„Es werden inkompetente Lehrer erzeugt“

Lehrerausbildung und zu viele Quereinsteiger sorgen für weniger Professionalität unter den Lehrern, kritisiert der Historiker und Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin

FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth

[…] Heike Schmoll: In Sachsen und Berlin wird inzwischen der Grundschulunterricht mit über 50 Prozent Quer- bzw. Seiteneinsteiger in den Lehrerkollegien aufrechterhalten. Wo liegen die Gefahren des Unterrichtens ohne ausreichende didaktische und pädagogische Schulung?

Prof. Tenorth: Es fehlen vor allem die lehramtsspezifischen Fähigkeiten – für die Grund- oder Berufsschule – und die pädagogisch-psychologischen Kompetenzen. Es gibt zwar ein Fachwissen, aber nicht die Erfahrung, es einem Lehrplan zeitlich, sachlich und adressatenspezifisch zuzuordnen, anregende Aufgaben zu erfinden und qualifizierte Rückmeldungen zu geben. Die Lehrenden können die Erfahrungen, die sie machen, auch ihre Fehler, nicht angemessen zurechnen und selbstkritisch einordnen, sie schreiben Misserfolge den Schülern zu oder verzweifeln, was genauso verfehlt ist. Das ist besonders für die Grundschule fatal, weil damit Motivation und Neugier der Kinder enttäuscht und die Fundamente für alles weitere Lernen nicht aufgebaut werden.

Wie kommt man denn aus diesem Dilemma raus? Sind Coaching und berufsbegleitende Fortbildung nicht zu wenig?

Solch kurzfristigen Maßnahmen sind wenig erfolgreich, weil die Quereinsteiger viel zu früh viel zu viel Unterricht halten müssen und die Kollegen, die sie betreuen und einführen sollen, genauso überlastet sind. Wenn die Quereinsteiger in der Schule und im Kollegium lernen sollen und nicht in der Universität, fehlt richtige Unterstützung. Die betreuenden Mentoren werden nicht freigestellt, bekommen ihre Arbeit nicht honoriert, ihre Motivation wird systematisch zerstört, und man betreibt sehenden Auges eine Entprofessionalisierung des Lehrerberufs.

Zugleich ist die Botschaft aller Leistungsstudien, dass es auf die Professionalität der Lehrer und die Qualität des Unterrichts ankommt.

Ja, aber dann müssen Lehrer erstens Experten ihrer Fächer sein, zweitens Fachdidaktik gelernt haben, um Lernprozesse sach- und adressatenspezifisch organisieren zu können. Und sie müssen drittens pädagogisch-psychologisch kompetent sein, schon um mit den Schwierigkeiten im täglichen Unterricht fertig zu werden. Also mit Störungen, mit schwierigen Schülern, mit den Stundentakten, mit eigenen Enttäuschungen. Erst dann gibt es die Ruhe, trotz des alltäglichen Chaos handlungsfähig zu bleiben. All das fehlt den Quereinsteigern, und das ist in kurzer Frist nicht zu erlernen, das dauert acht bis zehn Jahre. […]

Gibt es für Sie eine Grenze der Heterogenität für einen gelingenden Unterricht, wenn Sie auf die aktuelle Flüchtlingswelle schauen?

Wir haben natürlich schon früher keine homogenen Lerngruppen gehabt. Es gibt immer, selbst an Gymnasien, unterschiedliche kognitive Voraussetzungen, unterschiedliche Schulerfahrungen, Differenzen der Geschlechter, des kulturellen Hintergrundes oder der Erwartungen der Peergroup oder der Eltern oder der Lernenden. Inklusionserwartungen und Migrationserfahrungen erweitern das Spektrum und erzeugen ganz neue Herausforderungen. Dann kann man nicht so tun, als könne man die Gruppe der aktuell kommenden Flüchtlinge rasch nachalphabetisieren oder unterrichtsfähig machen. Das überfordert die Arbeitsfähigkeit eindeutig, denn qualitativ, in den Kompetenzen, und quantitativ gibt es dafür gar kein Personal. Dann schadet man den Behinderten, indem man sie inkludiert, und das ist der harte Skandal. Für die zu integrierenden Flüchtlinge müsste man die Verkehrssprache, die entscheidende Kompetenz, aufbauen. Auf die Frage, wie viele Fachlehrer für Deutsch als Zweitsprache dafür in den Schulen präsent sind, werden die Kultusministerien nicht antworten, weil sie Angst haben, die blamable Realität offenzulegen. Einigermaßen gesichert ist aktuell nur die Kustodialfunktion der Schule, das heißt, sie bewahrt die Schüler auf, dort ist es warm und meist auch zivilisiert – das ist auch was wert.

Aber das ist doch ein bisschen wenig.

