Archiv der Kategorie: Schule und Noten

Weniger Abitur, mehr Vernunft

Von George Turner

Prof. Dr. George Turner war von 1986 bis 1989 parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin. Von 1989 bis 2000 lehrte Turner erneut als Professor für Wirtschafts- und Agrarrecht sowie Wissenschaftsverwaltung an der Universität Hohenheim. Turner war Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Berliner Tagesspiegel schreibt er eine regelmäßig erscheinende Kolumne.

Der Anteil der Jugendlichen einer Altersgruppe, die das Abitur ablegen, geht leicht zurück. Das wird diejenigen grämen, die unablässig für einen höheren Anteil geworben haben und denen 50 Prozent nicht ausreichen – darunter die Vertreter von Bildung und Kompetenzen der OECD.

Die neue Tendenz zeigt, dass die Betroffenen offenbar vernünftiger sind als die Experten. Dabei sollte unbestritten sein, dass Jugendliche, die über die entsprechenden Voraussetzungen verfügen, die bestmöglichen Bildungsabschlüsse erwerben, unabhängig von der finanziellen und sozialen Situation, in der sie sich befinden. Aber genau so sollte gelten, dass es verfehlte Planwirtschaft ist, wenn eine bestimmte Prozentzahl an Abiturienten als Ziel vorgegeben wird.

Welche verheerende Wirkung solche Signale auf das Schulwesen hat, erkennt man an der Noteninflation beim Abschluss. Die Anzahl der Einser-Abiturienten lässt die Glaubwürdigkeit der Notengebung und die Qualität der Inhaber der Zeugnisse fragwürdig erscheinen. Begonnen hat es mit den Zulassungsbeschränkungen im Fach Medizin. Aspiranten für das Fach wollte man den Zugang verwehren. Wenn man aber das durch Großzügigkeit bei der Notengebung erreichen wollte, musste das Niveau insgesamt angehoben werden, weil sonst solche, die nicht Medizin studieren wollten, ungerecht behandelt worden wären. Daraus ergab sich eine Spirale der ständig besseren Notengebung bis zu nicht mehr nachvollziehbaren Größenordnungen von Scharen von Absolventen mit dem Durchschnitt von 1,0 im Zeugnis.

Wenn nunmehr die Zahl der Abiturienten zurückgeht, kann das auch für den Arbeitsmarkt positive Folgen haben: Der beklagte Facharbeitermangel erklärt sich auch aus der Tatsache, dass es als unvermeidbare Einbahnstraße verstanden wurde, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. Wenn die Reaktion der Betroffenen derart ist, dass sie andere Möglichkeiten des Berufseinstiegs sehen, sollte das dazu führen, dass Verbände und Unternehmen entsprechende Ausbildungsplätze attraktiv gestalten, damit das duale Ausbildungssystem keine Sackgasse für weitere Karrierechancen bedeutet.

Diejenigen, die beklagt haben, dass es zu wenige Bewerber für Berufe in Industrie und Wirtschaft gäbe, sollten jetzt mithelfen, eben dort interessante und zukunftsorientierte Stellen zu schaffen, damit die rückläufigen Abiturientenzahlen sich als das erweisen, was sie sein können: die Erkenntnis weiterer Jahrgänge, dass es nicht nur den einen Königsweg über das Abitur gibt.

Der Beitrag erscheint auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors. Seine E-Mail: george.turner@t-online.de

Bildung in Deutschland 2020

… mit Blick auf das „untere Ende des schulischen Qualitätsspektrums“:

54.000 Jugendliche 2018 ohne Hauptschulabschluss.

Diagramm aus: Bildung in Deutschaland 2020, S. 143

Bereits im vorangegangenen Bildungsbericht zeigte sich, dass auch am unteren Ende des schulischen Qualifikationsspektrums [!] der über viele Jahre beobachtete Rückgang der Abgangsquote nicht anhält. Im Gegenteil: Seit 2013 steigt die Quote auf zuletzt fast 7% wieder an; knapp 54.000 Jugendliche verließen 2018 die allgemeinbildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss. Aus: Bildung in Deutschland 2020, S. 144

Das hehre Ziel des Dresdner Bildungsgipfels aus dem Jahr 2008, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss bis zum Jahr 2015 auf vier Prozent zu senken, ist in fast allen Ländern verfehlt worden. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die Schulabbrecherquoten sind in die Höhe geschnellt. Im Schulabbruch zeigt sich ein Systemversagen, für das es bisher keine Lösung gibt. […] Derzeit legt jedes Land andere Kriterien zugrunde, um sich die eigenen Zahlen schönzurechnen. In den Kultusministerien will man nämlich nicht so genau wissen, wie viele Schulabbrecher es tatsächlich gibt, weil sich schulpolitisches Scheitern nirgendwo deutlicher zeigt. FAZ, 25.08.2019, Heike Schmoll, Im Schulabbruch liegt Systemversagen

In Berlin verlassen deutschlandweit die meisten Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss.

Das hat eine am 29.07.2019 veröffentlichte Studie der Caritas ergeben. Laut dieser hatten 2017 11,7 Prozent der Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss. 2015 waren es noch 9,3 Prozent [siehe nachfolgender Kasten]. Der Bundesdurchschnitt lag im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent. Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit waren laut Caritas über 52.000 Jugendliche betroffen – 5000 mehr als noch zwei Jahre zuvor.

