Archiv der Kategorie: Schule und Kompetenzen

Vera 3: Berliner Drittklässler können viel zu wenig

Vergleichsarbeiten in Mathe und Deutsch

Die Ergebnisse sind seit Jahren miserabel: Mehr als die Hälfte der Schüler kann nicht ausreichend lesen und rechnen.

Tagesspiegel, 20.07.2019, Laura Hofmann

Mit Deutsch und Mathe haben Berlins Schüler weiterhin große Probleme. Wie in den vergangenen Jahren bleiben mehr als die Hälfte der Drittklässler hinter den durchschnittlichen Erwartungen des Bildungsstandards zurück.

In Deutsch wurden die Kompetenzbereiche Lesen und Zuhören abgefragt, in Mathematik die Kompetenzbereiche Raum und Form sowie Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit.

Die Ergebnisse: Beim Lesen bleiben 29 Prozent der Kinder hinter den Mindestanforderungen zurück (Kompetenzstufe 1), 23 Prozent erfüllen zwar die Mindestanforderungen, aber nicht die durchschnittlichen Erwartungen (Kompetenzstufe 2). 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler übertreffen die Erwartungen bei Weitem. In Berlin gelten die Kinder in Kompetenzstufe 1 als Schüler mit besonderem Förderbedarf. [Diesen Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kenntnisse, um den erfolgreichen Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule zu bewältigen. (aus: VERA 3 2016 – Landesbericht Berlin, S.2]

Beim Zuhören, also Sprachverständnis, schneiden 27 Prozent der Getesteten besonders schlecht ab (Kompetenzstufe 1), 25 Prozent erfüllen lediglich die Mindestanforderungen. Immerhin knapp ein Drittel der Schüler (32 Prozent) erreicht überdurchschnittliche Ergebnisse (Kompetenzstufe 4 und 5).

Die Ergebnisse in Mathematik: Im Kompetenzbereich Raum und Form erreichen ganze 30 Prozent der Kinder nur die Kompetenzstufe 1, haben also Förderbedarf. 25 Prozent werden in Kompetenzstufe 2 erfasst. 22 Prozent der Drittklässler lieferten überdurchschnittliche Leistungen ab oder übertrafen die Erwartungen sogar bei Weitem (Kompetenzstufe 4 und 5).

Ganze 57 Prozent der Schüler haben große Probleme im Bereich Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit (Kompetenzstufe 1 und 2). Besonders gut schneidet hier ein Viertel der Drittklässler ab (Kompetenzstufe 4 und 5). Die Vergleichsprüfungen der Drittklässler in Berlin weisen seit mehreren Jahren schon große Defizite auf. Bei den jetzigen Prüfungen vom Mai wurde die Rechtschreibung nicht getestet. Die Anfang 2018 veröffentlichten Ergebnisse der Rechtschreibprüfung von 2017 zeigten, dass knapp die Hälfte der Schüler die Mindestanforderungen nicht erfüllte.[…]

Die Vergleichsarbeiten in der Jahrgangsstufe 3 sind Teil der von der Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedeten Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring. Ausgehend von den für das Ende der Jahrgangsstufe 4 definierten Bildungsstandards für den Primarbereich überprüft VERA 3 die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der dritten Jahrgangsstufe in den Fächern Mathematik und Deutsch. Die zentrale Funktion von VERA 3 liegt in der Unterrichts-und Schulentwicklung von Einzelschulen. VERA 3 ist ein diagnostisches Instrument, das insbesondere den Lehrkräften frühzeitig eine objektive Rückmeldung zu den Kompetenzständen ihrer Schülerinnen und Schülergibt, auf deren Grundlage sie ihren Unterricht weiterentwickeln können. Aus: https://www.isq-bb.de/wordpress/wp-content/uploads/2019/01/VERA-3_-2019_allgemeine-Hinweise.pdf

Grau unterlegte Einschübe, Tabelle sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.


Im Tagesspiegel schrieb bereits am 11.09.2016, Harald Martenstein eine Glosse zu diesem Thema. Heute so aktuell wie vor drei Jahren:

(…) „Es gibt seit Jahren einen bundesweiten Schultest namens „Vera“. Berlin schneidet meist desaströs ab. Zuletzt wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Berliner Drittklässler im Grunde weder lesen noch schreiben kann. Einige wissen immerhin, dass es so etwas wie „Schrift“ gibt. Vor ein paar Tagen kam dank „Tagesspiegel“ heraus, dass die Schulverwaltung die neuen Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen wollte, vermutlich, um in der Bevölkerung keine Ängste zu schüren. Das kam nicht gut an, sie mussten den Geheimhaltungsplan aufgeben. Es reicht, wenn die Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt werden.
Wenn es dir nicht mal mehr gelingt, etwas zu vertuschen, hast du als Regierender wirklich ein Problem. (…)“

Herrschaft im digitalen Zeitalter: „Wir sollen weiter manipuliert werden – nur anders“

„Das Internet ist das neue Schlachtfeld“

Tagesspiegel, 25.03.2019, von Christian Hönicke und Ralf Schönball

IT-Experte Gregor Engelmeier, 54, Informatiker und Entwicklungsleiter bei einer Berliner Firma für Lernsoftware. Über seinen beruflichen Alltag hinaus interessiert sich der IT-Experte besonders dafür, wie sich soziale und technische Systeme gegenseitig durchdringen – also wie seine Branche die Gesellschaft verändert.

Engelmeier: […] Digitalisierung ist ein sozial-technologischer Prozess. Es entstehen Gemeinschaften rund um Apps wie Facebook oder Online-Spiele. Darin gibt es zwei Akteure, Menschen und Maschinen. Und beide Akteure verfolgen Ziele: Die Menschen wollen Spaß haben, und die Maschinen sind dazu eingerichtet, die Menschen systematisch zu geldbringenden Aktivitäten zu führen. Das ist ganz anders als bei allen Medien bisher und wirft völlig neue Fragen auf. Denn ich fürchte, die Bundeskanzlerin hat auch Recht, wenn sie sagt: „Es wird alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden kann.“

Trägt die Digital-Offensive an den Schulen zur Bildung von digital kompetenten Bürgern bei?
Nein. Es bringt überhaupt nichts, wenn für fünf Milliarden Euro Tablets und Internetzugänge in den Schulen abgeworfen werden. Eine App bedienen zu können, ist kein Zukunfts-Skill, den ich brauche. Im Silicon Valley begrenzen leitende Mitarbeiter der Tech-Konzerne rigide die Online-Zeiten ihrer Kinder, in den Schulen und zu Hause. Gerade weil sie wissen, was da passiert. In den öffentlichen Schulen Kaliforniens werden dagegen nach wie vor Tablets ausgekippt. Das ist entweder wenig durchdacht oder perfide.

Wie sähe eine sinnvolle digitale Bildungspolitik aus?
Man muss den Menschen die Mittel geben zu reflektieren, wie ihre digitale Umwelt aufgebaut ist. So wie man Schüler auch befähigt, mit Filmen, Werbung, Presseerzeugnissen oder Romanen umzugehen, sollten sie lernen, wie Programme konstruiert sind, etwa das Spiel „Fortnite“. Wie ist die Erzählstruktur, die Bildwelt? Warum macht mich das so an, welche Stilmittel und Verführungstechniken werden verwendet? Will ich mich davon anmachen lassen, und wenn ja warum?

Die Internetexpertin des Bundesmissbrauchsbeauftragten, Julia von Weiler, fordert ein Smartphone-Verbot für Minderjährige unter 14 Jahren. Ein guter Vorschlag?
Man kann viel fordern. Aber wenn die ganze Klasse Whatsapp nutzt, haben es Kind und Eltern schwer, sich dem zu entziehen.

Sollte man wenigstens vor den Gefahren der Online-Sucht warnen wie vor dem Rauchen?
Hilfreich wäre auf jeden Fall, mehr Transparenz über die Nutzungsintensität der Apps zu schaffen – für die Erziehungsberechtigten und die Kinder. Von Gamern weiß ich, dass sie ihre eigenen Online-Zeiten stark unterschätzen.

War das bei Einführung des Fernsehens nicht genauso?
Die Herausforderung für die Familien ist ähnlich: die Steuerung der Verwendung des Zeit- und Aufmerksamkeitsbudgets der Kinder und Jugendlichen. Heute ist es schwieriger, weil das Smartphone immer und überall verfügbar ist. Es ist immer eine App da, mit der ich irgendwas tun kann. Diese Art, Zeit totzuschlagen, ist im Design der Geräte und der Betriebssysteme angelegt.

Der Online-Sog gehört zum Geschäftsmodell?
Ja. Unsere Gesellschaft hat sich darauf geeinigt, dass die vielfach sehr nützlichen oder unterhaltsamen Dienste zunächst mal kostenlos sind. Aber die Anbieter müssen ja irgendwie Geld verdienen, und deshalb nehmen es die Konsumenten in Kauf, dass ihr Nutzungsverhalten analysiert und auch beeinflusst wird.

Wie sieht die digital kompetente Gesellschaft der Zukunft aus? Werden wir die Geräte dauerhaft nutzen, weil sie ins Hirn eingebaut sind, oder gar nicht mehr?
Ich glaube, weder noch. Idealerweise nutzen die Menschen die Technik bewusst, reflektiert und kreativ. Die andere Seite der Medaille ist ja das ungeheure Kreativpotenzial des Einzelnen, das er in einem Maß zur Geltung bringen kann wie nie zuvor. Wie jemand auf Youtube hochgespült werden kann, das hat ein unvergleichliches Potenzial an Emanzipation und Stärkung. Das kann aber genauso genutzt werden als Mittel der Verängstigung, der Manipulation oder zur mehr oder weniger subtilen gesellschaftlichen Steuerung.