Ja, es ist zu wenig. Aber die pädagogischen Programme, die aus dieser Aufbewahrungsleistung etwas machen, fehlen. Viele Lehrer erleben stattdessen kurze Lernzeiten, raschen Wechsel der Schüler, immer neue Anforderungen, überhaupt keine Stetigkeit, ganz zu schweigen davon, dass kaum messbare Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben werden. Die Ganztagsschule wäre nützlich, sie war ja auch mit dem Versprechen angetreten, viele Defizite auszugleichen. Aber die Leistungsdimension fehlt schon in der großen Ganztagsschuluntersuchung. Die haben die Kultusminister – für sich selbst fürsorglich – einfach ausgespart. Gefragt wurde nur nach dem Wohlbefinden.

Die Hoffnung, durch die Ganztagsschule auch die sozial bedingten Unterschiede im Bildungserfolg ausgleichen zu können, ist also Utopie?

Angesichts der Realität von Ganztagsschulen ist es nicht utopisch, sondern blauäugig oder gar eine Täuschung der Öffentlichkeit. Das ginge nur in Ganztagsschulen, in denen auch ganztags gelernt wird, auch mit speziellen Förderprogrammen, reich differenziert. Betreuung allein kompensiert nicht. […]

Was müsste man tun, um das Dilemma zu lösen, dass es Grundschulen offenbar nicht gelingt, die kulturellen Basiskompetenzen so zu vermitteln, dass weiterführende Schulen darauf aufbauen können?

Für die Grundschullehrer müssten die Lernbereiche Deutsch und Mathematik obligatorisch sein. Noch gibt es Länder, in denen man wählen kann. Damit werden mutwillig inkompetente Lehrer erzeugt. Ich wehre mich allerdings dagegen, alle Dilemmata der Schule nur über die Lehrerbildung lösen zu wollen – Kooperation mit den Herkunftsmilieus ist notwendig. Quereinsteiger oder umgeschulte und enttäuschte Gymnasiallehrer sind nicht dazu geeignet, beispielsweise in das Lesen oder den Schriftspracherwerb einzuführen. Man braucht auch genügend Zeit für das Lesen, für das Üben, für das Anwenden. Die Grundschule garantiert die basale Grundbildung nicht, weder im Lesen, Schreiben und der Orthographie, noch für mathematische Basaloperationen oder naturwissenschaftliche Grundeinsichten im Sachunterricht. Wie kann ein Land, eine Schule, eine professionelle Lehrerschaft damit zufrieden sein oder mit dem Befund, dass sie im besten Fall zehn Prozent in den oberen Leistungsstufen hat? [ …]

Hier in Berlin könnte man bei der [Schul-]Verwaltung zuweilen den Eindruck haben, dass man Leistung gar nicht will.

In der Tat gibt es in der Grundschulpädagogik auch die Auffassung, dass man in der Primarstufe nicht leistungsdifferent arbeiten darf, weil das Enttäuschungen bereitet, die Kinder verletzt und ihre Zukunft verbaut – eine Kritik, die ich für aberwitzig halte. Es gibt aber immer noch die Befürworter des Schreibens nach Gehör, die Gegner der Leistungsbewertung und bei allen Bundesländern die Angst, wegen zu strenger Standards schlecht dazustehen. Iglu- und Pisa-Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen, weil die beteiligten Politiker wochenlang daran gearbeitet haben, nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt. Diese Strategie ist bei allen Bildungspolitikern, gleich welcher Couleur, stark ausgeprägt. Länder wie Bayern tragen das relativ gefasst, weil sie auch relativ gute Ergebnisse haben. Doch auch dort wird daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort steht, das ein Versäumnis der Bildungspolitik anzeigen könnte. […] Stattdessen hat die Politik ein permanentes Interventionsregime errichtet. Die Politik bejubelt sogar, dass nur noch sechs bis sieben Prozent kein Abschlusszeugnis haben, und ignoriert – gegen die eigenen Kompetenzmessungen –, dass mehr als zwanzig Prozent in der Schule nicht die Kompetenz erwerben, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilzunehmen, und dass etwa 25 Prozent der Ausbildungsverträge nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden, weil elementare Fähigkeiten fehlen. Jetzt fangen die Betriebe an nachzualphabetisieren.

Was bedeutet das für die Abschlüsse?

Die symbolische Garantiefunktion der Abschlüsse ist zunehmend geschwächt. Wer ein Abiturzeugnis hat, ist nicht unbedingt studierfähig. Zeugnisse bescheinigen Kompetenzen, die gar nicht da sind. Die mit dem Zertifikat verbundenen Versprechen werden nicht eingelöst. Statt mit dem Berechtigungssystem Schule und Beruf, Schule und Hochschule, Fort- und Weiterbildung chancenfördernd zu verbinden, also die egalisierende Funktion schulischer Leistungsbewertung zu erhalten, kann es zu einer völligen Entwertung der schulischen Bildung und zu amerikanischen Verhältnissen kommen. […]

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