Auswahl des Diagramms, Hervorhebungen im Fettdruck und Textauswahl im Kasten durch Schulforum-Berlin.


Mehr zum Thema:

Das neue Grundsatzprogramm der Grünen versteht Bildungspolitik primär als Sozialpolitik. Den Anforderungen unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft wird das Programm dadurch nicht gerecht.
Website von Rainer Werner, Gymnasiallehrer in Berlin und Buchautor

Berlin hat eine Bildungs-Leerstelle Die rot-rot-grüne Bildungspolitik ist eine Aneinanderreihung politischen Versagens.
Tagesspiegel, 06.08.2019, Kommentar von Sabine Beikler

1700 Berliner Zehntklässler ohne Abschluss
Mehr als jeder achte Sekundarschüler scheitert an den Prüfungshürden. Tagesspiegel, 16.10.2019, Susanne Vieth-Entus

Nationaler Bildungsbericht: Was wird aus den Schulabbrechern?
Es ist erschreckend, dass die Gruppe der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss im neuen Bildungsbericht um zwanzig Prozent gewachsen ist.
FAZ, 24.06.2020, Heike Schmoll

Ist die Gemeinschaftsschule am Ende? – „Notenfreier Scheinerfolg bis Klasse 8“

„Ich bin als Sozialarbeiter geendet“

Gymnasiallehrer an Gemeinschaftsschulen (GMS) in Baden-Württemberg laufen Sturm.

FAZ, 13.02.2020, Heike Schmoll, Berlin

„Wenn ich Leistungsnachweise schreiben lasse oder gar Tests, dann werfen Schüler mir die Arbeit entgegen und meinen, dass ihnen ohnehin nichts passiere, wenn sie nicht mitschrieben.“ Das ist kein Bericht aus einer Berliner Brennpunktschule, sondern die Stimme eines Gymnasiallehrers an einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Der Wegfall der Noten und der Versetzungsordnung bewirkten, dass Schüler eine große Gleichgültigkeit entwickelten, „sie lernen nicht und besitzen auch keine Arbeitsdisziplin“.

Praktisch durchgängig werden von den Lehrkräften massive Disziplinprobleme in den Lerngruppen und während der selbstorganisierten Arbeitszeit beklagt, die ein effektives Lernen teilweise unmöglich machen.
[Textauswahl in grau unterlegten Einschüben aus der Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württembergs.]

Schüler könnten „Klassenarbeiten nach einem Nichtbestehen identisch wiederholen, so dass dann die Ergebnisse stimmen“, so ein weiterer Lehrer, nach dessen Aussage auch die Vergleichsarbeiten des VERA-Tests für die achte Jahrgangsstufe hochkorrigiert wurden.

Einige Lehrer schildern bezüglich der Anmeldenoten zur Abschlussprüfung bzw. für die VERA-Tests die klare Aufforderung ihrer Schulleitung, die Noten zu schönen. Die Ergebnisse der Mittlere-Reife-Prüfungen der GMS bestätigen diesen schweren Vorwurf: So liegt die durchschnittliche Anmeldenote in Mathematik landesweit bei 3,2, während die in der schriftlichen Prüfung erzielte Note im Durchschnitt nur 3,9 beträgt. Rund ein Viertel der GMS-Schüler erreicht in der schriftlichen Mathematik-Abschluss-Prüfung nicht die Note „ausreichend“.

Statt Zensuren und Zeugnissen gibt es sogenannte Lernentwicklungsberichte, die nicht „aussagekräftig“ seien und von den Eltern und den Schülern nicht verstanden würden.

Die Verbalbeurteilungen der Schülerinnen und Schüler werden von vielen Kindern und Eltern nicht verstanden, da sie in der Regel sehr wohlwollend und ermutigend formuliert werden. Noten gibt es an den meisten GMS erst ab Klasse 9. Kinder, die auf Basisniveau lernen und ihre Eltern erliegen so teilweise bis zur 8. Klasse der Illusion, sie würden auf die Oberstufe und das Abitur vorbereitet.

Sehr viele Hauptfächer müssten fachfremd unterrichtet werden, so die einhellige Beobachtung der Gemeinschaftsschullehrer mit gymnasialer Ausbildung, die aus Angst vor Konsequenzen anonym an den Philologenverband Baden-Württemberg berichtet haben. „Ich bin bewusst Gymnasiallehrer geworden und endete nun als Sozialarbeiter.“ Viele der Kinder seien „Schulverweigerer, die beim geringsten Anlass aus der Schule wegrennen, sich komplett verweigern, schreien, weinen, Mitschüler und Lehrer treten“. Es gehe nicht mehr um Wissens- und Kompetenzvermittlung, sondern nur noch darum, die Klasse zu bändigen, so ein weiterer Lehrer, der die Gemeinschaftsschule als Schulart für gescheitert erklärt. […]

Für die größtenteils stark verhaltensauffälligen Kinder mit großen Lernschwierigkeiten seien die individuellen Lernzeiten als offene Lernform völlig ungeeignet. „Die Schüler nehmen sich nur das Thema, auf das sie ,Bock haben‘, und so geschieht es, dass Themen der Grammatik und Rechtschreibung nie bearbeitet werden“, berichtet ein Lehrer, denn manche Schüler bearbeiteten im gesamten Schuljahr nur zwei Themen. „Einfachheitshalber kann man den Schülern Lösungsblätter geben, damit sie sich selbständig kontrollieren, was in der Praxis meist darauf hinausläuft, dass sie einfach fehlende Stellen abschreiben.“

In Baden-Württemberg wurde 2012 mit den ersten 41 GMS [inzwischen sind es 306 öffentliche und 123 private] ein pädagogisches Konzept eingeführt . Ein Konzept, in dem Lehrer zu „Lernbegleitern“ degradiert werden und Schüler sich nach kurzen inhaltlichen Inputs den gesamten Stoff selbst erarbeiten sollen. Dieses Konzept ist insbesondere für schwächere Schüler – die an der GMS die Mehrheit stellen – völlig ungeeignet. Die schwächsten Schüler benötigen gerade die engste und intensivste Führung und Betreuung. Dies wurde auch in der WissGem-Studie, der Begleitstudie zur Evaluation der Gemeinschaftsschulen, genauso festgestellt. Im Übrigen sparte die Studie dieses neuen Konzepts in ihren Untersuchungen die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler praktisch vollständig aus.

Wenn die Gemeinschaftsschule so weitergeführt werde, „erziehen wir unsere Schüler zu überforderten Frustrierten“, heißt es in einem der Berichte. Das selbstorganisierte Lernen sei für schwache Schüler fatal. Das deckt sich mit Erkenntnissen der Lernforschung, die den lehrergeleiteten Unterricht für schwache Schüler als effektivste Form der Lehre identifiziert hat.

„Die Lernstandserhebung in Klasse fünf zeigt regelmäßig, dass sich die meisten Schüler deutlich unterhalb des Hauptschulniveaus bewegen“, heißt es. Zu 80 bis 90 Prozent bestehe die Schülerschaft aus Förder- und Hauptschülern. Doch an Sonderpädagogen fehlt es, berichten alle an Gemeinschaftsschulen unterrichtenden Gymnasiallehrer. […]

Der Wegfall von Noten und Versetzung, Lernentwicklungsberichte, keine äußere Differenzierung, Mobbing von Gymnasiallehrern durch Hauptschulkollegen, eine überforderte Schulleitung sowie die Beschönigung von Anmeldenoten seien Alltag, so das Fazit der Betroffenen. […]

Der PhV-Vorsitzende Ralf Scholl erklärt dazu: „Hier wird aus ideologischen Gründen („Eine Schule für alle“) ein ungedeckter Scheck auf Kosten einer ganzen Schülergeneration ausgestellt. Die GMS sind bislang jeden Erfolgsbeweis schuldig geblieben, dass sie — trotz wesentlich höherer Kosten — auch nur einen Deut besser sind als die klassischen Schulformen. (Die GMS erhalten einen Sachkostenzuschuss von über 1.300 € pro Schüler und Jahr im Vergleich zu rund 800 € für Schüler an Gymnasien und Realschulen).

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben aus der Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württembergs. Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: FAZ, 13.02.2020, Heike Schmoll, Berlin, „Ich bin als Sozialarbeiter geendet“.
zur Pressemitteilung: Philologenverband BW, 12.02.2020
siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider? Zum Abschlussbericht Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen. Eine Auftragsstudie soll das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Berliner Gemeinschaftsschulen legitimieren.

siehe auch: 2020.02.18_Pressemitteilung_3xMEHR_Gemeinschaftsschulkritik

Fließbandarbeit in der Lernfabrik

Große Klassen und die „Neue Lernkultur“ industrialisieren den Lehrerberuf.

Von Nils Björn Schulz

Dr. Nils Björn Schulz ist Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in Berlin.

Lehrerinnen und Lehrer sind zu Arbeitern einer hybriden Bildungsindustrie geworden. 50-Stunden-Wochen und Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmen den Berufsalltag vieler Kolleginnen und Kollegen – vor allem an Gymnasien. Die fortschreitende Digitalisierung, die Test- und Evaluationseuphorie und die Kompetenzorientierung der Neuen Lernkultur, wie sie Christoph Türcke in seinem Buch „Lehrerdämmerung“ nennt [siehe Bücherliste], haben innerhalb von knapp fünfzehn Jahren ein ganzes Berufsfeld industrialisiert und die Schule in eine Lernfabrik verwandelt. Das Produktionsziel: höhere Abiturientenquoten bei gleichzeitiger Absenkung des Anspruchsniveaus, wie die jüngsten Studien des Frankfurter Bildungsforschers Hans-Peter Klein zeigen konnten. [Siehe dazu auch für Berlin die Studie von Angela Schwenk und Norbert Kalus, Auswertung der Abiturdaten von 2006 bis 2016.]

Die Niveauabsenkung wird vor allem durch das ständige Gerede über Qualität und Qualitätsmanagment kaschiert. Aber für die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer ist sowieso eine ganz andere Kategorie zentral: die der Quantität. Es ist die schiere Quantität an Klassenarbeiten, Noten, Tests, Evaluationen, Methodentrainings – und die Lautstärke in den Klassenräumen, die erschöpft. An Gymnasien sitzen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einem Klassenraum, in Berlin sind es sogar bis zu 32.

Man kann es ja begrüßen, dass die Disziplinargesellschaft verabschiedet wurde, jedoch hat man deren Raum- und Zeitstruktur beibehalten. Klassenräume und Stundenrhythmen gehören einem Typus an, den Michel Foucault als Einschließungsmilieu bezeichnete. Nur lassen sich Kinder und vor allem pubertierende Jugendliche so nicht mehr disziplinieren.

Aufgrund überbordenden Gebrauchs digitaler Medien völlig dezentriert, können sich viele in den vorgegebenen Strukturen nicht mehr konzentrieren. Die täglichen Mediennutzungszeiten Pubertierender variieren je nach Studie zwischen 5 und 7 Stunden. Es ist laut geworden in den spätmodernen Lernfabriken. Gerade die kooperativen Lernformen, die auf die Dezentrierung reagieren und sie zugleich verstärken, werden schon in der Grundschule eingeübt und lassen je nach Lerngruppe in den Räumen den Lärmpegel bis auf 80 Dezibel ansteigen. Anderen Berufsgruppen wird da Gehörschutz verordnet.

Aber viele Lehrerinnen und Lehrer sprechen nicht offen über dieses Thema, weil sie das Ressentiment fürchten, der Grund für den Lärm sei mangelnde pädagogische Kompetenz. Genauso schreiben sich gegenwärtig viele Eltern ihr Scheitern selbst zu, wenn es darum geht, den Medienkonsum ihrer Kinder zu reglementieren; dabei haben sie schlichtweg keine Chance gegen die Produktentwicklungs- und Werbestrategien großer IT-Konzerne. Es ist ja gerade das Geschäftsmodell vieler Firmen, die Begierden der Nutzer so anzutriggern, dass das Virtuelle ihr Dasein bestimmt oder Smartphones als Quasiorgane ins Körperschema integriert werden. Die Nutzer werden nervös, wenn die Geräte nicht in Reichweite sind.

Dass die Hattie-Studie für kleinere Klassen eine eher niedrige Lerneffektstärke ermittelte, kam den Bildungs- und Finanzministerien sehr zupass: So konnte man die Klassengrößen mit ruhigem pädagogischen Gewissen beibehalten. Jedoch zeigt eine genaue Lektüre von John Hatties Buch „VisibleLearning“ [siehe nebenstehende Bücherliste], dass gerade das Thema „Klassengröße“ unbedingt weiter untersucht werden muss. Hattie weist nämlich selbst darauf hin, dass veränderte Lehrmethoden, anderes Feedback-Verhalten, neue Formen der Interaktion, die nur in kleineren Lerngruppen möglich sind, das Lernen fördern können.

Und viele Lehrerinnen und Lehrer haben die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Methoden – wie beispielsweise das von vielen Oberstufenschülerinnen und -schülern immer noch sehr geschätzte lehrerzentrierte Unterrichtsgespräch – nur in Klassen bis maximal 20 Schülern überhaupt funktionieren.

Große Lerngruppen produzieren quantitativ mehr Arbeit als kleine. Das wäre an sich vielleicht eine lapidare Aussage, wenn sich nicht die Benotungskriterien und – damit eng verbunden – die sogenannte Schreibkompetenz, also die Fähigkeit, lesbare Texte zu schreiben, so gravierend verändert hätten. Oberstufenklausuren mit 10 bis 15 Rechtschreib- und Grammatikfehlern pro Seite sind leider nicht die Ausnahme; und für einige Handschriften benötigt man Werkstattleuchten und Leselupen.

Für Lehrerinnen und Lehrer heißt das aber, dass die Klausurenkorrektur durchschnittlich länger dauert als früher, dass jede Klausur mindestens zwei Mal gelesen werden muss: Zunächst müssen die Orthographie-, Grammatik- und Ausdrucksfehler analysiert und markiert werden, dann die – oft durch die Fehler produzierten – semantischen Unverständlichkeiten.

Aufgefordert, Lehrerarbeitszeiten transparent zu machen, veranschlagt der Berliner Senat 20 bis 25 Minuten Korrekturzeit für eine Oberstufenklausur inklusive der Beurteilung durch ein elektronisches Bewertungsraster. Dieses sogenannte Onlinegutachten hat für bestimmte Klausurformate zum Beispiel im Fach Deutsch 12 Bewertungskriterien parat. Je nachdem benötigt man für die endgültige kriteriengeleitete Beurteilung einer einzigen Klausur über 50 Klicks.

Das ist Fließbandarbeit im digitalen Zeitalter: Erst korrigiert man die Klausur mit der Hand, dann klickt man sich durch die Onlineraster, druckt sie aus, unterschreibt und heftet sie an die Klausuren. Das Arbeitszimmer muss für solche Abläufe optimiert werden. Im Kreis läuft man so oder so … und die veranschlagte Arbeitszeit wird immer überschritten. Weil es nicht zu schaffen ist. Unter 45 Minuten kann man keine Deutsch- oder Philosophie-Klausur korrigieren, wenn man der Schülerarbeit einigermaßen gerecht werden möchte. So sitzt man dann 15 Stunden (oder länger) an der Korrektur eines einzigen Klausurenstapels.