Wenn alle von Geburt an gefilmt, gepostet und geliked werden, häuft sich ein ungeheurer personalisierter Datenschatz an – inklusive aller Fehltritte und Jugendsünden. Facebook will den Datenschutz verbessern, durch eine Verschiebung vom Öffentlichen ins Private. Mark Zuckerberg spricht von „einfachen, intimen“ Plattformen, auf denen man die volle Kontrolle über seine Daten haben soll. Der größte Datenhändler will Datenschützer werden: Ist das glaubwürdig?
Es ist eher ein Anzeichen dafür, wie relevant die Themen der digitalen Kontrolle geworden sind. Und vielleicht auch dafür, wie stark der Druck auf die großen Plattformen inzwischen ist. Sie sind in eine Sphäre vorgestoßen, in der sie auf sehr schlagkräftige legislative und exekutive Gegner stoßen. Da überlegt man es sich als Unternehmen vermutlich, ob man kämpft oder sich lieber mit dem Gegner verbündet. Im Falle des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes hat Facebook zunächst mal die Niederlage hingenommen.

Es gibt zwar offiziell ein Recht auf Löschung – aber wie kann man kontrollieren, ob das wirklich getan wird?
Das können Sie nicht. Weder bei den Firmen noch beim Staat. Der Staat sichert sich ein legales Zugriffsrecht auf fast alle Datentransfers. Der BND hat am weltgrößten digitalen Internet-Knotenpunkt in Frankfurt nahezu unbegrenztes Zugriffsrecht. Durch solche Knotenpunkte fließt unser kompletter Datenverkehr.

Sind die Internet-Befugnisse der Sicherheitsbehörden eine Gefahr für die Demokratie?
Ja. Der Einzelne muss vor dem Staat geschützt werden. Aus der Erfahrung des Absolutismus wissen wir, dass die Gewaltenteilung der Weg dazu ist. Seither kontrollieren sich die Gewalten gegenseitig. Voraussetzung für die Kontrolle ist die Trennung der Informationen – ein Informationsaustausch erfolgt nur in geregelten und meistens transparenten Prozessen. Genau das ist das erste, was totalitäre Staaten abschaffen. Das war auch bei den Nazis so. Nach dem Krieg haben die USA daher verordnet, dass es nie wieder eine geheime Staatspolizei in Deutschland mit Zugriff auf alle Informationsquellen des Staates geben darf. Diese Grenzen zwischen den Gewalten sind nun in Gefahr.

Wenn Daten Macht sind, sind Informatiker die heimlichen neuen Weltherrscher?
Nein. Aber Informatiker stellen Herrschaftsinstrumente her. Man kann IT in zwei Bereiche gliedern: Entwickler und Administratoren. In der Administration hat man es direkt mit sensiblen Daten zu tun, ein Beispiel war Snowden. Die Entwickler, die programmieren und implementieren, haben wiederum eine immense Gestaltungsmacht. Etwa wenn man am neuen Relevanzcode von Google arbeitet oder an der Timeline von Facebook oder an Themen wie Sprach- oder Gesichtserkennung.

Sind sich die Informatiker ihrer Verantwortung bewusst?
Ich hoffe. Es gibt viel mehr nachdenkliche Menschen in meiner Branche, als man denkt. Manche interessiert es aber auch gar nicht, weil sie einfach in die Schönheit ihrer Algorithmen verliebt sind. Das ist nicht verwerflich, spielt aber ihren Auftraggebern in die Karten.

Zu Beginn diente das Internet der reinen Kommunikation. Wie ist es zu einem Werkzeug der Nutzermanipulation geworden?
Das Internet als Netz der Netze, wie es vor 50 Jahren konzipiert wurde, gibt es immer noch. Es ist die rein technische Ebene, auf der potentiell alle Arten von technischer Kommunikation miteinander verbunden werden. Die verhält sich auf der Ebene des Inhalts neutral, sie leitet die eingespeisten Informationen nur weiter. Mit der Entwicklung der Suchmaschinen war das Netz nicht mehr neutral. Bei Amazon oder Google sieht nicht mehr jeder den gleichen Inhalt, wenn er denselben Suchbegriff eingibt, durch die sogenannte Personalisierung. Mit der Einführung der Apps vor etwa zehn Jahren wurde es noch ganz anders. Nun greift das Netz aktiv nach der Aufmerksamkeit seiner Nutzer.

Wie tut es das?
Der Nutzer muss nicht mehr selbst aktiv entscheiden, dass er seine Mail checkt oder eine neue Gamerunde spielen will, sondern wird von diesen Diensten aktiv aufgefordert, dies zu tun. Sie ermahnen ihn „Sie haben fünf neue Nachrichten“ oder „Deine Freunde sind schon online! Spiel mit!“ Diese Push-Nachrichten stupsen die User an, sich mit der Maschine zu beschäftigen.

Wie genau schaffen es die Apps, uns damit nicht zu nerven, sondern immer wieder erfolgreich zu locken?
Am Anfang steht die Datenerhebung. Ein Teil des Erfolgsgeheimnisses der Apps ist die wissenschaftlich rigorose Analyse der Nutzungsdaten. Die Klassifikation von Millionen Daten, zum Beispiel weil 50 000 User sich bei Zuspielung einer bestimmten Information ähnlich verhalten: Sie, ich und jeder andere User wird so tausendfach klassifiziert und gruppiert. Nach solchen Gemeinsamkeiten in den Daten suchen die Algorithmen ständig.

Und was macht die Maschine damit?
Sie kann auf dieser Grundlage eigene Schlüsse ziehen: User, die dieses angeklickt haben, werden vermutlich als nächstes jenes anklicken. Das folgt den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Maschine lernt, aus dem bisherigen Verhalten des Users dessen künftiges vorherzusagen. Sie reagiert darauf mit Informationsangeboten, die ihn in letzter Konsequenz dazu bringen sollen, sich so zu verhalten, dass der Profit der App maximiert wird.

Sind Menschen in diesen Prozess eingebunden?
Nein. Twitter hat rund 320 Millionen Nutzer, aber nur knapp 4000 Mitarbeiter. Die können sich nicht Milliarden Nachrichten anschauen. Selbst wenn man die Firmen zur Offenlegung des Prozesses zwänge, bekäme man nur einen leeren Algorithmus. Wie und warum der in bestimmten Situationen so entscheidet, wie er das tut, können nicht einmal seine Programmierer nachvollziehen. Weil ihnen die Milliarden Daten fehlen, mit denen er sich selbst trainiert hat.

Weiß die Maschine wenigstens selbst, was sie tut?
Nein, die weiß gar nichts.

Die viel besungene KI ist nur eine blöde Maschine ohne Erkenntnis?
Künstliche Intelligenz ist simulierte Intelligenz. Die Entscheidungen leitet sie aus der Summe früherer Entscheidungen ab. Wir Informatiker füttern sie dazu am Anfang mit Trainingsdaten, da kann ich die ersten Entscheidungen noch überprüfen. Wenn ich den Algorithmus ins echte Leben entlasse, lernt er mit echten Daten weiter und die Zahl der Entscheidungen vervielfacht sich, sodass man ihre Prämissen nicht mehr sinnvoll nachvollziehen kann. Dieses Problem haben die Naturwissenschaften schon lange mit der KI.

„Wir sollen weiter manipuliert werden – nur anders“

Auch in der Berufswelt übernehmen Algorithmen zunehmend die Chefrolle. Bei vielen Fahr- und Lieferdiensten geben sie per App vor, was die Fahrer bis wann zu tun haben. Wer das nicht schafft, fällt im Score und hat dann etwa bei der Dienstplanung Nachteile. Ist das gut, weil objektive Leistungskriterien angewandt werden? Oder geht hier Menschlichkeit verloren?
Hier folgt die technische Gestaltung einem Menschenbild, das ich persönlich nicht gut finde. Es macht den Menschen zum bloßen Objekt von wirtschaftlichen Interessen, das sich undurchschaubaren Mechanismen unterwirft. Ob wir das zulassen oder nicht, wie wir mit dieser technologischen Möglichkeit umgehen, ist eine Frage der gesellschaftlichen Verhandlung.

Was muss da verhandelt werden?
Die Gesetzgebung muss regeln, ob sie solch pseudoselbstständige und scoringbasierte Arbeitsverhältnisse wie bei Uber zulässt. Diese Technologien helfen dabei, Sachen effektiver zu machen – zum Guten und zum Schlechten. Wir müssen unsere Naivität ablegen und erkennen, dass die Digitalisierung unserer Gesellschaft nicht etwas ist, das irgendwann in Zukunft kommen wird. Sondern dass sie uns heute bereits umgibt, auch wenn wir weder Computer noch Smartphone nutzen. Daher ist heute die Digitalpolitik das Feld, in dem wir die Freiheit gewinnen müssen.

Und was kann man selbst konkret tun?
Mehr Bücher lesen – auch gerne online. Das ist das Beste, was man für das selbstbestimmte Denken tun kann.

Zum vollständigen Artikel: https://www.tagesspiegel.de/zeitung/herrschaft-im-digitalen-zeitalter-wir-sollen-weiter-manipuliert-werden-nur-anders/24139488-all.html

Die „Anbandelungswut“ der Kompetenz

Unanständiger Unterricht

Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz über die Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz. Doch braucht es dafür jeweils ein eigenes Unterrichtsfach?

NZZ, 14.05.2019, Konrad Paul Liessmann

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Ist heute von Schule und Bildung die Rede, sind große Worte unvermeidlich. Immer geht es gleich um Exzellenz und Spitzenplätze, um das Beste für unsere Jugend, um flächendeckende Digitalisierung, um die großen Herausforderungen, um die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert und das dritte Jahrtausend.

Apropos Kompetenzen: Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat jüngst davon gesprochen, dass «Kompetenz» unter unseren zeitgeistigen Begriffen derjenige ist, der die größte «Anbandelungswut» entwickelt hat. Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz bis zur Reflexionskompetenz, von der Lesekompetenz bis zur Medienkompetenz, von der Sozialkompetenz bis zur Kommunikationskompetenz, von der Teamkompetenz bis zur Selbstkompetenz, von der Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz reicht dieser halbseidene Reigen. Solch verbale Promiskuität ist in der Tat obszön, und anständige Menschen sollten das Wort Kompetenz, in welcher Verbindung auch immer, nicht mehr in den Mund nehmen.

Die eigentliche Unanständigkeit aber lauert hinter diesen Phrasen. Sie besteht im Glauben, dass Schule, Unterricht und Bildung junge Menschen umfassend auf die Zukunft vorbereiten und ihnen alle Fähigkeiten vermitteln könnten, die gebraucht werden, um die kommenden Herausforderungen anzunehmen. Und deshalb werden neue Kulturtechniken propagiert – Coding –, missliebige Inhalte entsorgt – die Kunst der alten weißen Männer –, neue Fächer oder Fächerbündel eingeführt – Ernährung, Medien und Klima – und moderne Lernformen verordnet – interaktiv, digital und ohne lästige Lehrperson.

Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können.

Hinter all dem Wortgetöse, dem die pädagogische Praxis zum Glück nur selten folgt, steckt ein grundsätzlicher Irrtum. Da kein Menschen weiß, was die Zukunft bringen wird, ist es schlechterdings verantwortungslos, dieses Unwissen zum Maßstab und zur Zielvorstellung für die Formen und Inhalte des Unterrichts zu machen. Das führt nur zu Scharlatanerie und falschen Propheten. Es geht nicht darum, herauszufinden, welche Bildung wir für das 21. Jahrhundert benötigen, sondern darum, jene Bildung zu vermitteln, die notwendig ist, um zu verstehen, warum die Welt so geworden ist, wie sie nun einmal ist. Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können. In ihrem Zentrum stehen die Leistungen der Vergangenheit.

Statt eine dubiose Zukunftsoffenheit zu propagieren, sollte man lieber darüber nachdenken, was von dem, was Menschen bisher an Wissen und Erkenntnis, an Kunst und Kultur, an Ethos und Moral, an Methoden und Technologien entwickelt haben, aus guten Gründen erhalten, bearbeitet, vermittelt und unterrichtet werden kann. Das hat nichts mit Traditionspflege oder starrem Festhalten an Überholtem zu tun, sondern mit den notwendigen Voraussetzungen für ein bewusstes und mündiges Leben in einer nicht gerade einfachen Welt. Die Vergangenheit ist ein Fundament, aber keine Norm.

Vielleicht aber sollte man das Verhältnis von Zukunft und Bildung zumindest versuchsweise überhaupt einmal radikal umdrehen. Wie wäre es, wenn man die Bildung nicht an der Zukunft, sondern die Zukunft an der Bildung misst? Es gibt großartige Entwürfe einer Erziehung zur Mündigkeit, zur moralischen und ästhetischen Sensibilisierung des Menschen, zur Humanisierung der Affekte, zu einem Streben nach Weisheit und Einsicht, die dafür herangezogen werden könnten. Man sollte auch einmal darüber nachdenken, wie eine Welt beschaffen sein müsste, die solchen Bildungsansprüchen genügte. Bildung benötigt keine Kompetenzen; sie benötigt Selbstbewusstsein.

Zum Beitrag:  NZZ, 14.5.2019, Konrad Paul Liessmann, Kolumne, Unanständiger Unterricht

Fließbandarbeit in der Lernfabrik

Große Klassen und die „Neue Lernkultur“ industrialisieren den Lehrerberuf.

Von Nils Björn Schulz

Dr. Nils Björn Schulz ist Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in Berlin.

Lehrerinnen und Lehrer sind zu Arbeitern einer hybriden Bildungsindustrie geworden. 50-Stunden-Wochen und Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmen den Berufsalltag vieler Kolleginnen und Kollegen – vor allem an Gymnasien. Die fortschreitende Digitalisierung, die Test- und Evaluationseuphorie und die Kompetenzorientierung der Neuen Lernkultur, wie sie Christoph Türcke in seinem Buch „Lehrerdämmerung“ nennt [siehe Bücherliste], haben innerhalb von knapp fünfzehn Jahren ein ganzes Berufsfeld industrialisiert und die Schule in eine Lernfabrik verwandelt. Das Produktionsziel: höhere Abiturientenquoten bei gleichzeitiger Absenkung des Anspruchsniveaus, wie die jüngsten Studien des Frankfurter Bildungsforschers Hans-Peter Klein zeigen konnten. [Siehe dazu auch für Berlin die Studie von Angela Schwenk und Norbert Kalus, Auswertung der Abiturdaten von 2006 bis 2016.]

Die Niveauabsenkung wird vor allem durch das ständige Gerede über Qualität und Qualitätsmanagment kaschiert. Aber für die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer ist sowieso eine ganz andere Kategorie zentral: die der Quantität. Es ist die schiere Quantität an Klassenarbeiten, Noten, Tests, Evaluationen, Methodentrainings – und die Lautstärke in den Klassenräumen, die erschöpft. An Gymnasien sitzen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einem Klassenraum, in Berlin sind es sogar bis zu 32.

Man kann es ja begrüßen, dass die Disziplinargesellschaft verabschiedet wurde, jedoch hat man deren Raum- und Zeitstruktur beibehalten. Klassenräume und Stundenrhythmen gehören einem Typus an, den Michel Foucault als Einschließungsmilieu bezeichnete. Nur lassen sich Kinder und vor allem pubertierende Jugendliche so nicht mehr disziplinieren.

Aufgrund überbordenden Gebrauchs digitaler Medien völlig dezentriert, können sich viele in den vorgegebenen Strukturen nicht mehr konzentrieren. Die täglichen Mediennutzungszeiten Pubertierender variieren je nach Studie zwischen 5 und 7 Stunden. Es ist laut geworden in den spätmodernen Lernfabriken. Gerade die kooperativen Lernformen, die auf die Dezentrierung reagieren und sie zugleich verstärken, werden schon in der Grundschule eingeübt und lassen je nach Lerngruppe in den Räumen den Lärmpegel bis auf 80 Dezibel ansteigen. Anderen Berufsgruppen wird da Gehörschutz verordnet.

Aber viele Lehrerinnen und Lehrer sprechen nicht offen über dieses Thema, weil sie das Ressentiment fürchten, der Grund für den Lärm sei mangelnde pädagogische Kompetenz. Genauso schreiben sich gegenwärtig viele Eltern ihr Scheitern selbst zu, wenn es darum geht, den Medienkonsum ihrer Kinder zu reglementieren; dabei haben sie schlichtweg keine Chance gegen die Produktentwicklungs- und Werbestrategien großer IT-Konzerne. Es ist ja gerade das Geschäftsmodell vieler Firmen, die Begierden der Nutzer so anzutriggern, dass das Virtuelle ihr Dasein bestimmt oder Smartphones als Quasiorgane ins Körperschema integriert werden. Die Nutzer werden nervös, wenn die Geräte nicht in Reichweite sind.

Dass die Hattie-Studie für kleinere Klassen eine eher niedrige Lerneffektstärke ermittelte, kam den Bildungs- und Finanzministerien sehr zupass: So konnte man die Klassengrößen mit ruhigem pädagogischen Gewissen beibehalten. Jedoch zeigt eine genaue Lektüre von John Hatties Buch „VisibleLearning“ [siehe nebenstehende Bücherliste], dass gerade das Thema „Klassengröße“ unbedingt weiter untersucht werden muss. Hattie weist nämlich selbst darauf hin, dass veränderte Lehrmethoden, anderes Feedback-Verhalten, neue Formen der Interaktion, die nur in kleineren Lerngruppen möglich sind, das Lernen fördern können.

Und viele Lehrerinnen und Lehrer haben die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Methoden – wie beispielsweise das von vielen Oberstufenschülerinnen und -schülern immer noch sehr geschätzte lehrerzentrierte Unterrichtsgespräch – nur in Klassen bis maximal 20 Schülern überhaupt funktionieren.

Große Lerngruppen produzieren quantitativ mehr Arbeit als kleine. Das wäre an sich vielleicht eine lapidare Aussage, wenn sich nicht die Benotungskriterien und – damit eng verbunden – die sogenannte Schreibkompetenz, also die Fähigkeit, lesbare Texte zu schreiben, so gravierend verändert hätten. Oberstufenklausuren mit 10 bis 15 Rechtschreib- und Grammatikfehlern pro Seite sind leider nicht die Ausnahme; und für einige Handschriften benötigt man Werkstattleuchten und Leselupen.

Für Lehrerinnen und Lehrer heißt das aber, dass die Klausurenkorrektur durchschnittlich länger dauert als früher, dass jede Klausur mindestens zwei Mal gelesen werden muss: Zunächst müssen die Orthographie-, Grammatik- und Ausdrucksfehler analysiert und markiert werden, dann die – oft durch die Fehler produzierten – semantischen Unverständlichkeiten.

Aufgefordert, Lehrerarbeitszeiten transparent zu machen, veranschlagt der Berliner Senat 20 bis 25 Minuten Korrekturzeit für eine Oberstufenklausur inklusive der Beurteilung durch ein elektronisches Bewertungsraster. Dieses sogenannte Onlinegutachten hat für bestimmte Klausurformate zum Beispiel im Fach Deutsch 12 Bewertungskriterien parat. Je nachdem benötigt man für die endgültige kriteriengeleitete Beurteilung einer einzigen Klausur über 50 Klicks.

Das ist Fließbandarbeit im digitalen Zeitalter: Erst korrigiert man die Klausur mit der Hand, dann klickt man sich durch die Onlineraster, druckt sie aus, unterschreibt und heftet sie an die Klausuren. Das Arbeitszimmer muss für solche Abläufe optimiert werden. Im Kreis läuft man so oder so … und die veranschlagte Arbeitszeit wird immer überschritten. Weil es nicht zu schaffen ist. Unter 45 Minuten kann man keine Deutsch- oder Philosophie-Klausur korrigieren, wenn man der Schülerarbeit einigermaßen gerecht werden möchte. So sitzt man dann 15 Stunden (oder länger) an der Korrektur eines einzigen Klausurenstapels.

