Lehrer für Deutsch und Geschichte, Autor, Berlin: „Beim Vera-3-Test [Bundesweite Vergleichsarbeiten im 3. Schuljahr] im Schuljahr 2014/2015 waren die Ergebnisse für die Berliner Grundschüler verheerend. Die Hälfte der Drittklässler erfüllte nicht die Mindestanforderungen an die Rechtschreibung, wie sie die Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegt hatte. Sie können, wie es im Kommentar des Instituts für Schulqualität (ISQ) hieß, gerade einmal „lautgetreu“ schreiben. Schüler bringen Wörter also so zu Papier, wie sie diese hören, nicht aber, wie sie korrekt geschrieben werden.“ Aus: FAZ, Bildungswelten, 06.04.2017, Rainer Werner, Sollten Schüler erst einmal so schreiben, wie sie wollen? – Nein!
[Nichts hat sich verändert: In der Rechtschreibprüfung von 2017 erfüllte knapp die Hälfte der Schüler nicht einmal die Mindestanforderungen.]

Im Tagesspiegel schrieb am 11.09.2016, Harald Martenstein eine Glosse zu diesem Thema: „Es gibt seit Jahren einen bundesweiten Schultest namens „Vera“. Berlin schneidet meist desaströs ab. Zuletzt wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Berliner Drittklässler im Grunde weder lesen noch schreiben kann. Einige wissen immerhin, dass es so etwas wie „Schrift“ gibt. Vor ein paar Tagen kam dank „Tagesspiegel“ heraus, dass die Schulverwaltung die neuen Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen wollte, vermutlich, um in der Bevölkerung keine Ängste zu schüren. Das kam nicht gut an, sie mussten den Geheimhaltungsplan aufgeben. Es reicht, wenn die Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt werden.
Wenn es dir nicht mal mehr gelingt, etwas zu vertuschen, hast du als Regierender wirklich ein Problem. (…)“

„Vor diesem Hintergrund verdient eine Längsschnittstudie Aufmerksamkeit, in der die Schreibfähigkeit von Viertklässlern untersucht wurde. Wolfgang Steinig, Germanistikprofessor aus Siegen, hat dort in mehreren Zyklen erhoben, wie sich die Fähigkeiten der Grundschülerinnen und Grundschüler in Sachen Zeichensetzung, Grammatik, Textgestaltung und Wortschatz über Jahrzehnte hinweg verändert haben. Dabei kam heraus, dass sich die Zahl der Rechtschreibverstöße, der Flexions- und der Satzbaufehler von der ersten Messung im Jahr 1972 bis zur dritten Messung im Jahr 2012 deutlich erhöht hat. Machten die Schülerinnen und Schüler in den 70er Jahren etwa sieben Rechtschreibfehler pro 100 Wortformen, waren es 2002 rund zwölf und im Jahr 2012 bereits 17 Fehler. […] Einen Grund für die Veränderungen in der Fehlerart sieht der Professor in methodischen Umwälzungen im Anfangsunterricht der Grundschule. Während vor den 70er Jahren die geschriebene und die gesprochene Sprache möglichst von Beginn an mit der korrekten Schreibweise verbunden gelehrt wurden, wird das Schreiben in vielen Bundesländern mittlerweile nach Gehör mithilfe von Anlauttabellen unterrichtet. Die Fehlertoleranz ist enorm hoch.“  Aus: BILDUNGBEWEGT, NR. 27, 3/2015, Sabine Stahl, „von Raichtuum und Amuut“ – Im Dilemma zwischen Wortschatz und Wortwahl, Schreiben und Tippen, Pflicht und Kür.

Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam: Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode [umgangssprachlich „Schreiben nach Gehör“] mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist“.
Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen.  „Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“  Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode.