Sind Oberstufenkurse im Allgemeinen kleiner als die der Mittelstufe, so können sich die Mittelstufenlehrerinnen und -lehrer zwar damit trösten, dass die zu korrigierenden Texte nicht so lang sind; aber es sind eben mehr (und meistens enthalten sie mehr Fehler). Schlimm wird es für Kolleginnen und Kollegen, deren Fächer nur zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden. So kann es sein, dass eine Ethik- und Biologielehrerin in der Mittelstufe vier Klassen in beiden Fächern unterrichtet. Geht man davon aus, dass sie pro Halbjahr zwei Lernerfolgskontrollen (LEKs) schreiben lässt, allein um die Zeugnisnote valide abzusichern, so sind das 8 mal 4 mal 30 LEKs, die korrigiert werden müssen. In der Summe: 960 Arbeiten. Geht man von Sekundarschul-Klassen mit 25 Schülern aus, so sind es immer noch 800 LEKs. Stückzahlen, die korrigiert werden müssen.

Da aber jede Vollzeit-Lehrkraft noch weitere 9 oder 10 Stunden unterrichtet, kommen weitere Korrekturbelastungen hinzu. Und damit sind viele andere Arbeiten wie digitale Fehlzeitenverwaltung, das Anfertigen von Abiturentwürfen für das dezentrale Abitur (zum Beispiel im Fach Philosophie) oder vermehrte Prüfungsaufgaben noch gar nicht berührt.

Auch führt die Kompetenzorientierung dazu, dass mittlerweile gerade junge Lehrerinnen und Lehrer digital verwaltete Notenarsenale anlegen; denn die Kompetenzideologie fordert, dass ein Schüler differenziert nach unterschiedlichen Kompetenzen bewertet wird. Erteilt man einem Schüler oder einer Schülerin drei Mal pro Schulhalbjahr jeweils fünf oder sogar mehr Kompetenznoten für die Mitarbeit im Unterricht, so heißt das, dass ein Lehrer mit vollem Stundendeputat – in Berlin sind das 26 Unterrichtsstunden – im ganzen Schuljahr weit über 5000 Noten gibt; unterrichtet er vor allem zweistündige Fächer, so erhöht sich die Zahl schnell auf 6000 bis 7000 Noten pro Schuljahr. Man muss sich solche Zahlen vor Augen führen, um die Absurdität der kompetenzorientierten Benotung zu erkennen.

Als Lehrer ist man gegenwärtig die meiste Zeit am Rechnen, und zwar vor allem mit dem vergeblichen Versuch, seine Arbeitsbelastung zu reduzieren. Denn die Reaktion der Bildungsverwaltungen ist: Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Zeitmanagement verbessern. Es ist die für neoliberale Gesellschaften typische Forderung an das erschöpfte Selbst: Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, musst du deine Abläufe optimieren. Es liegt an dir! Der Zynismus geht mittlerweile so weit, dass Lehrerinnen und Lehrern von externen Evaluationsbehörden empfohlen wird, in ihrer Freizeit, die es ja kaum noch gibt, „Wohlfühlteams“ zu bilden oder Workshops zur „Work-Life-Balance“ zu buchen.

Es mag paradox klingen, dass die so gehypte Neue Lernkultur entfremdete Arbeit und Lärm erzeugt; doch machen eben diese Zustände die technokratisch-metrische Grundstruktur der Kompetenz-Modellierung nun auch für diejenigen sichtbar, die sie bisher fetischisierten. Und auch den neoliberalen Selbstoptimierungsimperativ sollte man als das durchschauen, was er ist: eine Ausbeutungsstrategie. Vor allem aber führt die neue Unterrichtstechnokratie dazu, dass Bildung nur noch unter dem Aspekt der Operationalisierung und Messbarkeit betrachtet wird; deshalb spricht der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann von der „Praxis der Unbildung“ [siehe Bücherliste].

Würden Klassen verkleinert, würde man sich vom Metrisierungswahn, der Output-Orientierung und vom Diktat des kooperativen Lernens abkehren, so würden sich Korrekturpensen, Lärm und Stress enorm verringern; und es gäbe mehr Zeit für schöpferische und zwischenmenschliche pädagogische Aufgaben – vor allem für eigenständige Unterrichtsgestaltung.

Zumindest was den Korrekturaufwand betrifft, produziert die Neue Lernkultur einen – leider sehr zweifelhaften – Kollateralnutzen: Da die Bildungsverwaltungen die Bedeutung von Orthographie und Grammatikfehlern für die Gesamtnote einer Klausur immer weiter marginalisieren, schleicht sich sowieso schon bei manchem Lehrer eine resignative Laxheit ein. Man streicht gar nicht mehr alle Fehler an. Das spart Zeit! – führt aber dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die Fehlerhaftigkeit ihrer Klausuren gar nicht mehr erkennen können. Und viele von ihnen werden später selbst Lehrerinnen und Lehrer … Auch hier gilt: Die Masse macht’s.

aus: Frankfurter Rundschau vom 12./13.01.2019, S.21

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Wolkige Formulierung von „pädagogisch neuen Wegen“

Hessischer Holzweg

In der Schule sind Noten nicht ersetzbar. Sie dienen als Orientierung für alle. F.A.Z. – POLITIK, 06.03.2019, Heike Schmoll

In den siebziger Jahren haben fast alle Kultusministerien im Westen die Zensurenfreiheit zumindest für das erste Grundschuljahr, zuweilen auch für die ersten zwei oder drei Jahre verordnet. Die Ablehnung der Notengebung mit der Begründung, sie seien schädlich für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, gehörte jedenfalls fast schon zum guten Ton, obwohl es dafür keinen Beleg gab.

Schon vor Jahren hatte der rheinland-pfälzische Landeselternbeirat „Ziffernoten” als „Körperverletzung” ver­urteilt. Die alljährlich veranstalteten „Vergleichsarbeiten” sind anonymisiert, so dass man nicht vergleichen kann und soll, wie ein Schüler im Leistungsver­gleich abschneidet. […] Noch sind die Schulnoten nicht abge­schafft. Doch der schleichende System­wechsel zur nivellierenden Einheitsschu­le, in der jede Leistungsdifferenz ver­schleiert werden soll, geht auch durch die Hintertür. Inzwischen sind Gefällig­keits-Abiture zum Beweis für erfolgrei­ches „Qualitätsmanagement” avanciert. Aus: FAZ, 09.03.2017, Bildungswelten, von Walter Oldenbürger. Er unterrichtet Deutsch, Philosophie, katholische Religion und Ethik an einem rhein­land-pfälzischen Gymnasium.

Nun hat der Vertrag der schwarz-grünen Regierung in Hessen eine neue Diskussion darüber entfacht, weil er die wolkige Formulierung von „pädagogisch neuen Wegen bei der Erreichung der Bildungsziele“ und „Abweichungen bei der Unterrichtsorganisation und -gestaltung“ festgeschrieben hat. Schulen könnten Unterricht fächerübergreifend erteilen, jahrgangsübergreifende Lerngruppen bilden oder Rückmeldungen über den Leistungsstand „in Form einer schriftlichen Bewertung geben“. Die Handschrift der Grünen ist an diesen Forderungen leicht zu erkennen.

Andere Länder haben mit solchen Experimenten ihre eigenen Erfahrungen gemacht. In Berlin gibt es immer mehr Grundschulen, die das jahrgangsübergreifende Lernen für einen Fluch für schwache und begabte Schüler gleichermaßen halten. In Baden-Württemberg beendete das Ministerium einen Schulversuch von zehn Grundschulen, die auf Zensuren verzichteten und selbst entschieden, wie sie die Leistungen ihrer Schüler beurteilen. Angestoßen hatte auch ihn in Baden-Württemberg die (grün-rote) Landesregierung, dabei aber auf eine wissenschaftliche Auswertung mit Kontrollgruppen verzichtet. Das heißt, der Schulversuch war eigentlich nur ein Alibi, um Ausnahmen vom Schulgesetz zu ermöglichen, ohne dass deren Sinnhaftigkeit auch nach Jahren erkennbar war.

Man kann nur hoffen, dass Hessen nicht den gleichen Fehler wiederholt und die insgesamt 150 Schulen ohne wissenschaftliche Begleitung ihrem Schicksal überlässt. Nur unter solcher Begleitung könnte sich zeigen, ob Schüler ohne Noten weniger Angst haben, ob sie motivierter lernen und eigenständiger vorgehen. Nur so ließen sich auch negative Begleiterscheinungen erkennen. Allerdings wären die Hessen gut beraten, auf das zeitraubende Experiment ganz zu verzichten. Denn die Forschungslage ist eindeutig: Sobald auf Ziffernoten verzichtet wird, geht die Orientierungsleistung von Noten für Eltern, Lehrer, die Öffentlichkeit, vor allem aber für den Schüler selbst verloren. Noten sind eine unverzichtbare, weil durch nichts anderes ersetzbare Objektivierungsinstanz.

In einer umfangreichen Studie waren Lehrer schon nach wenigen Wochen nicht mehr in der Lage, ihre eigenen verbalen Beurteilungen einem Schüler zuzuordnen, sie wussten nicht einmal zu sagen, ob es sich um eine gute oder schlechte Beurteilung handelte. Die wesentlichen Anforderungen an Noten, die valide, zuzuordnen und skalierbar, also vergleichbar sein sollen, sind bei verbalen Beurteilungen nicht erfüllt.

Es ist niemandem damit gedient, Ziffernoten einfach durch schriftliche Bewertungen zu ersetzen. Der Effekt war und ist überall der gleiche: Die Eltern fragen, was die wortreichen Formulierungen in Ziffernoten bedeuten; und wenn ein Schulwechsel ansteht oder die Grundschulzeit beendet ist, müssen die schriftlichen Beurteilungen ohnehin in Ziffernoten übersetzt werden.

Oft genug sind verbale Beurteilungen viel verletzender als Ziffernoten, weil sie die Trennung zwischen Person und Leistung nicht einhalten. Genau das ist aber unbedingt nötig: Lehrer sollen und können keine Kinder beurteilen, sondern ausschließlich deren Leistungen. Zugleich gewinnen Schüler den Eindruck, dass der Lehrer nicht ehrlich sei und sie zu wenig kenne, wenn die verbale Beurteilung nicht zutrifft.

Wer den Ziffernoten den Rücken kehrt, muss wissen, dass er sich damit gegen alle empirische Evidenz auf den Holzweg begibt. Es ist nichts Neues, dass sich Länder aus ideologischen Gründen über alle Forschungserkenntnis hinwegsetzen und so tun, als gehe sie die Bildungsforschung nichts an. [siehe nachfolgender Einschub] Es bleibt allerdings erstaunlich, dass solche Feldversuche mit ganzen Schülergenerationen in der Schulpolitik toleriert werden, während sie in der Medizin als schwere Kunstfehler bewertet würden.

Die Wissenschaft spielt in der Bildungspolitik kaum eine Rolle. Ihre Erkenntnisse werden selten umgesetzt oder gleich ganz ignoriert. Dies zeigt sich vor allem bei den Veränderungen an deutschen Schulen, die im Zuge der ersten Pisa-Ergebnisse vorgenommen wurden. Bildungspolitiker reagierten auf das schlechte Abschneiden deutscher Schüler mit Reformen, die teils einen massiven Wandel in den Bildungssystemen der Länder beabsichtigten. Die für die Umsetzung zuständigen Akteure – vor allem Schulleiter, Lehrer, aber auch Eltern – klagen seitdem über einen erhöhten Reformdruck. Der Grund: Oft erschließen sich Sinn und Logik der Reform dem pädagogischen Personal nur schwer. Das führt dazu, dass Reformen oft mit hohen Kosten und großem Aufwand eingeführt werden, um kurze Zeit später ebenso aufwendig wieder abgeschafft zu werden. […] Sicher ist, dass in der Bildungspolitik politische Interessen häufig dominieren – zulasten von Fragen der Plausibilität, Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit. Es ist auffallend, wie selten sich Forschungsergebnisse in der Praxis durchsetzen. Aus: DIE ZEIT Nr. 40/2018, 27.09.2018, Ein Gastbeitrag von Nina Kolleck, Professorin am Lehrstuhl für Bildungsforschung und soziale Systeme an der FU Berlin, Bildungspolitik: Das große Desinteresse – Bildungspolitiker ignorieren die Erkenntnisse der Wissenschaft.

Anstatt ihre Zeit mit solchen Experimenten mit absehbarem Ausgang zu vergeuden, wäre es besser, wenn sich die 150 Schulen in Hessen darum bemühten, die Ziffernoten durch regelmäßige, also tägliche differenzierte Rückmeldungen zu begleiten. Das macht viel Arbeit, weil es die genaue Beobachtung und Einschätzung der Schüler durch ihre Lehrer voraussetzt. Die Rückmeldung über die je individuellen Schwächen und konkrete Vorschläge, mit gezielten Aufgaben darüber hinwegzukommen, wäre ein wirklich weiterführender Ansatz, Schüler zu einem treffenden Urteil über sich selbst zu helfen und sie das Lernen zu lehren.

[…] Die Aussicht auf Erfolg erhöht sich, wenn der Lehrkörper sehr frühzeitig die Zielsetzung des Unterrichtes kommuniziert und sich ständig um Feedback in Bezug auf den Fortschritt der einzelnen Schüler bemüht sowie die Lehrmethoden im Lichte dieser Rückmeldungen anpasst. Die Aussicht auf Erfolg erhöht sich, wenn Schüler, die mit den Herausforderungen des Lernens kämpfen, das Lernen selbst beigebracht bekommen (sich zu konzentrieren, mit Bewusstsein zu arbeiten, Fehler und Fehlschläge zu tolerieren, gemeinsam an Problemlösungen zu arbeiten und verschiedene Lernstrategien auszuprobieren) und mit regelmäßigem Feedback über die nächsten Schritte versorgt werden. […] Im Interview mit FreieWelt.net, 04.07.2015, erläutert Prof. John Hattie, was guten Unterricht ausmacht.

Das Lernen gelernt zu haben heißt schließlich, kontinuierlich an den eigenen Schwächen zu arbeiten und Selbstdistanz sowie Selbstkritik zu entwickeln. Mit Reformhoffnungen gegen alle rationalen Einwände indessen wird den Schülern dieser Weg verstellt.

Grau unterlegte Einschübe und Hervorhebungen in Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Zum Artikel: F.A.Z. – POLITIK, 06.03.2019, Heike Schmoll

Zum gleichen Thema siehe auch: Welt am Sonntag, 10.02.2019, Rainer Werner, Ohne Noten ist die Schule mangelhaft

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Die UNESCO ruft am 5.10.2017 zum 23. Mal zum Welttag der Lehrerinnen und Lehrer auf und erinnert an die bedeutende Rolle der Lehrerinnen und Lehrer für qualitativ hochwertige Bildung. Ziel des Welttages ist es, auf die verantwortungsvolle Aufgabe des Lehrpersonals aufmerksam zu machen und das Ansehen derer weltweit zu steigern.

Es hilft nur Ehrlichkeit

Schulen, die zu früh auf Eigenverantwortlichkeit und zu stark auf selbst gesteuertes Lernen setzen, können Kindern aus bildungsfernen Milieus schaden

Beitrag zum Welttag des Lehrers, von Michael Felten

Es ist sicher nicht vergnügungssteuerpflichtig, Schulministerin eines Bundeslandes zu werden, das zu den Pisa-Schlusslichtern zählt. Nicht zuletzt steht ja auch das Problem der Bildungsgerechtigkeit an. Denn in Deutschland soll es besonders stark von der sozialen Herkunft abhängen, ob Kinder zum Gymnasium wechseln und ob junge Erwachsene ein Studium ergreifen können.

