„Es müsste den Aufschrei der Eltern geben“

Datum:  25.03.2015
DL-Präsident Josef Kraus im Interview mit Nana Brink im Deutschlandradio Kultur
„Aus Lehrplänen sind „Leerpläne“ geworden“
(…)
Brink: In Berlin zum Beispiel soll der Geschichtsunterricht in der fünften und sechsten Klasse gemeinsam mit anderen Fächern gelehrt werden. Warum macht man das?
Kraus: Ich vermute mal, weil man Stunden sparen will und weil man vielleicht auch Lehrer sparen will. Ich halte gerade das Fach Geschichte für ein unglaublich wichtiges Fach, weil es sehr viel mit historischer und letztendlich auch mit politischer Mündigkeit zu tun hat. Wenn man dieses Fach vereinigt mit Gemeinschaftslehre, mit Politik, mit Geografie, wie wir das in manchen Bundesländern haben, dann ist das der absolut falsche Weg. Wenn junge Leute nichts mehr wissen etwa aus der jüngeren Geschichte, der Nachkriegsgeschichte oder der ganzen Geschichte des 20. Jahrhunderts, dann sind sie letztlich auch politisch nicht mündig, dann sind sie nicht kommunikativ. Dann können sie eine Fernsehmagazinsendung kaum verfolgen, dann können sie in einer Diskussionsrunde sich nicht beteiligen, wenn es um die Aufarbeitung etwa deutscher Geschichte geht. Ich möchte, dass unsere jungen Leute schon auch konkrete Jahreszahlen, konkrete Namen, konkrete Epochenbegriffe im Kunstbereich und im rein geschichtlich-politischen Bereich kennen. Leider haben wir mittlerweile in Deutschland Lehrpläne – ich sag noch mal, man kann sie mittlerweile mit Zweifach-E schreiben –, Geschichtslehrpläne, in denen so was überhaupt nicht mehr vorkommt.
Brink: Also muss es dann doch noch dazu kommen wie bei uns noch? Ich kann mich noch gut erinnern, dass uns ja eingebimst worden ist, also irgendwie 30-jähriger Krieg, von wann war der, wann hörte der auf, was ist da passiert – also doch wieder dieses Abfragen von Fakten?
Kraus: Das sind einfach Orientierungspunkte. Das ist ein Geländer für das eigene historische Bewusstsein. Wenn ich nicht weiß, wann die Weimarer Republik war und was dort die Probleme waren und was Hitler möglich gemacht hat, dann kann ich heute zum Beispiel auch nicht darüber diskutieren und die Gefahren erkennen, die sich möglicherweise durch extremistische Strömungen ergeben. Da muss man Namen kennen, da muss man auch Jahreszahlen kennen, und da bedarf es schon auch etwas des Fleißes, sich bestimmte Dinge zu merken und einzuprägen. Das überholt sich ja nicht. Die hohe Schulpolitik ist immer ein bisschen geprägt von dem Spruch, ja, das Wissen überholt sich immer schneller, wir haben heutzutage Halbwertszeiten des Wissens von nur noch drei Jahren. Gut, das mag in bestimmten Fachgebieten, der Computertechnik und so weiter gelten, aber im Bereich Literatur, Kunst, naturwissenschaftliche Phänomene, Geschichte haben wir ein Wissen von einer unendlichen Halbwertszeit.
Brink: Warum gibt es keinen Aufschrei der Lehrer, also der Geschichtslehrer oder der Kunstlehrer?
Kraus: Den Aufschrei gibt es, aber die sind natürlich zahlenmäßig nicht so wahrnehmbar. Und es gibt leider keinen Aufschrei der Eltern. Wir haben in Deutschland 800.000 Lehrer, aber wir haben die Eltern von elf Millionen Schülern. Es müsste den Aufschrei der Eltern geben. Ich glaube, dass der bei den Politikern wirksamer wäre. Aber da haben wir natürlich in der Elternschaft auch solche und solche, welche, denen es ganz recht ist, wenn die Kinder geschont werden und wenn nicht, wie Sie gesagt haben, etwas gebimst wird. (…)

zum Artikel:  Deutscher Lehrerverband, 24.03.2015, DL-Präsident Josef Kraus im Interview mit Nana Brink, „Aus Lehrplänen sind „Leerpläne“ geworden“