Sind Oberstufenkurse im Allgemeinen kleiner als die der Mittelstufe, so können sich die Mittelstufenlehrerinnen und -lehrer zwar damit trösten, dass die zu korrigierenden Texte nicht so lang sind; aber es sind eben mehr (und meistens enthalten sie mehr Fehler). Schlimm wird es für Kolleginnen und Kollegen, deren Fächer nur zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden. So kann es sein, dass eine Ethik- und Biologielehrerin in der Mittelstufe vier Klassen in beiden Fächern unterrichtet. Geht man davon aus, dass sie pro Halbjahr zwei Lernerfolgskontrollen (LEKs) schreiben lässt, allein um die Zeugnisnote valide abzusichern, so sind das 8 mal 4 mal 30 LEKs, die korrigiert werden müssen. In der Summe: 960 Arbeiten. Geht man von Sekundarschul-Klassen mit 25 Schülern aus, so sind es immer noch 800 LEKs. Stückzahlen, die korrigiert werden müssen.

Da aber jede Vollzeit-Lehrkraft noch weitere 9 oder 10 Stunden unterrichtet, kommen weitere Korrekturbelastungen hinzu. Und damit sind viele andere Arbeiten wie digitale Fehlzeitenverwaltung, das Anfertigen von Abiturentwürfen für das dezentrale Abitur (zum Beispiel im Fach Philosophie) oder vermehrte Prüfungsaufgaben noch gar nicht berührt.

Auch führt die Kompetenzorientierung dazu, dass mittlerweile gerade junge Lehrerinnen und Lehrer digital verwaltete Notenarsenale anlegen; denn die Kompetenzideologie fordert, dass ein Schüler differenziert nach unterschiedlichen Kompetenzen bewertet wird. Erteilt man einem Schüler oder einer Schülerin drei Mal pro Schulhalbjahr jeweils fünf oder sogar mehr Kompetenznoten für die Mitarbeit im Unterricht, so heißt das, dass ein Lehrer mit vollem Stundendeputat – in Berlin sind das 26 Unterrichtsstunden – im ganzen Schuljahr weit über 5000 Noten gibt; unterrichtet er vor allem zweistündige Fächer, so erhöht sich die Zahl schnell auf 6000 bis 7000 Noten pro Schuljahr. Man muss sich solche Zahlen vor Augen führen, um die Absurdität der kompetenzorientierten Benotung zu erkennen.

Als Lehrer ist man gegenwärtig die meiste Zeit am Rechnen, und zwar vor allem mit dem vergeblichen Versuch, seine Arbeitsbelastung zu reduzieren. Denn die Reaktion der Bildungsverwaltungen ist: Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Zeitmanagement verbessern. Es ist die für neoliberale Gesellschaften typische Forderung an das erschöpfte Selbst: Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, musst du deine Abläufe optimieren. Es liegt an dir! Der Zynismus geht mittlerweile so weit, dass Lehrerinnen und Lehrern von externen Evaluationsbehörden empfohlen wird, in ihrer Freizeit, die es ja kaum noch gibt, „Wohlfühlteams“ zu bilden oder Workshops zur „Work-Life-Balance“ zu buchen.

Es mag paradox klingen, dass die so gehypte Neue Lernkultur entfremdete Arbeit und Lärm erzeugt; doch machen eben diese Zustände die technokratisch-metrische Grundstruktur der Kompetenz-Modellierung nun auch für diejenigen sichtbar, die sie bisher fetischisierten. Und auch den neoliberalen Selbstoptimierungsimperativ sollte man als das durchschauen, was er ist: eine Ausbeutungsstrategie. Vor allem aber führt die neue Unterrichtstechnokratie dazu, dass Bildung nur noch unter dem Aspekt der Operationalisierung und Messbarkeit betrachtet wird; deshalb spricht der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann von der „Praxis der Unbildung“ [siehe Bücherliste].

Würden Klassen verkleinert, würde man sich vom Metrisierungswahn, der Output-Orientierung und vom Diktat des kooperativen Lernens abkehren, so würden sich Korrekturpensen, Lärm und Stress enorm verringern; und es gäbe mehr Zeit für schöpferische und zwischenmenschliche pädagogische Aufgaben – vor allem für eigenständige Unterrichtsgestaltung.

Zumindest was den Korrekturaufwand betrifft, produziert die Neue Lernkultur einen – leider sehr zweifelhaften – Kollateralnutzen: Da die Bildungsverwaltungen die Bedeutung von Orthographie und Grammatikfehlern für die Gesamtnote einer Klausur immer weiter marginalisieren, schleicht sich sowieso schon bei manchem Lehrer eine resignative Laxheit ein. Man streicht gar nicht mehr alle Fehler an. Das spart Zeit! – führt aber dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die Fehlerhaftigkeit ihrer Klausuren gar nicht mehr erkennen können. Und viele von ihnen werden später selbst Lehrerinnen und Lehrer … Auch hier gilt: Die Masse macht’s.

aus: Frankfurter Rundschau vom 12./13.01.2019, S.21

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

„Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen“ – Beispiel: Berliner Bildungsverwaltung

Gemeinschaftsschule: Die achte Klasse ist die Hölle

Stellungnahme zum Artikel in ZEIT-ONLINE „Gemeinschaftsschule: Die achte Klasse ist die Hölle“, vom 10.11.2018.

Im Zeitungsbeitrag[1] wird die Frage gestellt: Wie können wir es schaffen, dass auch bildungsferne Kinder höhere Abschlüsse schaffen? Die Antwort ist: Wenn alle auf eine Gemeinschaftsschule gehen. Es gibt auch Untersuchungen, die das belegen.“

Folgt man dem Link zu den Untersuchungen, so kommt man zu einer Pressemitteilung[2] über den Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen von Sen BJW, heute Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, vom 8.4.2016.

Die Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Sandra Scheeres, führt dazu aus: „Die Gemeinschaftsschulen erreichen eines ihrer wesentlichen Ziele, indem sie den Lernerfolg von der sozialen Herkunft wirksam entkoppeln. Bemerkenswert sind die Lernzuwächse der Schülerinnen und Schüler, die der Abschlussbericht den Gemeinschaftsschulen bescheinigt. Ich werde mich dafür einsetzen, dass das Angebot der Gemeinschaftsschulen in Berlin als besondere Ausprägung der Integrierten Sekundarschule dauerhaft verstetigt wird“.[3]

Hält man sich jedoch nicht nur an die von der Bildungsverwaltung gestaltete Pressemitteilung, sondern sieht sich die Studie umfassend an – zu der man aus der Pressemitteilung keinen Link erhält – bekommt man ein anderes Bild.

Der Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen[4] stellt einen Vergleich an zwischen Berliner Schülern einiger Gemeinschaftsschulen und Hamburger Schülern des ehemals gegliederten Schulsystems. Es findet also kein direkter Vergleich der verschiedenen Schulformen in Berlin statt. Von 24 Berliner Gemeinschaftsschulen nahmen nur 18 an der Befragung teil. Bei den beiden Lernstandserhebungen wurden aber nur noch 10 Schulen einbezogen. Es werden keine Erklärungen für die jeweiligen Auswahlkriterien gegeben. Somit kann man die Frage stellen, wie repräsentativ die Ergebnisse sind, auf die sich Frau Scheeres beruft.

Was die Senatorin verschweigt, ist: Mehr als die Hälfte der befragten Lehrkräfte bewertet in der Studie den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit „sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung“ – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht (Abb. 40, S. 63, Abschlussbericht, mit deutlich zunehmender Belastung von 2013 zu 2014).

Diese erhöhten Anforderungen berichtet auch im Zeitungsbeitrag Lehrer Ryan Plocher: „Aber wir arbeiten unter zunehmend schwierigen Bedingungen: Vor vier Jahren hatten wir noch ein Kind mit Förderstatus pro Klasse, heute hat eine Kollegin sieben, eine andere acht Kinder mit Förderstatus. Die Verordnung gibt ein Maximum von vier vor, aber das wird immer überschritten.“ Seine Erklärung ist: „Weil kaum Kinder mit Förderstatus an Gymnasien sind.“

In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird nun mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Obwohl bereits durch mehrere Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.)[5] nachgewiesen, ist die von der Gemeinschaftsschule propagierte Individualisierung des Unterrichts durch Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen nicht die Problemlösung. Diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens läuft Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern klafft weiter auseinander.

In der Studie berichten zwei Teams der Gemeinschaftsschulen von gravierenden Problemen, mit denen sie täglich konfrontiert sind: „Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt“ (S. 144).

Weiter werden die Lehrkräfte zitiert: „Ich bin wirklich entschieden der Meinung, es kommt viel zu wenig dabei raus, bei der Lernwerkstatt. (…) für den Schüler, der mit einer gewissen Allgemeinbildung nach der zehnten Klasse die Schule verlässt, finde ich, ist die Allgemeinbildung ganz schön klein. Da würde ich mir mehr wünschen“ (S. 149).

Es wird weiter berichtet: „deutlich ist in einigen Interviewgesprächen, dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen“ (S. 160).

Darüber ist in der eingangs erwähnten Pressemitteilung von Senatorin Scheeres nichts von dem, was die Lehrkräfte in ihrer täglichen Unterrichtsarbeit bewegt, zu lesen. Es wird übergangen.

Zeitweise parallel zur Pilotphase der Gemeinschaftsschule verlief in Berlin auch die Neustrukturierung des Sekundarschulwesens. Das Land Berlin hat die allgemeinbildende Sekundarstufe I zum Schuljahresbeginn 2010/11 von einem fünfgliedrigen auf ein zweigliedriges System umgestellt (neu geschaffene Integrierte Sekundarschule (ISS) und Gymnasium).

Eine zentrale Zielsetzung der Neustrukturierung des Berliner Sekundarschulwesens war die Erhöhung des Anteils der Schülerinnen und Schüler, die die Schule mit der allgemeinen Hochschulreife – dem Abitur – abschließen sollen. Erreicht werden soll dieses Ziel vor allem über eine Erhöhung der Abiturientenquote im nichtgymnasialen Bereich, sprich an den neu geschaffenen Integrierten Sekundarschulen (ISS) und den Gemeinschaftsschulen.

Im Ergebnisbericht der BERLIN-Studie[6] zum zweigliedrigen Berliner Sekundarschulsystem ist zu lesen: „Die Anteile der Schülerinnen und Schüler, die die formalen Voraussetzungen zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe erfüllen, haben […] deutlich zugenommen. Im nichtgymnasialen Bereich fand sich ein Anstieg von 24 auf 41 Prozent. Der Anstieg fiel sowohl an Schulen ohne als auch mit am Schulstandort vorhandener gymnasialer Oberstufe erheblich aus“ (S. 486).

Die Pressemitteilung der Bildungsverwaltung zur BERLIN-Studie vom 15.03.2017 hat genau diesen Satz besonders hervorgehoben: „Die Studie attestiert dem innerhalb weniger Jahre vollzogenen und weithin akzeptierten Wechsel der neuen Schulstruktur zahlreiche positive Entwicklungen. So wurde zum Beispiel die Anzahl der Schulen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern, die aufgrund sehr schwacher Leistungen und ihres soziokulturellen Hintergrunds geringere Aussicht auf Bildungserfolg haben, reduziert.“

Genau dieser Aussage widerspricht die Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin (WZB) vom Mai 2017: „Ob mit der Schulstrukturreform langfristig auch eine pädagogische Veränderung einhergeht und mehr Schüler*innen aus sozial benachteiligten Schichten zu einer höheren Bildung herangeführt werden können, ist noch eine offene Forschungsfrage. Das neue Berliner Schulsystem hat aber in Bezug auf die soziale Durchmischung fünf Jahre nach der Reform noch zu keiner wesentlichen Veränderung geführt und das alte Schulsystem wird mit Blick auf die soziale Durchmischung unter einem neuen Namen fortgeführt.[7]

Folgt man dem Text der BERLIN-Studie weiter, so werden auch dort die „zahlreichen positiven Entwicklungen“ und der vorgegebene „Bildungserfolg“ erheblich relativiert. In der Studie wird weiter berichtet, dass sich die Leistungen der Schüler nicht verbessert haben, sondern die Anforderungen für das Abitur gesenkt wurden. Zu lesen ist:

 „Gleichzeitig hat sich das mittlere Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler im nichtgymnasialen Bereich kaum verändert“ (S. 486).
Die Befunde [geben] somit durchaus Anlass zu der Annahme, dass die Vergabe der Übergangsberechtigung in […] der neu strukturierten Berliner Sekundarstufe nur sehr eingeschränkt mit dem erforderlichen Leistungsniveau zum erfolgreichen Durchlaufen der Oberstufe einhergeht. Das Erreichen hinreichender Leistungsstandards scheint somit im Zuge der Öffnung von Bildungswegen im vorliegenden Fall zumindest in Teilen fraglich“ (S. 487).
Weiter wird bestätigt, „dass schulstrukturelle Merkmale bzw. [schulische] Veränderungen für das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern eher von nachrangiger Bedeutung und stattdessen lernprozessnähere Aspekte wie die Unterrichtsqualität ausschlaggebend sind (z. B. Hattie, 2009)“ (S. 498).
Die Studie stellt fest: „Zu den drängendsten Aufgaben und Herausforderungen im neu strukturierten Berliner Sekundarschulwesen“ zählen „Maßnahmen zur Sicherstellung hinreichender Leistungsstandards und vergleichbare Bewertungsmaßstäbe beim Erwerb der Oberstufenzugangsberechtigung“ (S. 488) und

„Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems“ (S. 483).

Festzuhalten ist, dass die deutliche Erhöhung der Vergabe der Oberstufenzugangsberechtigung sowie die Steigerung der Abiturientenquote nachweislich nur mit einer Minimierung der Leistungsanforderungen einhergehen.[8]

Diese Aussage wird durch eine aktuelle Studie der Professoren Schwenk und Kalus, Beuth Hochschule für Technik Berlin, bestätigt[9] [siehe ausführliche Darstellung der Studie im nachfolgenden Webbeitrag]. Sie schreiben:

„Eine Auswertung der Abiturdaten [KMK] in Berlin zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016 eine deutliche Verbesserung der Abiturergebnisse bezogen auf die Parameter Durchschnittsnote, Anteil der Einsen und Zahl der nicht bestandenen Prüfungen. Genauer heißt das, die Anzahl der Abiturprüfungen nimmt über die Jahre zu, gleichzeitig sinkt die Zahl der Durchgefallenen, verbessert sich der Notendurchschnitt eines Abiturientenjahrgangs und erhöht sich der Anteil der Prüflinge, die die Bestnote 1,0 erreichen.“

Abiturnoten und besondere Veränderungen im Berliner Schulsystem

In der Abbildung 1, und nur diese soll hier dargestellt und beschrieben werden, sind die Durchschnittsnoten der bestandenen Abiturprüfungen eines Abiturjahrganges an Gymnasien, Gesamtschulen, ab 2010 Integrierte Sekundarschulen (ISS) und beruflichen Schulen von 2006 bis 2016 festgehalten.

„Die Kurve zeigt einige Auffälligkeiten, die sich mit Änderungen im Berliner Schulsystem erklären lassen. Die starke Verbesserung der Noten im Jahr 2007 fällt mit der Einführung der fünften Prüfungskomponente (5. PK) und der Einführung des Zentralabiturs zusammen. Die fünfte Prüfungskomponente besteht aus einer Präsentation über ein selbstgewähltes fachübergreifendes Thema, die seit 2013 durch eine Facharbeit im Umfang von fünf Seiten ergänzt werden muss.

Die Handreichungen der Berliner Senatsverwaltung für Lehrer zur 5. PK bestätigt die Verbesserung der Noten, dort heißt es gleich im 2. Satz des Vorwortes „In diesem Prüfungsteil erreichen Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt bessere Leistungen als in den übrigen Prüfungsfächern.“[10] Im Jahr 2013 lag die durchschnittliche Bewertung der 5. PK mit 10,4 Punkten deutlich über den der anderen mündlichen oder schriftlichen Prüfungen mit Durchschnitten von 7,9 bis 8,7 Punkten.“[11]

Weiter wird von der Bildungsverwaltung in der Handreichung argumentiert, dass die Abiturienten „sich in Arbeitstechniken und Arbeitsweisen üben, die sowohl die Universitäten als auch spätere Arbeitgeber als wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln betrachten.“[12] Die Beobachtungen in der Studieneingangsphase entsprechen nachweislich nicht dieser Aussage.

Dies entspricht der Studie der Beuth Hochschule: „Im Jahr 2010 gab es zwei Veränderungen. Zum einen wurden die Integrierten Sekundarschulen (ISS) eingeführt, die die Haupt-, Real- und Gesamtschulen in Berlin zusammenführten und die auch zum Abitur führen können. Zum anderen wurde der Notenschlüssel verändert. Die Hürde zum Bestehen wurde von 50% auf 45% der erreichbaren Punkte abgesenkt und der gesamte Notenschlüssel wurde entsprechend angepasst. Diese Änderungen führten aber nicht zu einer besonders auffälligen Verbesserung der Abiturdurchschnittsnote des Jahrgangs 2010.

Im Jahr 2012 war der doppelte Abiturientenjahrgang. In Berlin gilt die Verkürzung von 13 auf 12 Schuljahre nur für die Gymnasien. An den IS-Schulen wird das Abitur weiterhin nach 13 Jahren abgelegt. D. h. die stärkeren Gymnasiasten waren im doppelten Abiturientenjahrgang 2012 überproportional vertreten. Im darauffolgenden Jahr 2013 war das Verhältnis wieder normal und dementsprechend sind die Noten von 2013 und 2011 eher vergleichbar.“

Was bleibt nach eingehender Prüfung der Ergebnisse des Abschlussberichts zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen sowie der BERLIN-Studie zur Schulstrukturreform übrig?

In den Pressemitteilungen der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) lesen wir von „der erreichten Entkopplung von Lernerfolg und sozialer Herkunft“, den „zahlreichen positiven Entwicklungen“ der Schulstrukturreform, der „Erhöhung der Abiturquote“ und der vollmundigen Feststellung: „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet.“

Auch in Berlin sind Pressekonferenzen „wohlgeplante Inszenierungen“. Die Politiker, deren Staatssekretäre und Pressesprecher arbeiten zielgerichtet daran, „nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt“. Es wird im Vorfeld daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort in der Pressemitteilung steht, „das Versäumnisse der Bildungspolitik anzeigen könnte.“[13]

Es drängt sich die Frage auf, ob Schule, statt sich in ständig neuen Reformanstrengungen aufzureiben, sich nicht auf ihre Kernaufgaben konzentrieren sollte. Dies wird durch den Erziehungswissenschaftler Prof. Andreas Helmke verdeutlicht:

„Eine der zentralen Botschaften [des Bildungsforschers] Hattie[14] ist, dass strukturelle, organisatorische und finanzielle Faktoren Oberflächenmerkmale sind, die per se nicht oder nur wenig lernwirksam sind – im Gegensatz zu den besonders effektiven Tiefenmerkmalen der Unterrichtsqualität. Das spricht nicht gegen die Gemeinschaftsschule, es dämpft nur den unangebrachten Optimismus, das Errichten einer solchen Schule sei schon eine Art Garantie für den Erfolg. Wie gesagt, auf die Lehrer und auf den Unterricht kommt es an! Mit anderen Worten: Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. […] Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts!“[15]

Eine weitere zentrale Aufgabe in Berlin ist, Verantwortung zu übernehmen für die erschreckend hohe jährliche Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss[16] – an der die Schulstrukturreform und auch die Gemeinschaftsschule nichts geändert hat – und alle Kräfte zu bündeln, diesen jungen Menschen einen sinnvollen Weg ins Leben zu bahnen. Eine weitere Senkung des Niveaus, wie in den letzten Jahren verordnet, kann nicht die Lösung sein. Dies bedeutet nur eine Verschiebung der Problematik in die sich anschließende Bildungs- und Ausbildungseinrichtung. So ist die IHK angesichts der Entwicklung besorgt. Schon jetzt hielten die Abschlüsse nicht das, was sie versprächen. „Immer mehr Betriebe konzipieren eigene Aufnahmetests, um die Eignung der Bewerber festzustellen“. Die Bildungsverwaltung bestreitet einen Niveauverlust.[17] Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.