Zwar wird in internationalen Vergleichen gerne mit Äpfeln und Birnen hantiert: Die Bildungsgänge sind andernorts nämlich oft ganz anders strukturiert. Und unserem Mikrozensus zufolge gibt es hierzulande durchaus Bildungsmobilität – überwiegend aufwärts. Gleichwohl bleibt die Frage, ob und wie die Schule die soziale Bildungsbeteiligung noch ausweiten kann.

Nun, womöglich kann auch der gemeine Lehrer selbst schon etwas tun, bevor das Ministerium in die Gänge kommt. Zunächst einmal: Hände weg von kontraproduktiven Unterrichtsmethoden! Zu frühe Eigenverantwortlichkeit, zu viel selbstgesteuertes Lernen, zu oft unstrukturierte Gruppenarbeit – was in der Lehrerausbildung vielfach noch Trend ist, überfordert gerade die schwächeren Schüler. Der linke Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke nahm dazu kein Blatt vor den Mund: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Während leistungsstärkere Schüler mit fast allen Lehrstilen zurechtkämen (zur Not unter elterlicher Mithilfe), bedürfe gerade das sozial benachteiligte Kind eines direkt anleitenden, ermutigenden Unterrichts. Wer also die Parole „Kein Kind zurücklassen!“ ernst meint, dessen Unterricht wird bisweilen zwar altmodisch wirken, aber hoch effektiv sein – spätestens die Hattie-Studie lieferte dafür den empirischen Beleg.

Sodann: Schluss mit unehrlichen Beurteilungen! Ob aus Angst vor Schülern oder vor dem Direktor: Wo Lehrer altersgemäße Ansprüche absenken, wo mangelhafte Leistungen mit „3“ oder „4“ beurteilt werden, da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit, sondern gerade das Gegenteil. Nicht nur, dass Zeugnisse so an Wert verlieren. Geringere Anforderungen führen auch dazu, dass Schüler sich weniger anstrengen – dabei wäre Fleiß das einzige Gegenmittel gegen milieubedingte Rückstände. Leistungsstarke oder bessergestellte Kinder hingegen werden immer einen Weg finden, um ihre Lernlöcher bei Bedarf zu stopfen.

Schließlich: Hören wir auf, Kinder in unpassende Bildungsgänge hinein zu zwingen, gleich ob aus Unprofessionalität oder aus Mitleid! Wen das Gymnasium dauerhaft überfordert, wer über Jahre erlebt, das letzte Rad am Wagen zu sein, für den werden die hochsensiblen Entwicklungsjahre zur Qual. Lernen soll aber nicht weh tun, hat der Kinderarzt Remo Largo gesagt. Das ist nicht nur eine Warnung an Grundschullehrer, den liebgewordenen Kleinen oder den ehrgeizigen Eltern zuliebe geschönte Eignungsgutachten zu schreiben. Angesprochen fühlen sollten sich auch Schulleiter, die offensichtlich ungeeignete Fünftklässler ins Gymnasium aufnehmen, anstatt Eltern zumindest informell klarzumachen, was sie ihrem Kind womöglich damit antun.

Aber ganz ohne die Schulministerin geht es natürlich doch nicht. Sie muss den Zugang zum Gymnasium grundsätzlich neu regeln. Die Schweiz etwa kommt bestens damit zurecht, dass nur jedes fünfte Kind die Höhere Schule besucht; deshalb hat das Land auch keinen Facharbeitermangel, eine berufliche Ausbildung stellt dort eben keinen Makel dar.

Natürlich spielen der Schulwunsch des Kindes und seiner Eltern eine wichtige Rolle – aber er darf nicht das einzige Kriterium sein. Sinnvoll wäre ein Kriterien-Mix, etwa im Sinne der Maxime „2 aus 3“: Wer das Gymnasium besuchen möchte, sollte außerdem noch eine andere Bedingung erfüllen: entweder ein positives verbindliches Grundschulgutachten oder Erfolg beim gymnasialen Probeunterricht, andernfalls standardisierte Tests oder Aufnahmeprüfung – zur Stressminderung gerne an der vertrauten Grundschule.

Und nicht nur für den gymnasialen Bildungsgang muss wieder die Parole gelten: Ohne Fleiß kein Preis. Die Ministerin muss umgehend den unsäglichen Hausaufgabenerlass ihrer Vorgängerin von 2015 kassieren. Demnach durften etwa Ganztagsgymnasien gar keine Hausaufgaben mehr aufgeben – auch nicht an Kurztagen, wenn der Unterricht schon mittags endet! Auch dieser rot-grüne Clou war in höchstem Maße sozial ungerecht: Er schadete den leistungsstarken Schülern weniger als den Schwachen – sie brauchten das Üben gar nicht oder erledigten es ohnehin freiwillig.

zum Artikel:  Kölner Stadt-Anzeiger, 5.10.2017, Gastbeitrag von Michael Felten, Es hilft nur Ehrlichkeit

Der Autor hat 35 Jahre an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er ist als freier Schulentwicklungsberater und Buchautor tätig.