Gymnasiale Bildung – heute und morgen

Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’.

aus PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann – Universität Wien, Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

(…) Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin bundesweit für Aufregung, sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: »Ich bin fast achtzehn und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben alles so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht eher darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch) Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt nämlich ohnehin fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einst assoziiert waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der moralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins.

Im gegenwärtigen Diskurs fungiert ‘Bildung’ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Schulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’. (…)

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. (…)

[Kinder und Jugendliche] werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substantielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte ‘Selbstkompetenz’ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert. Ähnlich verhängnisvoll ist die Vorgabe, dass alles und jedes, was gelernt wird, seine Anwendung finden muss. Denn dies bedeutet, dass die Kunst und die Wissenschaften, die großen Dokumente der eigenen und von fremden Kulturen, Gedanken- und Glaubenssysteme, die Natur und ihre Gesetze ausschließlich unter der Perspektive, ob Kinder und Jugendliche sie in ihrer Lebenswelt irgendwie nützen können, angesprochen und vermittelt werden dürfen. Die damit verbundene geistige und seelische Verarmung ist mit Händen zu greifen. (…)

Gleichzeitig verstehen sich aber vor allem primäre und sekundäre Bildungseinrichtungen zunehmend als Orte, an denen es weniger um Kompetenzen und Qualifikation, sondern um soziale Integration und die Herstellung gerechter Verhältnisse gehen soll. Schule soll dann die Defizite der Gesellschaft ausgleichen und für Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten und niemand darf zurückbleiben. Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben. Wer gegen Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen beschneiden zu wollen. Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand aussetzen. (…)

Wenn Bildung auch bedeutet, jungen Menschen jene Kulturtechniken und jene Kenntnisse zu vermitteln, die als notwenige Voraussetzung gelten, um die Gesellschaft, ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Wissensformen zu verstehen und deshalb daran partizipieren zu können, dann kann zur Einlösung dieses Anspruches der Maßstab nicht nur im Individuum liegen. Bildung heißt auch, sich an den Errungenschaften einer Kultur abzuarbeiten, die nicht beliebig disponierbar sind. (…)

Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass nichts so sehr in der Wissensgesellschaft verachtet wird, wie der Erwerb von Wissen. ‘Faktenwissen’ ist zu einem Unwort geworden, diese Form des Wissens muss aus den Schulen verbannt werden, niemand soll mit Dingen belastet werden, die man entweder überall nachschlagen kann oder die ohnehin rasch veralten. Die flächendeckende Umstellung der Lehr- und Studienpläne an Schulen und Universitäten von definierten Kenntnissen und Inhalten auf ‘Kompetenzen’, ‘Workloads’ und ‘Soft Skills’ ist nur das sichtbarste Zeichen einer generellen Entwertung des Wissens. (…)

Nun wäre es Unsinn zu leugnen, dass Ausbildungsprozesse und eine breite Palette von Ausbildungsmöglichkeiten für eine moderne Gesellschaft von allergrößter Bedeutung sind. Fraglich aber bleibt, ob Bildung tatsächlich auf Lebensnähe, Schülerzentriertheit, Praxisrelevanz und eine am Kriterium des ökonomischen Nutzens orientierte Ausbildung reduziert werden kann. Das Problem beginnt schon damit, dass der Begriff des ‘Nutzens’ selbst höchst vage ist und oft nicht mehr als divergierende gesellschaftliche Interessen beschreibt, die sich zudem rasch ändern. (…) Ein Kunstwerk verstehen und interpretieren zu können, hat deshalb sehr wohl mit Bildung zu tun, die Fähigkeit, eine Steuererklärung ausfüllen zu können, mag lebensdienlich sein, stellt aber keine Bildungsperspektive dar. (…)

Zwar weiß niemand mehr, was unter Bildung zu verstehen ist, aber alle sind sich einig, dass Bildung die wichtigste Ressource in einer wettbewerbsorientierten Wissensgesellschaft darstellt. Der Schluss, den viele daraus ziehen, ist allerdings merkwürdig: In immer kürzerer Zeit sollen immer mehr junge Menschen aus immer unterschiedlicheren Milieus immer kostengünstiger immer besser ausgebildet werden. Das kann nicht gut gehen. Die Absolventen eines klassischen Gymnasiums hätten noch gewusst, dass im deutschen Wort Schule das griechische scholé steckt: Es bedeutet so viel wie Muße. Wer in Bildungsfragen Hektik verbreitet – und dies macht fast jeder – ist schon auf dem falschen Weg.

Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann am 12. Januar 2016 am Edith-Stein-Gymnasium in Bretten, Baden-Württemberg, auf Initiative des PhV-Bezirksverbandes Nordbaden. Der gesamte Vortrag ist nachzulesen in PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes