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Fast zwei Millionen Jugendliche ohne Ausbildung – Tendenz steigend!

2019 blieben 26% aller Ausbildungsplätze in Deutschland unbesetzt

Das zeigt eine am 16.02.2021 veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Gleichzeitig wurden im Ausbildungsjahr 2018/2019 15 Prozent aller abgeschlossenen Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst oder von den Auszubildenden nicht angetreten.

17.02.2021, Dr. Ute Leber und Barbara Schwengler, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB)

Unabhängig von der aktuellen Covid-19-Pandemie und auch darüber hinaus könnten unbesetzte Ausbildungsstellen und vorzeitig gelöste Verträge längerfristig eine Herausforderung für Betriebe darstellen, ihren Fachkräftebedarf zu sichern.

Um überhaupt Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen zu können, müssen Betriebe in Deutschland bestimmte Voraussetzungen erfüllen. So muss die Ausbildungsstätte beispielsweise für die Berufsausbildung und der Ausbilder beziehungsweise die Ausbilderin persönlich und fachlich für die Ausbildung geeignet sein. Im Jahr 2019 verfügten 54 Prozent aller Betriebe in Deutschland über eine Ausbildungsberechtigung und kamen somit für die Ausbildung prinzipiell infrage.

40 Prozent aller vorzeitig gelösten Verträge wurden vom Betrieb aufgelöst. Als häufigste Gründe gaben die Betriebe fehlendes Engagement, mangelndes Sozialverhalten und eine Überforderung der Auszubildenden an. Deutliche Unterschiede zeigen sich differenziert nach Betriebsgröße: vor allem Kleinstbetriebe nennen mangelndes Sozialverhalten als Grund für die Auflösung der Verträge. Größere Betriebe sehen häufiger Überforderung oder fehlende Eignung als wichtigste Ursache.

In Kleinstbetrieben wurden insgesamt 27 Prozent der Verträge vorzeitig gelöst oder nicht angetreten, in Großbetrieben dagegen nur 7 Prozent. „Überdurchschnittlich hohe Anteile an vorzeitig gelösten Verträgen gab es im Baugewerbe, wo fast jeder vierte Vertrag betroffen war“, so die Autorinnen Dr. Ute Leber und Barbara Schwengler. „Über dem Durchschnitt liegende Anteile sind zudem in den unternehmensnahen und den übrigen Dienstleistungen sowie im Bereich Handel und Reparatur zu finden“. Der niedrigste Wert zeigt sich in der Öffentlichen Verwaltung mit 5 Prozent vorzeitig gelöster Verträge.

Um die Attraktivität der Ausbildungsplätze zu erhöhen, bot ein Großteil der Ausbildungsbetriebe im Jahr 2019 Geld- und Sachleistungen über die Ausbildungsvergütung hinaus an. Die häufigsten Instrumente stellten Zuschüsse zur Altersvorsorge, Leistungen zur Unterstützung der Mobilität sowie Prämien und Sonderzahlungen dar. Insgesamt machten 63 Prozent der Ausbildungsbetriebe davon Gebrauch.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Betriebe, die solche Instrumente einsetzen, nicht weniger mit Besetzungsschwierigkeiten der Ausbildungsplätze konfrontiert sind. Während 27 Prozent der Betriebe, die mindestens eine Zusatzleistung anbieten, unbesetzte Ausbildungsplätze haben, trifft das auf 22 Prozent der Betriebe zu, die keine Zusatzleistungen anbieten. „Dieser – auf den ersten Blick etwas erstaunliche – Befund kann möglicherweise damit erklärt werden, dass ein Teil der Betriebe die Zusatzleistungen als Reaktion auf diese Problemlagen einsetzt“, so die Autorinnen. Angebote für Sonderleistungen wären demnach ein Resultat der Stellenbesetzungsprobleme und vorzeitigen Vertragslösungen und würden diesen nicht vorausgehen oder sie verhindern.

Das IAB-Betriebspanel ist eine repräsentative Arbeitgeberbefragung, bei der rund 15.500 Betriebe aller Betriebsgrößen und Wirtschaftszweige jährlich befragt werden. Grundgesamtheit sind Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die Befragung wird seit 1993 in den westdeutschen und seit 1996 in den ostdeutschen Bundesländern durchgeführt und stellt als umfassender Längsschnittdatensatz die Grundlage für die Erforschung der Nachfrageseite des Arbeitsmarkts dar. Angaben zum Thema Ausbildung werden in jeder Welle des IAB-Betriebspanels erhoben. Dabei geht es unter anderem um die betriebliche Beteiligung an der Ausbildung, die Übernahme von Ausbildungsabsolventen oder um unbesetzte Ausbildungsplätze.

Die abgebildeten Diagramme sind der Studie entnommen.
Zur Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)


siehe auch:
Schlechte Aussichten
Nach einem Rückgang der Azubizahlen um elf Prozent 2020 dürfte sich die Situation in diesem Jahr zuspitzen. Fast zwei Millionen Jugendliche ohne Ausbildung. [Im Jahr] 2020 [ist] erstmals seit 30 Jahren die Zahl der neuen Azubis unter 500 000 gesunken. Diese Gruppe werde wachsen – und zunehmend Probleme bekommen bei der Arbeitssuche.
Tagesspiegel, 23.02.2021, Alfons Frese, Wenig Aussicht auf Ausbildung

Was passiert mit den Jugendlichen, die in diesem Jahr die Schule verlassen?

Sag mir, wo die Schüler sind

Wenn die duale Ausbildung zum Fremdwort wird

Im Senat herrscht Unklarheit darüber, wie viele Schulabgänger eine duale Ausbildung beginnen. Klar ist: Ihre Zahl ist vor allem bei Migranten gering.
Susanne Vieth-Entus, 14.10.2015

(…) Im Berliner Bezirk Mitte wurden die Sekundarschulen befragt, wie viele ihrer Schüler nach der zehnten Klasse eine duale Ausbildung beginnen. Das Ergebnis lautete: 60 von 1080 Abgängern – mithin 5,6 Prozent. Rund 500 Schüler „sind arbeitslos oder besuchen Maßnahmen, die nicht zu einem Berufs- oder Bildungsabschluss führen“, heißt es einem internen Bericht, der der grünen Abgeordneten Stefanie Remlinger zugespielt wurde. (…)

Schätzungen besagen, dass berlinweit nur jeder zehnte Sekundarschüler den direkten Weg in die duale Ausbildung findet. In sozialen Brennpunkten sind es noch weniger. Und am wenigsten in Mitte, wo die Quote bei besagten 5,6 Prozent liegt und der Migrantenanteil bei 80 Prozent.

Eine Sekundarschule im Bezirk, die nicht genannt werden möchte, berichtet, dass 2014 nur sechs von über 120 Absolventen eine betriebliche Ausbildung begonnen haben; vier von ihnen gaben auf, „weil die Eltern nicht dahinter standen, oder weil es den Schülern zu anstrengend war“, wie der Rektor resümiert.

Diese Bilanz ist für die Schule vor allem deshalb niederschmetternd, weil die Schüler „von hinten bis vorn gepimpt und beraten“ worden seien, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Einen Grund für den Misserfolg sieht der Schulleiter in der „Sozialisation“ der Schüler: „Sie bekommen bestimmte Dinge nicht vorgelebt.“ Oft habe in der Familie kaum jemand einen Beruf. „Die Schüler erfahren, dass sich auch ohne Arbeit ganz gut leben lässt. Darum sehen sie nicht ein, warum sie um sechs Uhr aufstehen und acht Stunden lang schuften sollen“, berichtet eine Schulleiterin im selben Bezirk. (…)

Die Erwartungen an die neue Jugendberufssagentur, die soeben ihre Arbeit aufgenommen hat, ist hoch. Ob sie die Jugendlichen in Ausbildung und Beschäftigung bringen und ergründen kann, welchen Weg die Schüler nach der Schule gehen?

zum Artikel: Der Tagesspiegel, Berlin, 15.10.2015, Susanne Vieth-Entus, Wenn die duale Ausbildung zum Fremdwort wird (Sag mir, wo die Schüler sind)


siehe auch die Meldung im Tagesspiegel vom 16.11.2015:
Susanne Vieth-Entus, 3000 Jugendliche: Nach der Schule ins Nichts

  • 3000 Berliner Jugendliche fallen allein in diesem Jahr nach dem letzten Schuljahr ins Nichts!
  • 15000 Jugendliche sind arbeitslos gemeldet.

Wo bleibt der politische und gesellschaftliche Aufschrei angesichts tausender unversorgter Jugendlicher?

Für den Erhalt unseres Ausbildungs- und Wissenschaftssystems mit praktischer Berufsausbildung und wissenschaftlicher Grundlagenforschung

Datum:   25.04.2015
23. Bayerischer Ingenieuretag
Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung
Was bedeutet gute berufliche und akademische Bildung heute für uns und für unsere Zukunft?
Mit dieser Frage setzte sich Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Philosophieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in seinem Vortrag auseinander.  Gerade für Ingenieure spielt verantwortliches Handeln eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Verbindung von Ethik und Ökonomie, aber auch für den Erhalt unseres Ausbildungs- und Wissenschaftssystems mit praktischer Berufsausbildung und wissenschaftlicher Grundlagenforschung.
Julian Nida-Rümelin war Kulturreferent der Landeshauptstadt München und Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.

(…) Meine These lautet:  Das deutsche Bildungssystem ist nicht perfekt. Kein Zweifel. Es gibt vieles, das verbessert bzw. reformiert werden müsste.
Wir leisten uns den Luxus, in Anteilen am Bruttoinlandsprodukt unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder in Bildung zu investieren. Das ist angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland keine anderen Ressourcen außer denen in den Köpfen haben, besorgniserregend. Es hat sich etwas gebessert, aber es ist noch bei weitem nicht gut.
Wenn wir heute für die Bildung in Deutschland prozentual die Bildungsausgaben der späten 70er-Jahre aufwenden würden, müssten wir 35 Milliarden pro Jahr in Bildung investieren.
Wir haben Defizite. Der Pisa-Schock sitzt tief in den Knochen. Wer hätte das gedacht? Deutschland schneidet nicht als eines der Spitzenländer ab, sondern im unteren Mittelfeld.
Es ist gut, dass es eine gewisse Verunsicherung gegeben hat. Aber die Konsequenzen die daraus gezogen wurden, sind zum Teil besorgniserregender als der ursprüngliche Befund. Der ursprüngliche Befund ist auch verzerrt, da der Pisa-Test nur bestimmte Dinge abbildet – und andere wiederum nicht. Wenn ein Fokus zum Beispiel darauf gelegt worden wäre, ob die Schüler wenigstens Grundkenntnisse in einer ersten Fremdsprache haben, dann hätten die USA nicht nur schlecht, sondern grottenschlecht abgeschnitten. Deswegen wird das erst gar nicht getestet. Oder wenn wir Allgemeinbildung oder Fachwissen zu Grunde legen. All das spielt bei dem Pisa-Test keine Rolle.
In Deutschland ist daraus weithin die Konsequenz gezogen worden, wir müssen uns nach internationalen Standards ausrichten. (…)
Ich kenne die USA ziemlich gut. Und ich glaube, man sollte sich von außen sehr mit Kritik am Bildungssystem der USA zurück halten. Es gibt Gründe für dieses Bildungssystem, basierend auf der Einwanderungsgeschichte Amerikas. Aber die immer noch in den Köpfen herumspukende Idee „Wir müssen uns möglichst weitgehend diesem Modell annähern“ hat in unserer akademischen aber auch beruflichen Bildung einen Flurschaden hinterlassen. Wir bewegen uns zum Teil sogar auf eine Bildungskatastrophe zu. (…)
Wir führen in Deutschland Bachelor-Studiengänge ein – mit dem Gedanken „In den USA funktionieren die doch auch nach derselben Philosophie“. Wenn man aber mal genauer hinschaut, zeigt sich, dass es dort ganz anders ist. 83 Prozent all derjenigen, die in den USA ein Studium absolvieren, absolvieren es an Einrichtungen, in denen es keine Forschung gibt. Die allermeisten Angebote dieser Art an den City-Colleges sind vergleichbar – das ist keine Abwertung, sondern eine Aufwertung – mit unseren Berufsbildungsangeboten. Nicht mit einem Studium, auch nicht mit einem Bachelor-Studium an den Fachhochschulen oder an den Universitäten. Da wird also unvergleichliches miteinander verglichen.(…)
Der US-amerikanische Präsident hat unterdessen ein Berufsbildungszentrum nach deutschem Vorbild in den USA errichten lassen. Ob das funktioniert, werden wir sehen. Ich sehe das kritisch, da die Unternehmen in den USA gar nicht darauf eingestellt sind, im Betrieb auszubilden. Dort gilt noch das Modell „Learning on the job“. Dieses ist jedoch ziemlich oberflächlich und führt dazu, dass der US-amerikanische Arbeitsmarkt fast exakt in der Hälfte gespalten ist. Die einen haben einen Beruf, die andern einen Job. Die Einkommenssituation derjenigen, die nur jobben, ist in der Regel sehr schlecht.
Ich will jetzt nicht empfehlen, dass andere Länder das deutsche duale System einführen. Aber ich will dringend davon abraten, dass wir diese Stärke abwracken. Wenn ich dies sage, ist die Reaktion der Vertreter der herrschenden Meinung: „Nein, das möchte doch niemand.“
Wirklich? Will das niemand? (…)
Innerhalb etwas mehr als einer Dekade hat sich dieses ziemlich stabile Verhältnis (zwei Drittel in der beruflichen Bildung und ein Drittel eines Jahrgangs in der akademischen Bildung) umgekehrt. Wir hatten im vergangenen Jahr eine Studienanfängerquote von 57 Prozent.
Wenn das so weiter geht, dann ist das duale System, so wie wir es kennen, nicht mehr das Angebot an die Mehrheit, sondern das Angebot für eine Minderheit, die auf dem Weg, der als normal gilt, gescheitert ist. Davor warne ich eindringlich. (…)
Es gibt in Mitteleuropa, anders als im angelsächsischen Raum, eine Fachorientierung der Bildungsangebote. Fachkenntnisse. Etwas, das bei Pisa zum Beispiel nicht abgefragt wird.
Wir haben gegenwärtig einen großen Umstellungsprozess. Weg vom Fachwissen hin zu mehr oder weniger unspezifischen Kompetenzen. Der Vorreiter in diesem Prozess sind die Hochschulen und die dortigen Bildungsangebote. Es folgen die Schulen. Auch deren Curricula sollen in diese Richtung umgebaut werden. Am Ende werden wir möglicherweise dort landen, wo das US-amerikanische System heute bereits ist. Nämlich, dass man im Grunde bei niemandem weiß, ob er nun ein Bachelorstudium an einem City College oder an einer Hochschule oder einer Universität absolviert hat – und was er damit eigentlich kann und weiß. (…)
Ich verteidige das staatliche System, die staatliche Verantwortung für Bildung. Wir sind damit nicht schlecht gefahren, obwohl es verbesserungswürdig ist. Aber wir dürfen es nicht erodieren lassen und es in private Hände übergeben. Ich befürchte, dass wir sonst unsere wichtigen Standards – die Fachorientierung und die Fachkompetenz in Deutschland – einbüßen würden. (…)

zum Vortrag:  23. Bayerischer Ingenieuretag am 23. Januar 2015, Prof. Julian Nida Rümelin, Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung

Messlatte für Bildungsziele zu hoch

Datum: 07.01.2015
DGB-Bilanz nach dem Bildungsgipfel
Die Bildungsrepublik verfehlt ihre Ziele

Vor gut sechs Jahren – im Oktober 2008 – riefen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder die Bildungsrepublik Deutschland aus:
– Die hohen Quoten der jungen Menschen ohne Schul- und ohne Berufsabschluss sollten halbiert werden.
– Für 35 % der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, müsse ein Krippenplatz bereit stehen, um den Rechtsanspruch abzusichern.
– Mehr Menschen sollten sich weiterbilden oder ein Studium aufnehmen.
– Die Ausgaben für Bildung und Forschung sollten auf 10 % des Bruttoinlandprodukts steigen.
Was ist aus den Dresdner Versprechen geworden?
Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt (Studie, siehe TSP-Artikel): Die soziale Schieflage bleibt die Achillesferse unseres Bildungssystems. Die Zahl der jungen Menschen ohne Schul- und Berufsabschluss bleibt bedrückend hoch. Die angestrebte Halbierung der Quote der Absolvent/innen allgemein bildender Schulen ohne Hauptschulabschluss auf 4,0 % ist nicht absehbar. Ein Maßnahmebündel, das in diesem Handlungsfeld Erfolge versprechen würde, ist nicht erkennbar.
Die angestrebte Halbierung der Quote junger Erwachsener, die keinen Berufsabschluss erwerben, ist nicht in Sicht: Von 2008 bis 2013 hat sich die entsprechende Quote von 17,2 % auf 13,8 % nur sehr geringfügig verringert.
Der Anteil der Bildungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt ist wieder gesunken. Es besteht kein Anlass, optimistisch in die nähere Zukunft zu blicken.

Zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Wissen, 7.1.2015, Anja Kühne und Tilmann Warnecke, Die Bildungsrepublick verfehlt ihre Ziele