Prof. Tenorth, Historiker und Bildungsforscher, Humboldt-Universität zu Berlin im Interview mit Heike Schmoll, FAZ, Bildungswelten, 28.12.2017:
Heike Schmoll: Was müsste man tun, um das Dilemma zu lösen, dass es Grundschulen offenbar nicht gelingt, die kulturellen Basiskompetenzen so zu vermitteln, dass weiterführende Schulen darauf aufbauen können?
Prof. Tenorth: […] Die Grundschule garantiert die basale Grundbildung nicht, weder im Lesen, Schreiben und der Orthographie, noch für mathematische Basaloperationen oder naturwissenschaftliche Grundeinsichten im Sachunterricht. Wie kann ein Land, eine Schule, eine professionelle Lehrerschaft damit zufrieden sein oder mit dem Befund, dass sie im besten Fall zehn Prozent in den oberen Leistungsstufen hat?
Hier in Berlin könnte man bei der [Schul-]Verwaltung zuweilen den Eindruck haben, dass man Leistung gar nicht will.
In der Tat gibt es in der Grundschulpädagogik auch die Auffassung, dass man in der Primarstufe nicht leistungsdifferent arbeiten darf, weil das Enttäuschungen bereitet, die Kinder verletzt und ihre Zukunft verbaut – eine Kritik, die ich für aberwitzig halte. Es gibt aber immer noch die Befürworter des Schreibens nach Gehör, die Gegner der Leistungsbewertung und bei allen Bundesländern die Angst, wegen zu strenger Standards schlecht dazustehen. Iglu- und Pisa-Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen, weil die beteiligten Politiker wochenlang daran gearbeitet haben, nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt. Diese Strategie ist bei allen Bildungspolitikern, gleich welcher Couleur, stark ausgeprägt. Länder wie Bayern tragen das relativ gefasst, weil sie auch relativ gute Ergebnisse haben. Doch auch dort wird daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort steht, das ein Versäumnis der Bildungspolitik anzeigen könnte. […] Stattdessen hat die Politik ein permanentes Interventionsregime errichtet. Die Politik bejubelt sogar, dass nur noch sechs bis sieben Prozent kein Abschlusszeugnis haben, und ignoriert – gegen die eigenen Kompetenzmessungen –, dass mehr als zwanzig Prozent in der Schule nicht die Kompetenz erwerben, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilzunehmen, und dass etwa 25 Prozent der Ausbildungsverträge nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden, weil elementare Fähigkeiten fehlen.

“Die Professoren an den Hochschulen sind zunehmend fassungslos, wie katastrophal Rechtschreibung und Grammatik in den wissenschaftlichen Arbeiten ihrer Studenten, selbst in wichtigen Abschlussarbeiten, mittlerweile sind”, so sagt Scholl. “Fünf bis zehn Fehler pro Seite sind trotz Rechtschreib- und Grammatikprüfung im Textprogramm keine Seltenheit mehr.” Die Äußerungen des Ministerpräsidenten seien ein Bärendienst für alle Bemühungen, Baden-Württembergs Schüler wieder vom Mittelmaß an die deutsche und internationale Leistungsspitze zu bringen. Auch Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Bettina Martin (SPD) hatte Kretschmann widersprochen. «Ich wundere mich sehr über Winfried Kretschmanns Ansicht, dass Rechtschreibung heutzutage keine Rolle mehr spielen soll», sagte sie. Heute meldete sich die frisch ins Amt als KMK-Präsidentin eingeführte rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) zu Wort. «Wir müssen in den Schulen dafür Sorge tragen, dass unsere Schülerinnen und Schüler richtig rechnen, lesen und schreiben lernen. Das ist die Grundlage für alles Weitere», betonte sie. «Dazu gehört vor allem auch die Rechtschreibung.» Digitale Endgeräte wie Handys und Tablets hätten viele Vorteile, so Hubig. «Aber wer sich in Sachen Rechtschreibung auf sie verlassen muss, ist schnell verlassen.»

Viele Berliner Schulen reagieren verlegen bis abwehrend, wenn sie nach der Anzahl der Lese-Rechtschreib-Schwachen gefragt werden. Die Zahlen werden auch nicht von der Schulbehörde erhoben – ein Schelm, der dabei Böses denkt. Aus: „Varat“-Fahren – Rechtschreibung in der Grundschule, von Heike Schmoll, S. 9, Sendung: SWR 2, Aula, Sonntag, 28.08.2016

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch:
Kölner Stadt-Anzeiger, 13.7.2019, Karlheinz Wagner und Michael Hesse im Gespräch mit Prof. Una Röhr-Sendlmeier.
Ideologische Schieflage bei der Rechtschreib-Debatte
„Kinder werden systematisch in die Irre geführt“
Berliner Zeitung, 24.01.2020, Kommentar Tobias Peter, Rechtschreibung ist unwichtig? Unsinn, Herr Kretschmann!
Stuttgarter Zeitung, 24.01.2020, red/dpa/lsw, „Rechtschreibung nicht mehr so wichtig wie früher“.