Manfred Fischer, 30.11.2018
Studiendirektor a.D., Unterrichtsfächer Elektrotechnik, IT-Systeme, Sozialkunde
Seit meiner Pensionierung engagiere ich mich ehrenamtlich in der Lernhilfe.

[1] ZEIT ONLINE, 10.11.2018, Judith Luig, Gemeinschaftsschule: Die achte Klasse ist die Hölle; https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-10/gemeinschaftsschule-neukoelln-demokratie-schueler-lehrer-politik-nationalsozialismus
[2] Pressemitteilung vom 8.4.2016: Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen  https://www.berlin.de/sen/archiv/bjw-2011-2016/2016/pressemitteilung.466508.php
[3] Im Januar 2019 werden durch den Rot-Rot-Grünen Berliner Senat die Gemeinschaftsschulen im Berliner Schulgesetz als „schulstufenübergreifende Schulart“ verankert. Das heißt, dass sie eine Regelschulform wie auch Grundschulen, Integrierte Sekundarschulen (ISS) oder Gymnasien werden.
[4] Zum Abschlussbericht: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule, Stand: Juni 2016
[5] Lipowsky, Frank; Lotz, Miriam: Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Türcke, Christoph:  Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Wellenreuther, Martin: Direkte Instruktion; Felten, Michael: Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk; Grell, Jochen: Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; Hattie, John: Lernen sichtbar machen, 2013; Hattie, John: Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014
[6] Das zweigliedrige Berliner Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand, https://www.dipf.de/de/forschung/aktuelle-projekte/pdf/steubis/BERLIN_Studie_Maerz_2017_wissenschaftliches_Fazit.pdf
[7] Helbig, Marcel; Nikolai, Rita: Alter Wolf im neuen Schafspelz? Die Persistenz sozialer Ungleichheiten im Berliner Schulsystem, WZB-Studie, Mai 2017, S. 29.
[8] Beiträge aus der Presse zur Niveausenkung an Berliner Schulen:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr; Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss; Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Lehrer finden Mathe-Prüfungen „Pillepalle“.
[9] Schwenk, Angela und Kalus, Norbert. KOMPETENZORIENTIERUNG IN DER DISKUSSION: BERLINER ABITUR-NOTEN, ELEMENTARMATHEMATISCHE FÄHIGKEITEN. In: Tagungsband der 13. Regionaltagung der Ingenieurpädagogischen Wissenschaftsgesellschaft, Hochschule Bochum 2018 – Diversität und Kulturelle Vielfalt – differenzieren, individualisieren – oder integrieren? In Druck. Veröffentlichung eines Auszuges aus der Studie mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
[10] SenBJW, 2012, S. 5
[11] Thoren, Katharina; Viole, Bianca; Harych, Peter; Brunner, Martin (2013): Abitur Berlin 2013 Ergebnisbericht, Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e. V., S. 42.
[12] SenBJW, 2012, S. 5
[13] FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth.
[14] vgl. Hattie, John: Lernen sichtbar machen (2013) und Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen (2014)
[15] aus: Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15;  Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau. Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten; vgl. Felten, Michael; Stern, Elsbeth (2012): Lernwirksam unterrichten – Im Schulalltag von der Lernforschung profitieren.
[16] Jeder zehnte Berliner Schüler verlässt die Schule ohne Abschluss! – Fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. https://www.tagesspiegel.de/berlin/neue-ergebnisse-zahl-der-berliner-schueler-ohne-abschluss-steigt/12462166.html ; Von 28000 Schulabgängern treten jeden Sommer nur zehn Prozent eine Ausbildung an, während rund 3000 „völlig vom Radar verschwinden“. Der Tagesspiegel, 22.06.2018, Weckruf an den Senat.
[17] Der Tagesspiegel, 8.5.2014, Sekundarschulreform: Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss

(Letzte Abfrage der angegebenen Links am 29.11.2018)

Der schleichende Systemwechsel zur nivellierenden Einheitsschule

KOMPETENZORIENTIERUNG IN DER DISKUSSION: BERLINER ABITUR-NOTEN, ELEMENTARMATHEMATISCHE FÄHIGKEITEN

Angela Schwenk1 und Norbert Kalus2
Beuth Hochschule für Technik Berlin, schwenk@beuth-hochschule.de
2  Beuth Hochschule für Technik Berlin, kalus@beuth-hochschule.de

Abstract 1 Eine Auswertung der Abiturdaten in Berlin zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016 eine deutliche Verbesserung der Abiturergebnisse bezogen auf die Parameter Durchschnittsnote, Anteil der Einsen und Zahl der nicht bestandenen Prüfungen. Dazu gegenläufig sind die Beobachtungen in der Studieneingangsphase. Aus der Perspektive von Ingenieurstudiengängen an einer Fachhochschule werden diese Beobachtungen durch Fallbeispiele demonstriert. Das Besondere an diesen Beispielen ist, dass sie aus Ingenieursfächern kommen und dass bei ihnen mathematisch einfache, praktische Anwendungen im Vordergrund stehen.

Keywords Kompetenzorientierung, Abiturstatistik, Übergang Schule – Hochschule, fehlende elementarmathematische Fähigkeiten

Abstract 2 Over the years from 2006 to 2015 a statistical analysis of the final secondary-school examinations in Berlin reports that the results are enhancing with respect to the parameters average of grades, the portion of best possible grades and the number of failed examinations. But the competencies of first-year students at university have an opposing trend. We will demonstrate these observations from the point of view of engineering study courses at a university of applied sciences and we will give examples. The specific features of these examples are: colleagues of the engineering faculty collected them out of their engineering modules; the focus is on mathematical simple practical applications.

Keywords Competence orientation, statistics of final secondary-school examinations, transition from school to university, lack of mathematical competencies.

Abiturdaten in Berlin der Jahre 2006 bis 2016: Verbesserung aller Parameter

Eine Auswertung der Abiturdaten [KMK] in Berlin zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016 eine deutliche Verbesserung der Abiturergebnisse bezogen auf die Parameter Durchschnittsnote, Anteil der Einsen und Zahl der nicht bestandenen Prüfungen. Genauer heißt das, die Anzahl der Abiturprüfungen nimmt über die Jahre zu, gleichzeitig sinkt die Zahl der Durchgefallenen, verbessert sich der Notendurchschnitt eines Abiturientenjahrgangs und erhöht sich der Anteil der Prüflinge, die die Bestnote 1,0 erreichen. Diese Entwicklung wird im Folgenden genauer beleuchtet.

Abiturnoten und besondere Veränderungen im Berliner Schulsystem

Wir beginnen mit den Durchschnittsnoten der bestandenen Abiturprüfungen an Gymnasien, Gesamtschulen bzw. integrierten Sekundarschulen und beruflichen Schulen.
In der Abbildung 1 sind die Durchschnittsnoten eines Abiturjahrganges über den Jahren aufgetragen.

Dabei beachte man: je niedriger die Kurve ist, desto besser ist die Note. Von 2006 bis 2016 verbessern sich die Noten um ca. 0,3 von 2,68 auf 2,39.

Die Kurve zeigt einige Auffälligkeiten, die sich mit Änderungen im Berliner Schulsystem erklären lassen. Die starke Verbesserung der Noten im Jahr 2007 fällt mit der Einführung der fünften Prüfungskomponente (5. PK) und der Einführung des Zentralabiturs zusammen. Die fünfte Prüfungskomponente besteht aus einer Präsentation über ein selbstgewähltes fachübergreifendes Thema, die seit 2013 durch eine Facharbeit im Umfang von fünf Seiten ergänzt werden muss. Alternativ kann eine schriftliche Belegarbeit angefertigt werden, aber diese Alternative wird kaum gewählt. Die Handreichungen der Berliner Senatsverwaltung für Lehrer zur 5. PK bestätigt die Verbesserung der Noten, dort heißt es gleich im 2. Satz des Vorwortes „In diesem Prüfungsteil erreichen Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt bessere Leistungen als in den übrigen Prüfungsfächern.“ [SenBJW, 2012, S. 5] Im Jahr 2013 lag die durchschnittliche Bewertung der 5. PK mit 10,4 Punkten deutlich über den der anderen mündlichen oder schriftlichen Prüfungen mit Durchschnitten von 7,9 bis 8,7 Punkten [Thoren, 2013, S. 42].
Im Jahr 2010 gab es zwei Veränderungen. Zum einen wurden die Integrierten Sekundarschulen (ISS) eingeführt, die die Haupt- und Realschulen in Berlin zusammenführten und die auch zum Abitur führen können. Zum anderen wurde der Notenschlüssel verändert. Die Hürde zum Bestehen wurde von 50% auf 45% der erreichbaren Punkte abgesenkt und der gesamte Notenschlüssel wurde entsprechend angepasst.  Die Zeitung Der Tagesspiegel berichtete davon mit der stolzen Überschrift: „Berliner Abiturienten holen bayerische Schüler ein“ [Tgsp, 1.7.2010]. Diese Änderungen führten aber nicht zu einer besonders auffälligen Verbesserung der Abiturdurchschnittsnote des Jahrgangs 2010.
Im Jahr 2012 war der doppelte Abiturientenjahrgang. In Berlin gilt die Verkürzung von 13 auf 12 Schuljahre nur für die Gymnasien. An den IS-Schulen wird das Abitur weiterhin nach 13 Jahren abgelegt. D. h. die stärkeren Gymnasiasten waren im doppelten Abiturientenjahrgang 2012 überproportional vertreten. Im darauffolgenden Jahr 2013 war das Verhältnis wieder normal und dementsprechend sind die Noten von 2013 und 2011 eher vergleichbar.

Verteilung der Noten

Abbildung 2 zeigt die Verteilung der Noten für drei ausgewählte Jahrgänge. Die dunkelste Linie gehört zum Abiturjahrgang 2006. Anhand dieser Kurve kann man ablesen, mit welchem Prozentsatz unter allen bestandenen Abiturprüfungen des Jahres 2006 eine bestimmte Gesamtnote erreicht wurde. Die Verteilung entspricht, wie zu erwarten, näherungsweise der Gaußschen Glockenkurve. Die Kurve ist leicht nach rechts zu den schlechten Noten verschoben. Das erklärt sich damit, dass die Grafik nur auf den Daten der bestandenen Abiturprüfungen basiert, also die Noten schlechter als 4,0  nicht erfasst sind. Je heller die Kurve ist, desto neuer sind die Daten. Man erkennt deutlich, dass sich mit den Jahren die Verteilung deutlich nach links, hin zu den besseren Noten, verschiebt. Besonders bemerkenswert ist der Knick bei der Note 1. Schaut man sich die Daten aller Jahre von 2006 bis 2016 im Einzelnen an, dann erkennt man: Ab 2007, dem Jahr der Einführung der 5. PK, ist durchgängig die Häufigkeit der Durchschnittsnote 1.0 höher als die der Durchschnittsnote 1.1. In den Jahren 2009, 2011 (2011 ist ein Jahr nach der Änderung des Notenschlüssels), 2014, 2015 und 2016 ist die Häufigkeit der Durchschnittsnote 1.0 sogar höher als die der Durchschnittsnote 1.2, in 2016 sogar deutlich höher!

In Abbildung 3 zeigt die obere, dunklere Linie den Prozentsatz der nicht bestandenen Abiturprüfungen, dazu gehört die rechte Ordinatenachse. Insgesamt ist die Durchfallquote im betrachteten Zeitraum von 7,5% auf 5% stark zurückgegangen.

Im Jahr 2007 der Einführung der 5. Prüfungskomponente und des Zentralabiturs zeigt die Durchfallquote eine besonders starke Verringerung, deutlich ist auch die Verringerung im Jahr 2010, als die Notenskala verändert wurde. Der doppelte Abiturjahrgang 2012 mit der doppelten Kohorte von Gymnasiasten zeigt ebenfalls eine besonders starke Verringerung der Durchfallquote, die im folgenden Jahr 2013 wieder der des Jahres 2011 entspricht.

Parallel zum Rückgang der Durchfallquote hat sich, wie die hellere, untere Linie zeigt, der Anteil der Einser-Abiture, von 0,3% im Jahr 2006 auf 1,8% im Jahr 2016 versechsfacht.

Gegenüberstellung: Anzahl der Prüfungen und der nicht bestandenen Prüfungen

Wie man anhand der Abbildung 3 sehen konnte, verringert sich über die Jahre die Durchfallquote. Aber nicht nur der Prozentsatz der nicht bestandenen Prüfungen nimmt ab, sondern parallel zum Anstieg der Anzahl der Abiturprüfungen nimmt sogar die (absolute) Zahl der nicht bestandenen Prüfungen ab.

In Abbildung 4 sind nun keine Prozentwerte, sondern die absoluten Zahlen dargestellt. Die hellere, obere Linie zeigt mit der linken Ordinatenachse die Anzahl der abgelegten Abiturprüfungen, die schwarze, untere Linie stellt mit der rechten Ordinatenachse den Verlauf der Zahl nicht bestandenen Prüfungen dar. Deutlich ist der doppelte Abiturientenjahrgang 2012 erkennbar. Ab 2013 steigen dann die Zahlen der Abiturprüfungen deutlich kontinuierlich an. Die Zahl der Durchgefallenen folgt nicht dieser Entwicklung. Mit der Einführung der 5. Prüfungskomponente und des Zentralabiturs in 2007 und mit der Verbesserung der Notenskala in 2010 sinkt die Zahl der Durchgefallenen überproportional. Auffällig ist auch der doppelte Abiturientenjahrgang. Stieg die Zahl der Prüfungen von ca. 13100 (Jahr 2011) um 5.580, das sind 43%, so erhöhte sich parallel dazu die Zahl der Durchfaller nur um ganze 43 Personen, d.h. um 6% und änderte sich kaum. Über den gesamten Zeitraum betrachtet ergibt sich folgendes Bild: 2006 wurden 14650 Abiturprüfungen abgelegt, zehn Jahre später in 2016 waren es 17350; das ist eine Zunahme um 18%. Die Zahl der davon nicht bestandenen Prüfungen ging von 1100 im Jahr 2006 auf 860 im Jahr 2016, d. h. um 22% zurück.

Sinkende Fähigkeiten der Studienanfänger und –anfängerinnen

Konträr zu den guten Entwicklungen der Parameter des Abiturs in Berlin ist die Entwicklung der Fähigkeiten der Studienanfängerinnen und –anfänger. Dies können wir anhand eines Eingangstestes, den wir alle fünf Jahre flächendeckend im ersten Semester an unserer Hochschule durchführen, und weiter unten anhand von Analysen von Fehlern, die in Klausuren beobachtet werden, belegen.

Alle fünf Jahre ermitteln wir die Kenntnisse aller Studienanfänger und –anfängerinnen der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Anders als an den Berliner Schulen wurden die Rahmenbedingungen dabei nicht verändert: identische Aufgaben, keine Taschenrechnerbenutzung, anonyme Abgabe, Durchführung in der jeweils ersten Mathematik-Lehrveranstaltung des ersten Semester.
Abbildung 5 zeigt für die Jahre 2000, 2005, 2010 und 2015 die Häufigkeitsverteilung der erreichten Punkte.

Waren es z. B. im Jahr 2000 nur ca. 2 % der Teilnehmer, die keinen einzigen der möglichen 27 Punkte erreichten, so waren es im Jahr 2015 über 16 % aller Teilnehmer. Für die Häufigkeitsverteilungen erwartete man die Form einer Gaußschen Glockenkurve. Eine Glockenkurve ist im Jahr 2000 erkennbar, diese verschiebt sich dann in den folgenden Testjahren immer weiter nach links in den schlechten Bereich. 2015 ist schließlich nur noch die rechte Hälfte der „Glocke” erkennbar.

Parallel haben wir denselben Test in einem Berliner Gymnasium (Bertha-von-Suttner-Schule) u. a. am Ende der 10. Klasse durchgeführt. Damit ist auch klar, dass in dem Test nichts Exotisches verlangt wird, sondern Kenntnisse, die am Ende der 10. Klasse vorhanden sein sollten. Auf die vergleichenden Auswertungen soll hier nicht weiter eingegangen werden.

Der Brandbrief Mathematik und die Reaktionen

Die Hochschulen haben bisher im Allgemeinen den Verfall der mathematischen Eingangskenntnisse nur schweigend beobachtet und sich auf Reparaturmaßnahmen wie die Einführung von Brückenkursen beschränkt. Im März 2017 initiierte Frau Dr. Baumann einen Brandbrief [Baumann, 2017], den 150 Personen aus Universitäten, Fachhochschulen und Schulen unterzeichneten. Inzwischen ist die Zahl der Unterzeichner auf 300 angewachsen. Unterschrieben haben nicht nur Mathematiker/innen sondern auch Ingenieurkollegen/innen. Dieser Brandbrief fand ein breites Echo in den Medien. In sehr vielen Reaktionen auf den Brandbrief wurde auch von Seiten der Mathematik-Didaktik anerkannt, dass es in der Mathematik eine Lücke zwischen Schule und Hochschule gibt. Über die Ursachen herrschte dann keine Einigkeit  mehr.

Unterscheidung von allgemeinbildender und studienvorbereitender Mathematik

Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 wurde in Deutschland der Mathematikunterricht an Schulen reformiert. Über die Bildungsstandards hielt die Kompetenzorientierung Einzug in den Schulen. Wissen wurde als totes Wissen bezeichnet, Üben wurde zu Gunsten von Anwendungen, die oft nur pseudo Anwendungen waren, reduziert.

Eigenes Wissen muss strukturiert und vernetzt sein, das ist besonders für die Mathematik wichtig. Dem entgegen steht die Häppchen-Mathematik in Schulbüchern, bei denen auf jeder Doppelseite ein neues Thema begonnen wird [Affolter, 2009]. Die Kompetenzorientierung wurde im Brandbrief als Hauptursache genannt. 50 Didaktiker/innen der Mathematik antworten in einem offenen Brief: „Wie kann ein Mathematikunterricht aussehen, der eine mathematische Allgemeinbildung gewährleistet bei gleichzeitiger Sicherung einer Studierfähigkeit für mathematiknahe Berufe?“. Damit wurde ein Konflikt zwischen allgemeinbildender und studienvorbereitender Mathematik konstruiert. Frau Reiss, die deutsche PISA-Chefin, wurde in der Tagesszeitung Der Tagesspiegel zitiert mit: „Es ist ein fundamentales Missverständnis, dass die Schule die Schüler studierfertig abzuliefern hat.“ [Tgsp, 22.3.2017]. Dieses Zitat macht einen Paradigmenwechsel deutlich. Dazu passt, dass in letzter Zeit immer öfter statt von Hochschulreife von Hochschulzugangsberechtigung gesprochen wird. Auch in der Diskussion in den Nachrichten der Deutschen Mathematiker Vereinigung konstruierten Eichler und Körner [Vogt, 2017] einen Unterschied zwischen mathematischer Allgemeinbildung und der Vorbereitung auf ein MINT-Studium. Unabhängig davon, ob man diese Unterscheidung für gerechtfertigt oder nicht hält, lässt sich festhalten, dass die Probleme im elementarmathematischen Bereich eindeutig in der „allgemeinbildenden Mathematik“ angekommen sind. Dazu folgen ein paar Beispiele.