Lesefreude gedeiht immer auch durch das Vorbild

Lesen oder das Lesen lassen

Statt Büchern nur Texthappen – das schadet dem Denken und Fühlen

Tagesspiegel, Meinung, 29.12.2019, von Caroline Fetscher

Auf zigtausenden von Nachttischen liegen sie, sie stapelten sich auch wieder auf Gabentischen: die zu Weihnachten verschenkten Bücher. Wer wird sie lesen? Laut Umfrage sind Bücher und E-Books nach Gutscheinen oder Bargeld und nach Süßwaren das drittbeliebteste Geschenk. Insbesondere Kindern und Jugendlichen überreichen Verwandte und Paten gerne „das gute Buch“.

Doch das Lesen finden viele der Beschenkten als plagend. Auch aus Hochschulen berichten Lehrende von Widerstand, wenn Leselisten fürs Seminar Buchtitel enthalten, deren Lektüre vorausgesetzt wird. „Das ganze Buch?“ Hörbar flackert im zweiten Wort der Schrecken. Wie viel Zeit und Konzentration das kostet! […]

Lesen ist Übungssache, und Lesefreude gedeiht immer auch durch das Vorbild lesender Erwachsener. „Die Lesesozialisation beginnt ganz klar im Elternhaus“, erklärt Susanne Lin-Klitzing, die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, in Sorge um den Rückgang der basalen Kulturtechnik. [Sie] hat die Bundesländer nach dem Lesen von „Ganzschriften“, dem Synonym für Bücher, abgefragt, um festzustellen, dass in der Sekundarstufe I „in der Regel pro Schuljahr eine Ganzschrift gelesen“ wird. Zwei Bücher sind es in der Sekundarstufe II. In Bayern und Schleswig-Holstein wird ab der achten Klasse mehr gelesen, „in der Oberstufe sogar zwei Ganzschriften pro Halbjahr“. In Thüringen oder Bremen weniger. Lin-Klitzing befindet: „Wenn Lehrkräfte sich dafür rechtfertigen müssen, dass sie von Schülerinnen und Schülern verlangen, sich durch die (klassische) Lektüre zu arbeiten, weist das auf ein gesellschaftliches Problem hin.“

In Regionen mit sozialdemokratischer Bildungspolitik sieht es teils besonders miserabel aus. Wo inzwischen das Niveau weiter und weiter gesenkt wird, damit möglichst viele Jugendliche durchs Abitur kommen, wird dem sozialen und demokratischen Gedanken kein Gefallen getan. Traditionell legen Sozialdemokratie und Sozialismus besonderen Wert auf Bildung als Schlüssel zu mehr Chancen. Doch Bildung braucht nicht nur das Abschlusszeugnis, sondern Substanz. […]

Harald Martenstein schrieb am 8.12.2019 im TSP unter dem Titel „Ein Tsunami von Problemen“: „21 Prozent der 15-Jährigen können in Deutschland, trotz Schulpflicht, keinen einfachen Text lesen und verstehen, in Berlin ist die Zahl höher. Der Staat erfüllt seine Kernaufgabe nicht mehr, allen Kindern ein Minimum an Chancen und Bildung zu verschaffen. [Mehr als jeder achte Sekundarschüler (Integrierte Sekundarschule, ISS) hat auch in diesem Jahr in Berlin die Schule ohne Abschluss verlassen: Ihre Misserfolgsquote stieg damit von zwölf auf 13 Prozent (2017=8%, 2018=12%, 2019=13%). Dies entspricht 1700 Schülern. (TSP, 16.10.2019, Susanne Vieth-Entus)] Diese Menschen werden keinen Zugang zu Jobs mit Zukunft haben, ein Tsunami an sozialen Problemen rollt auf uns zu. […] Wenn dieses Land nicht zerfallen und absteigen soll, müsste Bildungspolitik den gleichen Stellenwert haben wie Klimaschutz. Und die Bildungspolitik müsste sich ändern. Beides ist nicht zu erkennen. Die Einheitsschule und die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, heilige Kühe der Linken, haben wenig bis nichts gebracht. Der Plan, fast alle Kinder zum Abitur zu führen, wird spätestens dann irrsinnig, wenn viele Kinder nicht einmal mehr lesen können und Handwerker keine Azubis finden. Eines der Hauptübel ist auch die protektionistische Pädagogik, die Kinder vor „Überforderung“ schützen will und ihnen die Lüge einredet, Erfolg sei ohne Anstrengung zu haben. Eine Schule, die nicht Leistungswillen fördert, macht lebensuntüchtig.“

Es ist keine kulturkonservative Klage, das Wecken von Leselust einzufordern. Mit dem Aufnehmen von Buchfragmenten und Texthappen bildet sich nicht heraus, worum es beim Lesen geht. Nämlich um Sinn für Zusammenhänge, um die Fähigkeit, Emotionen und Situationen aus mehreren Perspektiven zu erfassen, darum, die eigene Kritikfähigkeit und Vorstellungskraft zu stärken. Und, so formuliert es die Bildungsexpertin Lin-Klitzing, darum, „gründlich und vertieft auch über sich selbst nachzudenken“. Geschieht das nicht, gerinnt substantielle Lesekompetenz zum Milieumerkmal einer privilegierten Schicht am oberen Rand des Bildungsbürgertums, und die Klassenschere klafft weiter auseinander. […]

zum Artikel: Tagesspiegel, 29.12.2019, Caroline Fetscher, Lesen oder das Lesen lassen
Textauswahl in grau unterlegtem Einschub durch Schulforum-Berlin.

„Ich lese nur, wenn ich muss“

Sie mögen den Satz nur, wenn er kurz ist

Laut der neuen Pisa-Studie hält jeder dritte Jugendliche in Deutschland das Lesen für reine Zeitverschwendung/Von Heike Schmoll, Berlin

Deutsche Schüler gehören zu den größten Lesemuffeln bei der Pisa-Studie. Das dürfte auch daran liegen, dass sie das Lesen einfach zu schlecht beherrschen. Wenn jeder fünfte 15 Jahre alte Jugendliche nur einfache Satzkonstruktionen ohne Nebensätze und mit schlichten Aussagen versteht, macht es natürlich keine Freude, komplexe Texte zu lesen – schon gar nicht freiwillig. Die Schüler liegen beim Lesen zwar über dem OECD-Durchschnitt, lesen aber erheblich schlechter als Schüler in Estland, Kanada und Finnland. Zum hundertsten Geburtstag hat sich Finnland selbst eine Nationalbibliothek geschenkt.

In Deutschland liest die Hälfte der Jugendlichen nicht zum Vergnügen. 50,3 Prozent der 15 Jahre alten Jugendlichen stimmen der Aussage zu „Ich lese nur, wenn ich muss“. Bei den Jungen sind es sogar 60,6 Prozent, bei den Mädchen 36 Prozent. 34,2 Prozent aller deutschen 15-Jährigen sehen das Lesen als Zeitverschwendung und 54,5 Prozent lesen nur, um Informationen zu bekommen, die sie brauchen. All diese Werte sind deutlich ungünstiger als im OECD-Durchschnitt. Nur 26,5 Prozent bezeichnen Lesen als eines ihrer liebsten Hobbys. Dieser Wert liegt deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 42 Prozent […]

Nur eine sehr kleine Gruppe von fünf Prozent der 15 Jahre alten Jugendlichen liest täglich zwei Stunden zum Vergnügen. Die meisten Schüler lesen nur für die Schule und in der Schule, außerhalb kaum.

Die Förderung der Lesemotivation und des Leseverhaltens müsse in der Vorschulzeit beginnen und dann über die gesamte Schulzeit fortgeführt werden, schreiben die Forscher. Die Koordinatorin der deutschen Pisa-Erhebung, die Mathematikprofessorin Kristina Reiss von der TU München, verwies auch auf die Lesefähigkeit am Ende der Grundschulzeit.

Wer am Ende der vierten Klasse nicht sicher lesen könne, lerne das auch nicht bis zum 15. Lebensjahr, zumal die weiterführenden Schulen nicht darauf vorbereitet seien, Lesetechniken zu vermitteln.

Deutlich mehr Lesemuffel

Im Vergleich zur letzten Pisa-Studie mit dem Schwerpunkt Lesen aus dem Jahr 2009 ist der Anteil der Lesemuffel in Deutschland noch einmal erheblich gestiegen. Warum die ohnehin schon gering ausgeprägte Lesefreude in den vergangenen neun Jahren noch einmal stark abgenommen hat, ist unklar. Durch die digitalen Möglichkeiten, das Lesen im Internet, Websites, Suchmaschinen und soziale Medien haben sich auch die Aufgabenformate bei Pisa verändert. Der Leseprozess ist zumeist in übergeordnete Handlungsziele eingebettet – es geht nicht nur darum, Informationen zu finden, sondern auch um Textverstehen, Kombination und Schlussfolgerungen sowie um die Einschätzung von Glaubwürdigkeit und Qualität des Textes und das Bewerten von Form und Inhalt, also um Lesen im Internet. Auch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit war zu leisten, Widersprüche sollten entdeckt werden. Getestet haben die Forscher auch die Leseflüssigkeit. Die Tests wurden am Computer ausgeführt und nahmen etwa zwei Stunden in Anspruch. Beim Online-Lesen haben sich in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen ergeben. So hat das Chatten an Beliebtheit noch zugenommen und übertrifft die E-Mail, die stetig an Bedeutung verliert. Diese Veränderungen sind in allen OECD-Staaten zu beobachten. Nur jede fünfte Schule in Deutschland hat bisher ein Konzept zur Kooperation von Lehrern beim Einsatz digitaler Medien, nur 13 Prozent der Schulleitungen planen für ihre Lehrer Zeit ein, um einen Unterricht mit diesen Medien entsprechend vorzubereiten.

Aufschlussreich ist, dass 15 Jahre alte Schüler an nicht gymnasialen Schulformen mehr Zeit mit digitalen Medien verbringen als Gleichaltrige am Gymnasium. Besonders viele schwache Leser finden sich – nicht überraschend – in den nichtgymnasialen Schulformen, es sind wieder deutlich mehr als bei der letzten Pisa-Studie mit Schwerpunkt Lesen, der Anteil liegt jetzt bei 29,2 Prozent.

Insgesamt liegen 21 Prozent der 15-jährigen auf den untersten Kompetenzstufen [Kompetenzstufe I], können also nur einfache Sätze und nur wenige Informationen entnehmen.

Stufe I: Oberflächliches Verständnis einfacher Texte
(Skalenwerte 335–407)
Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, verfügen lediglich über elementare Lesefähigkeiten. Sie können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten. Es können nur relativ offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt werden. Kompetenzstufen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften

In Estland liegt der Anteil der schwachen Leser bei nur elf Prozent, in Irland bei zwölf Prozent und in Finnland und Kanada bei jeweils 14 Prozent. Die Förderung besonders leseschwacher Schüler müsse über alle Schularten hinweg in Angriff genommen werden. „Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, dass eine Unterstützung der Leistungsspitze eine zentrale Aufgabe bleibt“, schreiben die Forscher. Die Streuung, also die Unterschiede zwischen den stärksten und schwächsten Lesern, sind in Deutschland noch erheblich gewachsen. Das gilt aber selbst für Länder mit guten Ergebnissen wie Finnland. Schüler in Deutschland verfügen über das höchste Lesestrategiewissen im gesamten OECD-Vergleich, doch sie scheinen es nicht anwenden zu können. Sie wissen, dass es sinnvoll sein kann, die wichtigsten Sätze im Text zu unterstreichen und die Kernaussagen anschließend in eigenen Worten zusammenzufassen. Offenkundig wurde viel Zeit in die Vermittlung von Lesestrategien verwendet, aber wenig in Übungsphasen.

Erfreulich ist, dass die Gruppe der sehr guten Leser deutlich gewachsen ist, was vor allem für Gymnasiasten gilt. An nichtgymnasialen Schularten ist aber auch der Anteil schwacher Leser gewachsen. Die Gruppe der Spitzenleser liegt in Deutschland bei elf Prozent, in Kanada sogar bei 15 Prozent und in Estland und Finnland bei 14 Prozent. In Singapur soll sie sogar bei 26 Prozent liegen, doch dort kann es sich auch um eine Positivauswahl von Schülern handeln. Die Mädchen lesen deutlich besser als die Jungen, das gilt für alle OECD-Länder. In Deutschland nahmen an 223 Schulen insgesamt 5451 Schüler aller Schularten teil. Die Stichprobe ist repräsentativ. Mit einer Beteiligung von mehr als 99 Prozent der 15 Jahre alten Schüler ist Deutschland ein Musterland. Selbst in einem Spitzenland wie Estland liegt die Beteiligung deutlich niedriger, bei 93,1 Prozent. Es kann aber sein, dass Estland die Schüler mit Muttersprache Russisch nicht beteiligt hat – denn für sie ist Estnisch die erste Fremdsprache, Englisch kommt dann noch hinzu. Besonders niedrig ist die Beteiligung in Albanien (45,8 Prozent), in Kolumbien (61,9 Prozent) in Mexiko (66,4 Prozent) und in Kanada (86,3 Prozent).

Das Elternhaus entscheidet

Bei Pisa 2018 zeigte sich bei den Schülern mit Migrationshintergrund eine deutlich heterogenere Gruppe. Während 2009 noch viele Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion, der Türkei und Polen stammten, sind es inzwischen viele aus „anderen Herkunftsländern“, also aus Syrien, dem Kosovo und Rumänien. Während sich die Lesekompetenz von Mitgliedern der sogenannten ersten Generation von Migranten 2018 verschlechtert hat, verbesserte sich die Lesefähigkeit der zweiten Generation. Wie kaum eine andere Fähigkeit hängt die Lesekompetenz nicht nur in Deutschland mit dem sozioökonomischen und kulturellen Status der Herkunftsfamilie zusammen.

Der Leistungsunterschied im Bereich Lesekompetenz zwischen Schülern mit bildungsnahem und bildungsfernem Elternhaus ist beträchtlich und hat sich seit 2009 um neun Prozentpunkte ausgeweitet. Die privilegiertesten 25 Prozent der Schüler haben gegenüber den bildungsfernen 25 Prozent einen Leistungsvorsprung von 113 Punkten – das sind 24 Punkte mehr als im OECD-Durchschnitt.

Etwa zehn Prozent der sozioökonomisch benachteiligten Schüler haben es geschafft, zu den besten Lesern zu gehören, ebenso wie 16 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist ähnlich groß wie in der Schweiz, in Belgien, Frankreich und Luxemburg und liegt deutlich über dem OECD-Mittel. In Estland, Kanada, Norwegen, Finnland und Dänemark gelingt es deutlich besser, sozial bedingte Nachteile auszugleichen. Erfreulich ist, dass sich deutsche Schüler an ihren Schulen wohl fühlen, allerdings ist jeder sechste Schüler von Mobbing betroffen.

Wie im Lesen liegen die Jugendlichen in Deutschland auch in Mathematik über dem OECD-Durchschnitt, ihre Leistungen haben sich im Vergleich zur letzten Studie allerdings verschlechtert. In nicht-gymnasialen Schularten liegt die Gruppe der schwächsten Schüler bei 30 Prozent. In den Naturwissenschaften ergibt sich ein ähnliches Bild.


Einschub von Grafik und Tabelle durch Schulforum-Berlin:

Grafik aus: http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/PISA2018_CN_DEU_German.pdf

Die durchschnittlichen Leseleistungen sind in Deutschland nach den in der ersten Zeit – bis 2015 – erzielten Verbesserungen 2018 wieder in etwa auf das Niveau von 2009 zurückgefallen.

In Mathematik stiegen die Leistungen von 2003 bis 2012 an. Von 2012 bis 2018 fielen die Matheleistungen kontinuierlich. Die Ergebnisse von PISA 2018 waren deutlich unter jenen von 2012 und unter denen von 2003.

In Naturwissenschaften stiegen die Leistungen bis 2012 und fielen kontinuierlich bis 2018. Die mittlere Punktzahl in den Naturwissenschaften war 2018 niedriger als 2006.


Der Anteil der leistungsschwachen Schüler liegt etwa bei einem Fünftel. Wie in allen anderen Pisa-Staaten auch sind die Mädchen bessere Leser als die Jungen. Allerdings ist der Unterschied im Vergleich zum OECD-Schnitt kleiner. Das liegt daran, dass sich der Anteil der lesestarken Jungen verdoppelt hat und die Mädchen etwas schlechter wurden. In Mathematik und Naturwissenschaften indessen haben sich die Jungen erheblich verschlechtert, weshalb der Leistungsabstand zu den Mädchen geschrumpft ist. In den Naturwissenschaften sind jetzt beide Geschlechter gleich gut.

zum Artikel: F.A.Z. – POLITIK, 04.12.2019, Heike Schmoll, Sie mögen den Satz nur, wenn er kurz ist

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben, Einfügen der Grafik und der Tabelle, Texthervorhebung im Fettdruck sowie Text kursiv durch Schulforum-Berlin.

siehe auch diesen Beitrag:
Sicher können deutsche Schüler mehr! Ein Kommentar zum mäßigen Abschneiden bei der PISA-Studie – aus Lehrersicht, von Michael Felten


Man kann alles schönreden

Aus der Pressemitteilung zur PISA-Studie, 03.12.2019, (OECD Programme for International Student Assessment, Technische Universität München):

15-Jährige auf gutem Niveau im Studienschwerpunkt Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften

PISA-Studie: Gute Ergebnisse im Lesen

15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland können gut Texte verstehen, nutzen und bewerten. In der neuen PISA-Studie übertreffen sie mit ihren Lesefähigkeiten den Durchschnitt der Jugendlichen in den OECD-Staaten. Auch in Mathematik und Naturwissenschaften erreichen die deutschen Ergebnisse ein gutes Niveau. Allerdings ist an den nicht gymnasialen Schulen in allen Kompetenzbereichen der Anteil der Jugendlichen mit sehr geringen Fähigkeiten größer geworden. […]

„Ich denke, sie meint, es sei anders, als ich denke“

Lesenlernen mit Inhalten

Kritische Anmerkungen zur Theorie der Lesekompetenz

F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 17.10.2019, Gerhard Lauer

Der Autor ist einer der Unterzeichner der Stavanger-Erklärung und lehrt Digital Humanities an der Universität Basel.

Lesen muss aufwendig gelehrt und gelernt werden, denn anders als der Spracherwerb ist der Leseerwerb nicht angeboren. […] Nach der Unesco-Definition der Lesefähigkeit – das ist die Fähigkeit, einfache und kurze Aussagen über sein eigenes Leben lesen und schreiben zu können –, können gegenwärtig über 80 Prozent der Weltbevölkerung lesen. Noch nie haben so viele Menschen mindestens die wichtigsten Dinge über ihr Leben niederschreiben und lesen können.

Die Lesefähigkeit ist aber sehr ungleich verteilt. Das hat viele Gründe. In reichen Industrieländern wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten spielen Konzepte des schulischen Leseerwerbs eine große und wenig glückliche Rolle. Die letzte Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu aus dem Jahr 2016 führte als einen der Gründe für das nur mittelmäßige Abschneiden der deutschen Grundschüler die mehr als 80 Programme zur Lese- und Schreibförderung an, die nicht ausreichend auf ihre Wirksamkeit getestet wurden. Die durch die Einwanderung bedingte Spreizung in der Lesefähigkeit wird durch viele dieser Programme nicht verringert, sondern noch verstärkt. In den Vereinigten Staaten ist der Befund ähnlich. Auch hier hat besonders die Politik des „No Child left behind“ dazu geführt, dass Lesen nicht mehr von allen Kindern ausreichend erlernt wird, obgleich genau das Gegenteil das Ziel des Programms ist. Der Grund für die mangelnde Wirksamkeit so vieler Leseerwerbsprogramme liegt in deren Ausrichtung an der Lesekompetenz, für die Inhalte zweitrangig sind. Lesen soll als eine allgemeine Fähigkeit gelernt werden mit Lesebüchern, deren Inhalte austauschbare Beispiele sind, um die Lesefähigkeit einzuüben. Das entspricht der Vorstellung des kompetenzorientierten Unterrichts, wie er aus den teils groben Vereinfachungen der Bildungsreform-Debatten der siebziger Jahre hervorgegangen ist. War dort noch, etwa in Wolfgang Klafkis Konzept der kategorialen Bildung, auch die Bedeutung der materialen Bildung und das Lernen an grundlegenden Sachverhalten Teil des Lernprozesses, so verschoben sich die Gewichte bald schon in Richtung inhaltsdünner Kompetenzen, die mit solchen Formeln wie das Lernen zu lernen und das kritische Denken einzuüben gutmeinend umschrieben werden. Mit dem Bologna-Prozess hat die Kompetenzorientierung längst auch die Universitäten erreicht. Kompetenz ist hier alles, wer spricht von Inhalten?

Kompetenzen und nicht Inhalte zu vermitteln ist aber deshalb ein höchst problematisches Mantra beim Lesenlernen, weil es die Schwachen schwächer macht und die Starken unterfordert. Denn die Kinder aus bildungsnahen Familien haben anders als Kinder aus bildungsfernen mehr Wörter und damit auch Sachverhalte schon zu Hause gelernt und können komplexere Texte besser lesen, weil sie mehr über die Welt wissen und die entsprechenden Wörter kennen. Zu diesem Zusammenhang von frühem Erwerb von Wörtern und Sachverhalten gibt es eine Reihe von Studien, prominent die Studien zum kindlichen Spracherwerb von Betty Hart und Todd Risley aus den neunziger Jahren. Sie haben die Interaktion zwischen Eltern und Kindern über viele Jahre in Familien verschiedener Einkommensgruppen untersucht. Ihre Forschungen haben gezeigt, dass Kinder mit geringerem sozioökonomischen Status in ihren ersten vier Lebensjahren bis zu 30 Millionen Wörter weniger hören als Kinder aus bessergestellten Familien. Millionen nicht gehörter Wörter sind vor allem fehlendes Weltwissen. Und das zählt, wenn anschließend in der Schule Lesen gelernt wird.

Denn wenn Schulen Lesekompetenz unterrichten und dafür die Vermittlung von Weltwissen zurückstellen, verstärken sie die sozialen Unterschiede, die sie zu überwinden vorgeben. Das ist keine neue Einsicht, auch wenn gegen sie immer wieder verstoßen wird. Schon in den achtziger Jahren haben Leseforscher wie Donna Recht und Lauren Leslie gezeigt, wie stark das Leseverstehen vom Vorwissen über ein Thema abhängt. Einen Text über Fußball kann man nur verstehen, wenn man dessen wichtigste Regeln kennt. Das gilt noch mehr für das Verstehen komplexer Zusammenhänge in Texten über den Klimawandel oder von komplizierten psychologischen Figurenmotivationen in anspruchsvollen Büchern.

Weil so viel Wissen fehlt, misslingt ein kompetenzorientierter Leseerwerb, der die Unterschiede im Weltwissen nicht ausgleicht. In ihrem gerade erschienenen Buch „The Knowledge Gap“ kritisiert die amerikanische Bildungsjournalistin Natalie Wexler scharf die Orientierung an der Lesekompetenz als Maßstab für den Leseerwerb und betont die Notwendigkeit, wieder Inhalte zu vermitteln einschließlich der Vokabeln, die es dazu braucht, um Unterschiede zwischen „notwendig“ und „hinreichend“ zu erfassen oder Komplementsätze wie „Ich denke, sie meint, es sei anders, als ich denke“ zu nutzen. Wexler benennt nicht nur die Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren zu dieser Problematik, sondern berichtet aus der Praxis aufmerksamer Lehrer, die nicht Geschichten aus dem Internet ziehen, sondern spannende Inhalte auswählen, die das Wissen über die Welt erweitern und Hunger nach mehr Wissen erzeugen. Das alles kann gar nicht früh genug einsetzen. Bundesländer, die wie etwa Hamburg Vierjährige auf ihre Sprachkenntnisse testen und dann auch verpflichtenden Sprachunterricht vorschreiben, lehren mehr Wörter und damit mehr Wissen und können Verbesserungen in den Leseleistungen ihrer Grundschüler dann auch nachweisen, selbst wenn die zwanzig Minuten pro Woche Sprachförderunterricht nur ein Anfang sein können. Eines der verblüffenden und doch eigentlich nicht neuen Ergebnisse all dieser Anstrengungen ist, dass ein Unterricht, der den Kindern mehr Kenntnisse über die Welt vermittelt, sie zu besseren Lesern erzieht. Wer also Weltwissen als Unterrichtsaufgabe ernst nimmt, verbessert das Lesen der Kinder. […]

zum Artikel: F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 17.10.2019, Gerhard Lauer, Lesenlernen mit Inhalten