Beispiele

Die nun folgenden Beispiele gehören eindeutig zur allgemeinbildenden Mathematik. Das besondere dieser Beispiele ist, dass sie alle von Ingenieurkollegen in deren Ingenieur-Modulen gesammelt wurden. Sie stammen also nicht aus dem Elfenbeinturm der Mathematik. Damit ist klar, dass die folgenden Inhalte und Fähigkeiten von den Ingenieurstudierenden „gebraucht“ werden.

Kürzen nicht automatisiert

Aus dem 5. Semester des Bachelor-Studiengangs Maschinenbau stammt diese Aufgabe, sie war ohne Unterlagen und ohne Benutzung eines Taschenrechners im Rahmen einer Klausur zu lösen.

Wie lang ist der Weg, den ein Fräser auf einem Viertelkreis (Durchmesser von 800 mm) zurücklegt?

Es muss also der Umfang eines Viertelkreises bei gegebenen Durchmesser d berechnet werden Die Formel lautet U1/4=π d/4. Nach Einsetzen der Werte und Kürzen muss lediglich das Produkt aus 200*π mm=2*3,14*100 mm=628 mm berechnet werden. Doch ohne Kürzen lauern viele Fallstricke bei der schriftlichen Multiplikation von 800*3,14 mm und dem anschließendem schriftlichen Dividieren durch 4. Dahinter steckt ein typisches Problem: Kürzen vor der Berechnung ist eine kaum noch vorhandene Praxis. Das beobachten wir in unseren Mathematik-Klausuren auch immer wieder. Insgesamt nahmen 67 Studierende an der Klausur teil, 35 von Ihnen bearbeiteten die Aufgabe nicht oder hatten eine falsche Lösung, d. h. 52% der Teilnehmenden erzielten kein korrektes Ergebnis! Viele von denen wussten die korrekte Formel, scheiterten dann wegen des fehlenden Kürzens an der eigentlichen Rechnung.

Umrechnen von Einheiten, Umgang mit Zehnerpotenzen

Nachdem ein Kollege in der Labor-Übung Werkstoffbearbeitung im 1. Semester des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau Probleme beim Umrechnen von Einheiten erkannt hatte, ließ er das Thema anhand von Unterlagen üben und erstellte einen Testbogen. Diesen Testbogen benutzte dann einer der Autoren und überprüfte damit unangekündigt die Umrechnungsfähigkeiten bei Studierenden seiner Mathematik I Vorlesung für den Studiengang Maschinenbau.

Die Aufgaben in Abbildung 6 mussten ohne Taschenrechner bearbeitet werden. Das Ergebnis war niederschmetternd: Keiner hatte 8 oder alle 9 Aufgaben richtig, und 34% hatten keine oder nur eine Aufgabe richtig. Im Durschnitt wurden von den 9 Aufgaben nur 2,93 richtig gelöst. Dabei verlangen diese Aufgaben nur Basisfähigkeiten: Kenntnisse der Einheitenpräfixe, das Umgehen mit 10er-Potenzen und ggf. elementare Bruchumformungen.

Umformen einer einfachen Gleichung

Dieses Beispiel stammt aus dem Labor für Werkstoffbearbeitung. Dort sollte eine Laborgruppe an der Tafel vor der Versuchsdurchführung die Schnittgeschwindigkeit Vc eines Bohrers berechnen. Die Beziehung zwischen der Umdrehungszahl n des Bohrers pro Minute und dem Durchmesser des Bohrers d war wie in der obersten Zeile von Abbildung 7 gegeben. Die Aufgabe war nun, die Gleichung nach Vc aufzulösen. Ein Student der Gruppe formte um, vier sahen zu, alle fünf hatten Abitur und keiner hat den Fehler gefunden.

Beim Übergang zur letzten Zeile zeigt sich eine weitere Schwierigkeit. Ein Bruch muss hier durch eine Zahl geteilt werden. Offensichtlich war der Student unsicher und notierte erst einmal den Doppelbruch. Das Tafelbeispiel hört hier auf. Wie der Doppelbruch vereinfacht worden wäre, ist also Spekulation. Aber in der Schreibweise zeigt sich ein sehr häufig vorkommendes Problem, das oft zu Fehlern führt, denn die Notation ist nicht eindeutig. Die beiden folgenden Ausdrücke (a/b)/c und a/(b/c) liefern im Allgemeinen verschiedene Ergebnisse. So ist z. B. (2/2)/2=1/2 aber 2/(2/2)=2. Der Bruchstrich außerhalb der Klammer ist der sogenannte Hauptbruchstrich, den man auf die Höhe des Gleichheitszeichens positionieren und den man auch länger als die anderen Bruchstriche ziehen sollte. Ein Unbeteiligter, der nicht die Entstehungsgeschichte der letzten Zeile kennt, würde die letzte Zeile also falsch interpretieren.

Geometrische Grundformen unbekannt

Werkzeuge wie Bohrer und Fräser können zylindrische oder keglige Schäfte aufweisen, um mit diesen das Werkzeug mit der Hauptspindel der Maschine zu verbinden. Eine Form der kegligen Schäfte ist der Morsekegel. Im Rahmen der Vorbesprechung einer Übung im Labor für Werkstoffbearbeitung zeigte sich, dass Studenten mit dem Begriff Morsekegel keine geometrische Vorstellung verbinden konnten. Zur Klärung der Begriffe Zylinder und Kegel sollte ein Student die entsprechenden geometrischen Figuren an die Tafel zeichnen. Dabei entstand die Zeichnung aus Abbildung 8. Selbst die stark abstrahierte Darstellung lässt erkennen, dass dieser Student keine Vorstellung eines Zylinders hat und Kegel offensichtlich nur von der Bowlingbahn her kennt. Hier wurde zwar ein Einzelfall beschrieben, doch ist er symptomatisch für die starke Verringerung des Geometrieanteils in der Schulmathematik.

Schlussfolgerungen

Die präsentierten Beispiele zeigen deutlich, dass die Probleme der Studienanfängerinnen und   Studienanfänger sich bereits bei sehr niedrigen Schwierigkeitsstufen ergeben und dass die Mathematikausbildung an Schulen bei Weitem nicht studienvorbereitend ist und selbst für den allgemeinbildenden Bereich nicht ausreicht.

Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 wurde der Mathematikunterricht an Schulen reformiert. Der Fokus lag nun mehr auf der Anwendung von Wissen. Die Vermittlung von Wissen selbst verlor an Bedeutung, das Üben wurde zu Gunsten von Anwendungen stark reduziert. Das Rechnen und auch das Umformen mathematischer Ausdrücke wurden an elektronische Hilfsmittel delegiert. In der Folge gab es noch weniger Anlässe, den elementaren Mittelstufenstoff zu üben. In der Bildungsdiskussion gibt es eine Unterschätzung des Übens und eine Unterschätzung von Kalkül. Dabei hat Kalkül einen Wert an sich, denn Kalkül hat oft algorithmische Aspekte, ist somit ein gutes Training für die Digitalisierung und in der Grundschule sicher sinnvoller als Programmieren. Es gibt eine Unterschätzung von Wissen. Doch Wissen ist wichtige Voraussetzung für Kreativität und für eine solide Internetrecherche. Dagegen werden der Taschenrechner und anwendungsbezogene Fragestellungen überschätzt.

Lehre sollte heute noch mehr als früher Wert auf Struktur legen. Denn die Struktur des Faches, die logische Einbettung und der rote Faden des Faches fördern das Verständnis. Die Studierenden neigen dazu, fallbasierend zu arbeiten. Sie suchen oft nach der Lösung genau dieses(!) einen Problems. Gegoogeltes Wissen ist aber unstrukturiert. Umso wichtiger wird in der Lehre die strukturelle Vernetzung von Wissen.

Dank

Wir danken unserem Kollegen Prof. Dr.-Ing. Ralf Förster, Beuth Hochschule für Technik Berlin, für die Beispiele und die vielen anregenden Diskussionen.

Referenzen

Affolter, Walter u. a. (2009). Das Mathematikbuch 9, Klett-Verlag, Ausgabe A ab 2009, ISBN 978-3-12-700391-8
Baumann (1017). Mathematikunterricht und Kompetenzorientierung – ein offener Brief . https://www.tagesspiegel.de/downloads/19549926/2/offener-brief.pdf (2018 10 12)
KMK. Abiturnoten im Ländervergleich. https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/abiturnoten.html (2018 10 12)
Sen BJW (2012). Die fünfte Prüfungskomponente im Abitur, Eine Handreichung, 3. überarbeitete Fassung, Hrsg Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft
Stellungnahme zu „Mathematikunterricht und Kompetenzorientierung – ein offener Brief“. https://www.tagesspiegel.de/downloads/19590132/1/mathematiker-distanzieren-sich-vom-mathematiker-brandbrief.pdf (2018 10 12)
Tgsp (1.7.2010). Der Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/berlin/schule/abschlussnoten-berliner-abiturienten-holen-bayerische-schueler-ein/1873312.html  (2018 10 12)
Tgsp (22.3.2017). Der Tagesspiegel. „Mathematik häppchenweise“ , S. 22 https://www.tagesspiegel.de/wissen/brandbrief-gegen-bildungsstandards-der-aufstand-der-mathelehrer/19550928.html  (2018 10 12)
Thoren, Katharina; Viole, Bianca; Harych, Peter; Brunner, Martin (2013). Abitur Berlin 2013 Ergebnisbericht, Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e. V.
Vogt, Thomas (2017). Hausaufgaben für alle? In: Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 25(2), p. 90-105

Quelle:  Schwenk, Angela und Kalus, Norbert. KOMPETENZORIENTIERUNG IN DER DISKUSSION: BERLINER ABITUR-NOTEN, ELEMENTARMATHEMATISCHE FÄHIGKEITEN. In: Tagungsband der 13. Regionaltagung der Ingenieurpädagogischen Wissenschaftsgesellschaft, Hochschule Bochum 2018 – Diversität und Kulturelle Vielfalt – differenzieren, individualisieren – oder integrieren? In Druck.

Vorabveröffentlichung der Studie durch Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Studie als PDF-Datei: 2018_IPW-DFV_Schwenk_final


siehe auch: