Schlagwort-Archive: Digitalisierung der Schule

LESEN IM 21. JAHRHUNDERT

21 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler sind nicht in der Lage, sinnentnehmend zu lesen. 

Lesekompetenzen in einer digitalen Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse des PISA-Berichts „21st-century readers“

Anlass für die genauere Betrachtung der oben genannten Studie war der Leitartikel in der Printausgabe des Tagesspiegels vom 5.5.2021 mit der Überschrift: „Schule digital – Die große Leere in der Lehre“ [1] von Anke Myrrhe.

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Sie eröffnet ihren Kommentar mit dem Hinweis auf eine dauerhafte Schockstarre nach den Pisa- Bildungsstudien, kommt auf die soeben veröffentlichte Pisa-Sonderauswertung „Lesekompetenz in einer digitalen Welt“ und findet, dass die Meldung „Jugendliche in Deutschland fühlen sich digital schlecht unterrichtet“ zu wenig „Schlagzeilen“ mache. Um dies zu untermauern führt sie an, dass „die stetige Kreidezufuhr an vielen Schulen wesentlich wichtiger war als der Breitbandausbau.“

Sie befürchtet, dass es „nach mehr als einem Jahr Ausnahmezustand weiterhin heißen [wird]: frontal, live und mit viel Kreide.“ Die „Chance für eine andere Art der Bildung“, so ihre Erkenntnis, wurde wieder einmal „verpasst“ – „eine digitale Revolution an den Schulen“ bleibt aus. Was sie unter „Bildung“ versteht lässt sie offen – weist aber noch auf „innovative Konzepte, tolle Projekte und fantastisch funktionierenden Digitalunterricht“ hin. Diese „Message“ könnten die Vertreter der IT- und Medienindustrie, deren Lobbyisten und die Sprecher der konzernnahen Stiftungen nicht besser in die Welt setzen.

Für den Pädagogen wird deutlich: Anke Myrrhe hatte mit ihren Aussagen nicht die Schüler im Auge sondern vertritt in euphemistischer Weise die Interessen der IT- und Medienindustrie. Für diese ist die „Digitalisierung der Bildung“ ein milliardenschweres Geschäft, welches als gewinnbringendes „Bildungskonzept“ an unseren Schulen umgesetzt werden soll. Sie verkaufen ihre digitalen Lehr- und Lernprodukte als Lösung für Probleme, zu deren Verschärfung sie beitragen.

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei dem Hype: „Digitalisierung der Schule“ nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft sowie die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten, werden von den Akteuren bewusst verschleiert.

Was Anke Myrrhe bei ihrer „Digitaleuphorie“ verschweigt und übergeht sind die Ergebnisse aus der von ihr erwähnten Pisa-Sonderauswertung „Lesekompetenz in einer digitalen Welt“.

Dieser zufolge hat sich die Internetnutzung der 15-Jährigen im OECD-Raum zwischen 2012 und 2018 von 21 auf 35 Stunden wöchentlich erhöht.

2018 entsprach die Internetnutzung der 15-Jährigen fast der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit eines Erwachsenen im OECD-Raum. (S. 4)

Festgestellt wurde ein negativer Zusammenhang zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke. In Deutsch­land war dieser negative Zusammenhang am stärksten ausgeprägt. (S. 6)

Weiter wurde berichtet, dass die Freude der Schüler*innen am Lesen deutlich abge­nommen hat. Der stärkste Rückgang war in Deutschland, Finnland und Norwegen zu beobachten. Der Anteil der Schüler*innen in Deutschland, die Eigenangaben zufolge nur dann lesen, wenn sie müssen, war in PISA 2018 beispiels­weise um 11 Prozentpunkte höher als in PISA 2009. (S.7)

Rund 21 % der Schüler*innen in Deutschland erreichen im Bereich Lesekompetenz nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. (S. 17)

Aus den Ergebnissen nach sieben PISA-Runden und vier IGLU-Runden ist aus allen Studien zu entnehmen, dass die Leseförderung in Deutschland sowohl in der Primar- als auch in der Sekundarstufe dringend ausgebaut werden muss. Außerdem ist es notwendig, schwachen Leistungen im Bereich Lesekompetenz bereits ab dem Vorschulalter und über die ganze Schulzeit hinweg vorzubeugen. (S. 17)

Nichts von all dem im Kommentar von Anke Myrrhe.

Texthervorhebung in den grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.


Zur Erinnerung: Die Studie wurde finanziert von der Vodafon Stiftung.

[1] In der Onlineversion lautet die Überschrift: „Warum der Präsenzunterricht als oberstes Ziel falsch ist“. Die verpasste Revolution: Die Pandemie-Zeit wäre eine Chance gewesen für eine andere Art der Bildung. 

Siehe auch die Stellungnahme von Robert Rauh im Tagesspiegel vom 11.05.2021: „Der Präsenzunterricht als oberstes Ziel bleibt richtig“.

Siehe auch: FAZ, 20.05.2021, Heike Schmoll, Kein Glück beim Lesen – Deutsche Jugendliche sind viel im Internet unterwegs. Ihnen fehlt aber die Orientierung

Digitalisierung und Individualisierung: Eine unheilige Allianz, die Bildung verhindert

Schon vor der Corona-Krise machte sich in den Schulen der Trend breit, dem Problem der Heterogenität der Schülerschaft durch sog. „Individualisierung“ begegnen zu wollen. Man löst die Klassengemeinschaft faktisch auf und versorgt jede Schülerin, jeden Schüler mit differenzierten Arbeitsaufträgen, die sie „selbstgesteuert“ bearbeiten sollen.

Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz, Bergische Universität Wuppertal, ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

Die durch die Corona-Krise beschleunigte Digitalisierung scheint das nun noch einfacher zu machen: Nun kann jeder „individuell“ und „selbstgesteuert“ an seinem Gerät arbeiten, ob zuhause oder in der Schule. Beides untergräbt aber die Aufgabe der Schule und gefährdet den verfassungsgemäßen Bildungsauftrag. Warum ist das so?

Dazu 7 knappe Thesen:

1. Stärkung der Lehrperson statt „Lernbegleitung“.

Heterogenität ist nichts Neues, sondern selbstverständlich. Sie wird nicht durch Auflösen der Lerngruppen und Absenken der Ansprüche gelöst, sondern durch Stärken der Klassengemeinschaft und indem man Schwächere an höhere Levels heranführt. Das aber braucht eine Lehrperson, die die Klasse erzieherisch und fachlich führt. Also das genaue Gegenteil des Trends zum „Lernbegleiter“ (vgl. beispielhaft und konkret Rudolph/Leinemann 2021).

2. „Selbststeuerung“ ist nicht Selbstständigkeit.

Wer nur Arbeitsaufträge von Lernsoftware oder Arbeitsblättern ausführt, entwickelt nicht Selbstständigkeit. Vielmehr steuert er sich nur selbst gemäß den Vorgaben von außen. Er lernt sich anzupassen, nicht aber selbstständig zu denken und zu argumentieren. Dazu braucht es ein lebendiges und interessiertes menschliches Gegenüber – also Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schüler. Anpassung aber widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen, der auf Mündigkeit zielt.

3. „Individualisierung“ ergibt nicht Individualität.

Daher bildet äußere „Individualisierung“ gerade nicht Individualität, sondern fördert Konformität. Um ein individuelles Selbst zu werden, brauchen junge Menschen sozialen Kontakt, Austausch, Widerspruch und gemeinsam zu bewältigende Herausforderungen. Doch: Die Bildung von Individualität ist pädagogisch herausfordernd, weil Lehrpersonen den Kindern und Jugendlichen als ganze Menschen gegenübertreten müssen, nicht nur als Verwalter von Lernprozessen.

4. Digitalisierung ist Frontalunterricht der üblen Sorte.

Gerne grenzen sich Befürworter von „digitalem“ und „selbstgesteuertem Lernen“ vom „Frontalunterricht“ ab. Tatsächlich ist digitales oder analoges „selbstgesteuertes Lernen“ Frontalunterricht in übler Reinform, wie er sonst kaum noch vorkommt. Das Arbeitsblatt und der Algorithmus antworten mir nicht, diskutieren nicht, nehmen mich nicht wahr, haben kein Sachverständnis, wissen nicht, was Bildung ist, kennen keine Didaktik und haben keine pädagogische Empathie. Sie regieren über die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hinweg – oder besser: in sie hinein.

5. Digitalisierung beruht auf Lobbyarbeit.

Die angeblich „alternativlose“ Digitalisierung der Schulen hat keine pädagogischen Gründe, sondern banale ökonomische. Sie beruht auf massiver Lobbyarbeit von IT-Industrie und deren Adepten. In der Krisenlage rund um Corona haben Politik, Medien, Eltern und viele Pädagoginnen und Pädagogen die inszenierte Hysterie noch verstärkt. Doch wird Digitalisierung keine pädagogischen Probleme lösen, Unterricht wird dadurch nicht automatisch besser. Vielmehr braucht die sinnvolle Integration der Digitalisierung in die Aufgaben der Schule sehr genaues und klares pädagogisches, didaktisches und fachdidaktisches Denken (vgl. Krautz 2020).

6. Neoliberalismus und Reformpädagogik feiern Hochzeit.

Warum aber ist das dann alles so beliebt und scheint so modern? Hier verbinden sich zwei ältere Diskurslinien: Reformpädagogischem Denken entstammt die Meinung oder auch nur das unbewusste Gefühl, dass die Kinder sich doch lieber „frei entfalten“ sollen. Lehren sei irgendwie freiheitswidrig, die Gehalte und Anforderungen unserer Kultur würden die kindliche „Natürlichkeit“ negativ beeinflussen. Neoliberalem Denken entstammt die Idee, Lernende seien „Unternehmer ihrer selbst“ und würden in den „Lernlandschaften“, die aussehen wie Großraumbüros, die „Skills“ und „Kompetenzen“ erwerben, die sie als flexible und anpassungsfähige Arbeitskräfte bräuchten. Beides ist sachlich falsch und antipädagogisch gedacht. Beides lässt die Heranwachsenden faktisch im Stich: Einmal werden sie sich selbst überlassen, einmal den Anpassungsimperativen der neoliberalen Ökonomie (vgl. Krautz 2017).

7. Pädagogische Verantwortung ernst nehmen.

Was ist der Ausblick? Pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und wieder zu lehren, zu lernen, zu erziehen und zu bilden. Das ist anstrengend, gewiss. Aber wenn wir uns diesen Fragen wieder mit gemeinsamer Kraft zuwenden würden, statt mit haltlosen Konzepten an Kindern und Jugendlichen zu experimentieren, könnten wir diesen und uns selbst das absehbare und bittere Scheitern ersparen.

Zur Vertiefung

Burchardt, Matthias: Zwischen Arbeitsblatt und Bildschirm. Neue Lernkultur oder Kaspar-Hauser-Pädagogik? In: Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz, H. 1/2018, S.6-12, https://www.philologenverband.de/fileadmin/user_upload/Das_Gymnasium/Gymnasium_in_Rh-Pf_1-2018__JR__Endgueltig.pdf.

Gruschka, Andreas: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Opladen2015, www.bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2015/06/gruschka_bildundgs_rat.pdf.

Krautz, Jochen: Neoliberaler Ökologismus. „Markt“ und „Natur“ als Steuerungsparadigmen der „Neuen Lernkultur“. In: Burchardt, Matthias/Molzberger, Rita (Hrsg.): Bildung im Widerstand. Festschrift für Ursula Frost. Würzburg 2017, S. 121-146.

Krautz, Jochen: Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. Keine digitale Transformation von Schule. GBW-Flugschriften Nr. 1. Köln 2020, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/10/krautz_flugschrift_digitalisierung.pdf.

Lankau, Ralf: Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen. GBW-Flugschriften Nr. 2. Köln2020, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/09/lankau_flugschrift_web.pdf.

Türcke, Christoph: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet. München 2016.

Rudolph, Michael/Leinemann, Susanne: Wahnsinn Schule. Was sich dringend ändern muss. Berlin 2021.

Winterhoff, Michael: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloh 2019.

Der Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin. Texthervorhebung in den grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.

Beitrag als PDF-Datei: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2021/03/Krautz-Digitalisierung-und-Individualisierung.pdf

Digitalpakt Bildung – eine Kritik

„Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik“ von Gottfried Böhme

Rezension von Inge Lütje für Schulforum-Berlin

Die wochenlangen Schulschließungen wegen der Pandemie kommen den Digitalisierungsbefürwortern entgegen. Ihre Forderungen nach flächendeckender Ausstattung aller Schüler mit technischen Geräten und der Einrichtung diverser Lernplattformen finden große Resonanz bei vielen Lehrern, Eltern und den Verantwortlichen in der Schulbürokratie. Einmal eingeführt, ist damit zu rechnen, dass auch in der Nachpandemiezeit die Digitalisierung weiter vorangetrieben wird.

Da ist es gut, noch einmal innezuhalten und sich der Probleme bewusst zu werden, die mit dieser jetzt so rasant von vielen Seiten unterstützten Entwicklung verbunden sind. Es lohnt sich, dazu das Buch „Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik“ von Gottfried Böhme, erschienen 2020, zu lesen. Böhme, Jahrgang 1951, war über 40 Jahre als Lehrer und auch in der Lehrerfortbildung tätig.

Nach einem Vorwort geht der Autor im ersten Kapitel „Die Digitalisierungswelle erreicht die Pforten der Schulen“ auf drei Texte ein, die Grundlage seiner Ausführungen sind. Er analysiert kritisch das Strategiepapier der Kultusministerkonferenz Bildung in der digitalen Welt  von 2016, das den Hintergrund für den Digitalpakt#D oder Digitalpakt Schule bildet, ebenso das Buch Die digitale Bildungsrevolution – Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (2015) von Ralph Müller-Eiselt und Jörg Dräger. Der Letztgenannte sitzt im Vorstand der Bertelsmann Stiftung, was Böhme zum Anlass nimmt, gleich am Anfang auf die vielfältigen ökonomischen Interessen an der Digitalisierung hinzuweisen. Das dritte Buch, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus der Harvard-Professorin Shoshana Zuboff (2018), bezeichnet er als „eine aktualisierte Fassung des Kapitals von Karl Marx“, allerdings „ohne dessen Geschichtsoptimismus“ (S. 24). Die Wahl dieser Texte macht deutlich, dass Böhme im Folgenden einerseits sehr eng an den aktuellen schulischen Entwicklungen bleibt, aber auch den Blick weitet auf ökonomische Interessen und eine durch die Digitalisierung veränderte Gesellschaft. Zwei Zitate aus dem Vorwort machen das deutlich: „Zur Disposition stehen mit der Änderung der Rolle von Schüler, Lehrer und Klasse zentrale Elemente unserer Schulkultur“ (S. 9) und „Wer die Schule verändert, der verändert auch die Gesellschaft“ (S. 10). Im ausführlichen Literaturverzeichnis finden sich weitere Hinweise auf Fachbücher, allerdings fehlen die Autoren Jochen Krautz, Ralf Lankau und Matthias Burchhardt.

In den folgenden drei Kapiteln „Eine Schule ohne Klassen, eine Schule ohne Lehrer“, „Der Schüler wird zum User“ und „Hasso Plattners Schulcloud“ beschreibt Böhme detailliert und kenntnisreich die Veränderungen durch den Einsatz digitaler Medien. Er spricht sich nicht gegen deren altersgerechten und didaktisch wohl überlegten Einsatz im Unterricht aus, sondern stellt in den Mittelpunkt seiner Kritik die  Onlineangebote großer Unternehmen, deren Programme die Schüler auf der Grundlage von Algorithmen ganz individuell durch den Lernstoff führen wollen. Für Böhme liegt die große Bedeutung der Schule darin,  eine wichtige Sozialisationsinstanz zu sein, in der Lernen als ein personales Geschehen in der pädagogisch motivierten Begegnung zwischen Schüler und Lehrer und der Schüler untereinander geschieht. Diese Gemeinschaft soll dazu beitragen, dass der junge Mensch zum mündigen Bürger heranwachsen kann. Die Digitalisierung, so seine These, führe zur Individualisierung und damit zur Vereinzelung des Schülers, der Lehrer werde zum bloßen Lernbegleiter und seiner Verantwortung für die Stoff- und Materialauswahl enthoben (und damit billiger!) und die Unternehmen profitierten von den unzähligen Informationen und Daten, die über jeden einzelnen Schüler und sein Lernverhalten gesammelt werden können.

Seine Kritik am Digitalpakt Bildung vertieft Böhme in dem folgenden Kapitel „Wer die Schule ändert, ändert die Gesellschaft“. Nach einem kurzen Exkurs zum Thema „Identitätsbildung“ verweist er auf die große Bedeutung, die bisher Lehrer – und andere Erwachsene – für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hatten. Diese, so seine These, werde durch die Digitalisierung zunehmend von „Youtubern, Bloggern und Influencern“ ersetzt, das World Wide Web beerbe die Lehrerschaft (S. 138), der Heranwachsende werde der analogen Welt entfremdet. Böhme beklagt auch die fehlende Gewaltenteilung bei „Facebook, Google & Co.“ und warnt: „Riesige rechtsfreie Räume drohen zu entstehen“ (S. 140). Es folgt eine ausführliche, detaillierte Kritik am Strategiepapier der KMK, an den dort formulierten 60 zu erwerbenden „Kompetenzen“ im Umgang mit der Digitalisierung (S. 145). Böhme kommt zu dem Schluss: „Das Diktat der Kompetenzpädagogik behindert eine systematische Erfassung zukunftsrelevanter Wissensbereiche bzw. der Weltzusammenhänge, die ein junger Mensch kennenlernen sollte“ (S. 149). Und er konstatiert: „Das Ziel der kultusministeriellen Kompetenzpädagogik ist der Privatmensch, der […] vor allem gut auf das Berufsleben vorbereitet ist. Zu kurz kommt das Wissen um solche Zusammenhänge, die beruflich weitgehend belanglos sind. Dieses braucht man aber, um politisch aktiv zu werden, um gemeinsam Zukunft zu gestalten“ (S. 158/159). Er plädiert dafür, den Heranwachsenden die Überzeugung zu vermitteln, „dass wir alle Glieder einer Menschengemeinschaft sind, die im Idealfall füreinander einstehen und nicht ausschließlich im privaten Interesse handelt“ (S. 159). 

Im Kapitel „Der heimliche Lehrplan: ein neues Menschenbild?“ beantwortet Böhme ausführlich und kenntnisreich die im Titel seines Buches formulierte Frage „Der gesteuerte Mensch?“ Er verweist darauf, dass „Datenkapitalisten“ alles, was über den Einzelnen gesammelt worden ist, nutzen, „um ihn immer stärker in seinem Verhalten zu beeinflussen und damit gerade seiner Individualität zu berauben“ (S. 184). Er warnt vor der zunehmenden Macht der großen Konzerne, die, weitestgehend an der staatlichen Autorität ihrer Länder vorbei, immer mehr auch politischen Einfluss gewinnen mit gravierenden Folgen: „Wahlen werden manipuliert, Rassisten gelangen an die Macht, Populisten bekommen Zulauf, Filterblasen blähen sich auf, Hass ist ein großes Thema geworden, Teenager vereinsamen und und und …“ (S. 190). Den in seinen Augen geringen Widerstand gegen diesen „nihilistische[n] Durchmarsch“ erklärt er unter anderem damit, „dass in unseren westlichen Gesellschaften die Gleichgültigkeit Idealen bzw. Werten gegenüber rapide zugenommen hat“ (S. 181). Und erneut übt Böhme Kritik am Digitalpapier der KMK: „Etwa 60 Kompetenzen werden dort definiert, […], aber die weltanschaulichen Aspekte des digitalen Wandels mit Schülern zu erörtern ist nicht vorgesehen“ (S. 193). Damit ist unter anderem die Frage gemeint, ob der Unterschied zwischen Mensch und Maschine verschwinde, eine Diskussion, die, nach Böhme, „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ sei (S. 186). Dafür bringt er zahlreiche Beispiele, die z.T. bis ins Jahr 2006 zurückgehen, vor allem, aber nicht nur, aus dem angelsächsischen Raum. Böhme fordert die Schule auf, es bei dieser Diskussion nicht bei gefühlsmäßigen Antworten zu belassen, sondern: „Klarheit schaffen nicht Gefühle, Klarheit schafft der Verstand“ (S. 193).

Auf den letzten Seiten seines Buches widmet Böhme sich den folgenden Fragen: Was muss der Lehrer beim Einsatz digitaler Medien – nach heutigem Stand – beachten? Wie steht es mit dem Datenschutz und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen? Welche kritischen Studien werden bei den positiven Ergebnissen der Evaluierung vernachlässigt? Diese stellt er dann auf zwölf Seiten kurz, aber gut nachvollziehbar vor. Außerdem nennt er, als Forderungen, dreizehn Aspekte zum Thema Digitalisierung der Schulen, „die von einem humanen pädagogischen Konzept, das sich guten europäischen Bildungstraditionen verpflichtet weiß, berücksichtigt werden sollten“ (S. 236).

Das Buch von Gottfried Böhme wendet sich vor allem an Eltern, Lehrer und Erzieher. Es ist an keiner Stellen plakativ, sondern immer kenntnisreich, fundiert und mit Beispielen belegt. Aus ihm spricht sowohl die Sorge um die Entwicklung des einzelnen Menschen als auch um den Fortbestand einer humanen, demokratischen Gesellschaft.

Gottfried Böhme, Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik, Evangelische Verlagsanstalt GmbH Leipzig 2020, ISBN 978-3-374-06341-3

Siehe auch unter „Bücher“ auf dieser Website

Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien – Verschleierung und Verwirrung als „roter Faden“.

Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden.
Holmes, W., Anastopoulou S., Schaumburg, H. & Mavrikis, M. (2018).
Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.


Besprechung des Forschungsberichts von Manfred Fischer für Schulforum-Berlin. [1]

Richtungshinweise des Auftraggebers oder: Wo soll es hingehen?

Die stellvertretende Vorsitzende der Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung GmbH, Uta-Micaela Dürig schreibt im Vorwort des Reports:
„Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien ist in Deutschland noch wenig verbreitet. Wir [die Robert Bosch Stiftung] haben daher die Autorinnen und Autoren des Reports beauftragt, aktuelle internationale Erkenntnisse zu diesem Thema zusammenzustellen. Der vorliegende Report zeigt auf, dass digitale Medien ein großes Potenzial bergen, personalisiertes Lernen effektiv umzusetzen.“ (S. 4f)

Schon sehr bald formulieren die Autorinnen und Autoren einen Gegensatz zum Vorwort:
„Ein belastbarer Nachweis ihrer Wirksamkeit [der personalisierten digitalen Lernwerkzeuge] in der Breite steht noch aus. Daher ist es schlichtweg unmöglich zu prognostizieren, welches Lernwerkzeug in der Praxis am besten funktionieren wird.“ (S. 12)

Diese Erkenntnis hindert die Bildungsexperten jedoch nicht, gleich darauf im Sinne der Robert Bosch Stiftung zu konstatieren:
„Wie unser Bericht zeigt, ist personalisiertes Lernen mit digitalen Medien zweifellos ein vielversprechender Ansatz, den zu verfolgen sich lohnen dürfte. Auch gibt es mittlerweile eine Reihe außergewöhnlicher digitaler Lernwerkzeuge“, um im nächsten Satz einzuschränken: „Die Befunde verdeutlichen jedoch ebenso, dass personalisiertes Lernen mit digitalen Medien kein Wundermittel darstellt.“ (S. 12, Hervorhebung im Fettdruck durch die Autoren)

Derart widersprüchliche Aussagen finden sich im gesamten Forschungsbericht und werden auf der letzten Seite als „abschließende Bemerkung“ wiederholt.
Von den erwähnten „außergewöhnlichen digitalen Werkzeugen“ haben die Bildungsforscher 18 ausgesucht und vorgestellt. Sie halten vorab zur Wirkung der untersuchten digitalen Lernwerkzeuge folgendes fest:

„Effektstärken ermöglichen es, von der allzu einfachen Frage „Hat es funktioniert?“ zu der viel wichtigeren Frage „Wie gut hat es funktioniert?“ zu gelangen. Je größer die Effektstärke, desto größer die Wirkung auf die Teilnehmer*innen. Dabei gelten Effekte über 0,4 in Bildungsstudien als Hinweis auf für die Praxis bedeutsame Effekte. […] Brauchbare und glaubwürdige Effektstärken lassen sich am zuverlässigsten aus hohen Zahlen von Personen ableiten, die an sogenannten randomisierten kontrollierten Studien (im Englischen: randomised controlled trials, RCTs) teilneh­men.“ (S. 58f)

An dieser Stelle verweisen die Autorinnen und Autoren auf den Bildungsforscher und Erziehungswissenschaftler John Hattie. Dieser führt dazu in „Lernen sichtbarmachen für Lehrpersonen“ aus:
Damit eine bestimmte Intervention als erstrebenswert angesehen wird, muss sie eine Verbesserung des Lernens der Schülerinnen und Schüler um mindestens den Durchschnittszuwachs aufweisen – d. h., eine Effektstärke von mindestens d = 0,40. Der Wert von d = 0,40 ist das, was ich in `Lernen sichtbar machen´ als den `Umschlagpunkt´ zur Identifizierung dessen, was effektiv ist und was nicht, bezeichnet habe“. [2]

Bei 12 der 18 von den Autorinnen und Autoren vorgestellten digitalen Lernwerkzeugen gibt es laut der Tabellen (S. 65 – 82) keine Wirksamkeitsstudie („Wirkung unbekannt“), bei 8 der aufgeführten digitalen Lernwerkzeuge gibt es keine empirischen Befunde („Empirische Fundierung unbekannt“). Es gibt somit keine randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) über die Lernwirksamkeit der ausgewählten Programme. Deshalb geben die Autoren ehrlicherweise zu, dass sie die ausgewählten Lernwerkzeuge nur „beschreiben“ und „einige Empfehlungen“ aussprechen könnten. Ihr Ziel sei es, „die Entscheidungsfindung zu unterstützen.“

Übersicht über die Wirksamkeit (Effektstärke) sowie der Belastbarkeit (Vertrauenswürdigkeit) der empirischen Befunde der 18 beschriebenen digitalen Lernwerkzeuge [3]:

Tabelle erstellt durch Schulforum-Berlin

Die Tabelle zeigt, dass es sich nur bei einem einzigen der ausgesuchten Programme um ein über den „Umschlagpunkt“ effektives digitales Lernwerkzeug handelt (conText). Auch waren hier die empirischen Befunde mit einem weiteren Programm (ASSISTments) vertrauenswürdig über RCT.

Zur Verdeutlichung der Vorgehensweise der Autorinnen und Autoren sind nachfolgend Auszüge einiger Programmbeschreibungen und Empfehlungen aufgelistet. [4]

Accelerated Reader ist ein Lernwerkzeug zur Unterstützung des Leseunterrichts. Es zeichnet die Lernfortschritte der Schüler*-innen auf und bewertet sie. Außerdem bietet es den Lernenden praktische Übungen an. […] Der Accelerated-Reader-Ansatz ist zweifellos vielversprechend, obwohl die Aussagekraft der ermittelten Effektstärke durch zwei Faktoren abgeschwächt wird: Zum einen wurde der Beurteilungstest vom selben Unternehmen entwickelt. Zum anderen wurde er so gestaltet, dass er dieselben Ziele wie die Software (anstatt der Ziele des Lehrplans) als Bewertungsmaßstab verwendet. Die Effektstärke belief sich auf beachtliche 0,38. Accelerated Reader ist nicht in Deutsch erhältlich. (S. 65)

Es stellt sich die folgende Frage: Welche Aussagekraft hat eine Wirksamkeitsstudie, die erstens vom Hersteller entwickelt und durchgeführt wurde und zweitens dieselben Ziele wie die Software (anstatt der Ziele des Lehrplans) als Bewertungsmaßstab verwendet? Der Ansatz des Programms, welcher die Ziele des staatlichen Lehrplans missachtet, wird als „vielversprechend“ bewertet, und die vom Unternehmen selbst publizierte Effektstärke von d = 0,38 wird von den Autoren auch noch als „beachtlich“ herausgestellt!

Mit Google Classroom unternimmt Google einen großen Schritt, um sich im Bildungswesen zu etablieren. Die Instrumente von Classroom ermöglichen es Lehrkräften, Unterrichtseinheiten zu konzipieren, individuelle Aufgaben zu verteilen und Rückmel­dungen zu erteilen. Die hervorstechende Eigenschaft von Google Classroom besteht jedoch darin, dass die Software darauf ausgerichtet ist, sich mit einer großen Auswahl an externen Lernwerk­zeugen zu verbinden; ihr Ansatz zielt also auf eine Verknüpfung von Apps ab. […] Problematisch ist auch die ungeklärte Frage, wer Zugang zu den Daten der Lernenden erhält. Da keine Wirksamkeitsstudien vorliegen, lässt sich in jedem Fall derzeit keine Empfehlung hinsichtlich der Frage aussprechen, ob Lehrende Google Classroom ausprobieren sollten oder nicht. (S. 74)

Die vom pädagogischen Standpunkt aus ungeklärten Fragen lassen die Autorinnen und Autoren außer Acht. Sie schreiben:Wir haben das Programm in diesen Bericht aufgenommen, da es … von dem Internetriesen Google entwickelt wurde, und wie die Erfahrung zeigt, verbreiten sich Produkte aus dem Hause Google normalerweise schnell!“

Eine vergleichbare Aussage macht die Forschergruppe auch beim nächsten Programm.

Bei „ALTSchool“ war die Begründung für die Begutachtung: „weil sein bahnbrechender, auf Big Data gründender Ansatz künftig wohl vermehrt anzutreffen sein wird.“

Bei der ALTSchool-Open-Plattform „lässt sich nicht überprüfen, wie die Algorithmen der künstlichen Intelligenz die Playlists der Schüler*innen erstellen und steuern. Ebenso bleibt offen, wie genau die Playlists die Entscheidungen und den Lernfortschritt der Lernenden unterstützen. Die Verwendung wandmontierter Kameras zur Aufzeichnung sämtlicher Aktivitäten im Klassenzimmer wirft zudem datenschutzrechtliche und ethische Fragen auf. Beispielsweise steht die Frage im Raum, inwieweit eine solche digitale Überwachung soziale Ungleichheiten verstärken könnte. (S. 66)

Es ist nicht anzunehmen, dass die Autorinnen und Autoren oder die konzernnahe Robert Bosch Stiftung bei diesem bahnbrechenden Ansatz sowie einem vermehrten Einsatz dieser Programme, geschweige denn bei der Speicherung einer Unmenge von unkontrollierbaren Schülerdaten auf die Barrikaden gehen werden. Big Brother is watching you!

Entscheidend bei der Auswahl von Lernmitteln muss doch sein, was die Wissenschaft als essenziell für das Lernen erforscht hat, wie auf dieser Grundlage Schule und Unterricht zu gestalten sind und wofür der Begriff Bildung in unserer Gesellschaft steht. Ziel darf nicht sein, was ein Internetriese oder Medienkonzern als sein gewinnbringendes „Bildungskonzept“ an unseren Schulen umsetzen möchte – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche Diskussion! [5]

Smart Learning Partner entstand als Gemeinschaftsprojekt des Advanced Innovation Center for Future Education der Pädagogischen Universität Peking und des Tongzhou-Bezirks der Stadt Peking. Das Programm ist eine umfangreiche digitale Innovation mit zwei Hauptbestandteilen. Zum einen handelt es sich um ein intelligentes Lernmanagementsystem. Dieses umfasst eine Sammlung von Onlinevideos, die sämtliche Unterrichtsfächer und Jahrgangsstufen abdecken. Hinzu kommt eine Auswahl von Werkzeugen künstlicher Intelligenz, die die Lerninhalte den Lernfortschritten der Schüler*innen im Zuge der Nutzung des Programms anpassen. Zum anderen – und auf diesen Aspekt konzentrieren wir uns hier – ist es eine mobile Plattform, die es den Lernenden ermöglicht, sich über ihr Handy mit einem von Tausenden von Tutor*innen zu verbinden. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen Lernnetzwerk-Orchestrator. Das Programm funktioniert im Grunde ähnlich wie eine Dating-App (allerdings zwischen Lernenden und Tutoren). Die Schüler*innen können mithilfe der App zu jeder Tages- und Nachtzeit nach einem Tutor oder einer Tutorin suchen, um gezielte Fragen zu einem Lernthema zu stellen, für das sie Hilfe benötigen. Alle Tutor*innen wurden von anderen Schüler*innen bewertet. Nachdem die Lernenden einen Tutor oder eine Tutorin ausgewählt haben, erhalten sie einen 20-minütigen Online-Einzelunterricht (als Videokonferenz), um das Problem gemeinsam zu lösen. Smart Learning Partner wird vollständig vom Pekinger Tongzhou-Bezirk finanziert. Alle Tutor*innen erhalten ein Honorar, während das Angebot für die Lernenden kostenlos ist. (S. 78)

Schlussfolgerung der Autorinnen und Autoren nach ihrer Begutachtung des Programms: „Bislang liegen für den Smart Learning Partner noch keine RCT-Befunde vor. [D. h. es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien über die Lernwirksamkeit der ausgewählten Programme]. Dennoch haben wir das Programm in diesen Bericht aufgenommen, da es auf innovative Weise zeigt, wie man es Schüler*innen ermöglichen kann, ihren Lernprozess vollständig in die eigene Hand zu nehmen. […] Leider ist Smart Learning Partner nur in Peking und nur auf Chinesisch verfügbar, doch die Politik sollte diesen innovativen Ansatz sorgfältig prüfen.“

Die abschließende Empfehlung verschleiert, dass die Autorinnen und Autoren „Chinesische Verhältnisse“ und „künstliche Intelligenz“ im Klassenzimmer für erstrebenswert halten! Es ist offensichtlich, dass „Big Brother is teaching you“ von der Forschergruppe als mögliche „Lehr- und Lernform“ herangezogen wird. Die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, die Vereinzelung beim Lernen, der Verlust von Sozialkompetenzen wird kommentarlos hingenommen. Das Vorgehen wird zu einem „innovativen Ansatz“ hochstilisiert!

Am Ende des Forschungsberichts kommen die Autorinnen und Autoren wieder auf die Intentionen der Robert Bosch Stiftung im Vorwort zurück. Sie fassen zusammen:

„Eine abschließende Bemerkung sei erlaubt: Die hier vorgestellten empirischen Befunde zeigen, dass personalisiertes Lernen mit digitalen Medien zweifellos ein lohnendes und vielversprechendes Unterfangen [Experiment/Unternehmen] ist. Auch sind einige außergewöhnliche digitale Lernwerkzeuge entwickelt worden. […] Um die nötigen Reformen durchzuführen, sind Zeit und Mühe erforderlich, außerdem Ressourcen und ein Kulturwandel. Nur so lassen sich die vielfältigen Versprechungen personalisierten Lernens mit digitalen Medien nach bestem Wissen und Gewissen einlösen. (S. 99)

Verwirrend und verschleiernd schreiben sie im nächsten Satz und ignorieren dabei ihre eigenen vorherigen Feststellungen: „Wir schließen mit der einfachen Empfehlung, sich nicht von spannenden Technologien verführen zu lassen, insbesondere wenn deren Wirksamkeit kaum belegt ist, und stets das Lernen in den Mittelpunkt zu stellen.“ (S. 99)

Marc Mattiesson, Lehrer am Städtischen Gymnasium Wermelskirchen, nimmt Stellung zu diesem manipulativen Vorgehen: Wir Lehrerinnen und Lehrer sind aufgerufen die „neoliberalen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen unserer Arbeit mitzudenken. Nur so können wir verhindern, dass unser soziales Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler instrumentalisiert wird. Voraussetzung dafür bleibt, dass wir insbesondere in Krisenzeiten wohlklingende Begriffe, forcierte Entwicklungen und uns als alternativlos präsentierte einfache Lösungen kritisch in den Blick nehmen. Sozialer Spaltung im Bildungssystem werden wir erst wieder etwas entgegenzusetzen haben, wenn Etikettenschwindel nicht mehr Schule machen kann.“ [6]

Und der Schulleiter Michael Lummel des Friedrich-Dessauer Gymnasiums in Aschaffenburg äußert sich passend zu den „nötigen Reformen“: „Wenn ich eine Reform angehe, dann brauche ich Hinweise, dass die wirklich etwas bringt. Sonst lasse ich’s.“ [7]

Fazit: Der Einsatz von Medien im Unterricht – unabhängig ob analog oder digital – unterliegt dem didaktischen und pädagogischen Urteil der Lehrkräfte sowie ihrer fachlichen Kompetenz und braucht dazu nicht die Lobbyarbeit von IT- oder Medienkonzernen oder „Unterstützung“ durch die Robert Bosch Stiftung. Beides dient der Verschleierung ganz anderer, z.B. ideologischer oder ökonomischer Interessen und schafft bewusst Verwirrung. [8]

Beitrag als PDF-Datei


[1] www.Schulforum-Berlin.de
[2] Hattie, John, (2014): Lernen sichtbarmachen für Lehrpersonen, 1. Kapitel, S. 3.
[3] Kriterien in der Tabelle festgelegt durch die Autoren des Reports
[4] kursive Schrift entspricht dem Original aus dem Forschungsbericht
[5] Wiederholend und in aggressiver Form versuchen dies auch Vertreter der Bertelsmann-Stiftung für den weltweit agierenden Bertelsmann Konzern. So fordert Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung eine „Pädagogische Revolution“ um die digitalen Medien in den Schulen unterzubringen. Die „Bildungskonzepte“ wiederholen sich. Bildung ist ihr Geschäft!
[6] Streitschrift veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW), Marc Mattiesson: „Die Geister die wir rufen…“ – Bildungspolitik und soziale Spaltung
[7] Andrej Priboschek, Deutscher Schulleiter Kongress 2019: „Was kommt heraus, wenn eine Schule sich strikt nach Hattie und Co. ausrichtet? Ein bemerkenswert traditionell arbeitendes Kollegium“. (Lummel war bis 2019 Schulleiter in Aschaffenburg.)
[8] Siehe Kommentar zum Forschungsbericht „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ in der FAZ vom 30.08.2018, Dr. Hannah Bethke, Berlin, „Digital unterstütztes Lernen:  Hundertzwanzig Seiten Verblödungslektüre.“

„Bildung“ ist ihr Geschäft!

Wem nutzt eine „digitale Revolution“ an unseren Schulen?

Dieser Beitrag wurde in modifizierter Form als Leserbrief im Tagesspiegel veröffentlicht zu einem Text von Jörg Dräger vom 22.09.2020, Bitte keine Pseudo-Digitalisierung in der Schule.

Das Unternehmen Bertelsmann mit der Bertelsmann Education Group zählt zu den zehn größten Medienunternehmen weltweit und ist genau dort tätig, wo auch seine Stiftung ihr Zukunftsthema sieht: in der Digitalisierung der Schule. „Bildung“ ist ihr Geschäft. Es wundert also den Pädagogen nicht, wenn Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, bei jeder sich ergebenden Gelegenheit zu Wort meldet:

„Digitalisierung muss […] die Pädagogik revolutionieren“. An anderer Stelle sagt er: „Die digitale Revolution an unseren Schulen ist also eine pädagogische, keine technische Revolution.“ Was heißt das konkret für den Unterricht unserer Schüler?

Nach Dräger bedarf es dazu einer „neuen Pädagogik, mit der Personalisierung des Lernens im Mittelpunkt“. Er fordert, dass die „Lerninhalte und ihre Vermittlung passgenau“ an die „Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler auszurichten“ sind. Doch die Grundlage für das sogenannte individualisierte oder personalisierte Lernen ist, dass möglichst viele Daten über jeden Schüler erfasst, vom Lernprogramm analysiert, ausgewertet und gespeichert werden („Learning Analytics“). Das verschweigt er!

Die Schüler werden von einem Algorithmus gesteuert, an ihrer Seite ein zum Coach bzw. Lernbegleiter degradierter Lehrer. Für diese „Pädagogische Revolution“ braucht es „digitale Endgeräte, Lernvideos und -software […], um die herkömmlichen Abläufe der schulischen Wissensvermittlung aufzubrechen.“ Alles andere ist für Dräger „Pseudo-Digitalisierung“.

Unter Federführung der konzernnahen Stiftung kommt den Lehrkräften und Schülern nun der Bertelsmann-Konzern mit seiner kompletten Verwertungskette für digitale Lehr- und Lernprodukte sowie einer multimedial gestalteten Lehr-Lern-Umgebung „zu Hilfe“.

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei der Digitalisierung der Schule nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft und die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten werden verschleiert. Zu diesem Vorgehen haben Schülerinnen und Schüler der Sophie-Scholl-Oberschule Berlin in einem Zeitungsbeitrag geschrieben: „Wir sind gegen die Digitalisierung von Schulen, weil wir nicht wollen, dass unsere Daten ausgekundschaftet und benutzt werden. […] Wir haben als Jugendliche das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne dass sie uns im späteren Leben zum Verhängnis werden.“

Wir brauchen keine „digitale Revolution“ an unseren Schulen nach den ökonomischen Interessen und „Bildungs“-Vorstellungen der konzernnahen Bertelsmann-Stiftung [1].

Für die Schule und den Unterricht in der Klassengemeinschaft ist festzuhalten, dass auch der Verlust von Sozialkompetenzen, sprachlichem Ausdrucksvermögen und vernetztem Denken sich gerade nicht durch die „Schul-Digitalisierungs-Revolution“ verbessern lassen – denn Lernen braucht die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden.

Ständig wiederholte Rufe nach einer „pädagogischen Revolution“ helfen hier nicht weiter!

Manfred Fischer, Lehrer. Text für Schulforum-Berlin

[1] Die Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“


Weitere Informationen:

Bertelsmann-Stiftung – „Bildung“ ist ihr Geschäft

Die Bertelsmann-Stiftung prangert regelmäßig Missstände im deutschen Schulwesen an. Das müsste Lehrergewerkschaft und -verbänden eigentlich recht sein. Ist es aber nicht. https://www.tagesspiegel.de/wissen/bertelsmann-stiftung-bildung-ist-ihr-geschaeft/14700072.html

Die Bertelsmann Stiftung wirbt intensiv für die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen. Das passt perfekt in die Strategie des gleichnamigen Konzerns: Das Bildungsgeschäft ist seine neue „Cash-Kuh“. https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Autoren der Bertelsmann-Stiftung das Land belehren wollen. Sie kommen selbstlos daher – und regen viele auf. Zurzeit zum Beispiel die Lehrer. https://www.sueddeutsche.de/bildung/gesellschaft-und-politik-das-glashaus-1.3899280-0#seite-2

Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18. Siehe auch: https://schulforum-berlin.de/das-who-is-who-der-deutschen-bildungs-digitalisierungsagenda/

Jochen Krautz (2020): Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. GBW-Flugschrift 1; Ralf Lankau (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. GBW-Flugschrift 2, https://bildung-wissen.eu/gbw-flugschriften

Die Corona-Krise zeigt, wozu die Schule eigentlich da ist

Nils B. Schulz

Dr. Nils Björn Schulz ist Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in Berlin.

Auch im Bildungsbetrieb gibt es sie: die „ewig Morgigen“. So bezeichnet der Schweizer Pädagoge Carl Bossard in Anlehnung an Erich Kästner all diejenigen, die das Neue unkritisch begrüßen: Morgen wird alles besser. Wir brauchen nur mehr Innovation, mehr Digitalisierung, mehr Kompetenzraster, gleichzeitig auch mehr Individualisierung, mehr Differenzierung, mehr selbstorganisiertes Lernen – und das alles immer schneller. Die Gegenwart ist für Modernisierungseuphoriker ein bloßes „Noch-Nicht“. Wenn irgendeine neue Unterrichtsform, Methode oder Verwaltungssoftware nicht funktioniert, dann deswegen, weil sie „noch nicht“ richtig „umgesetzt“ oder „implementiert“ ist. Der technizistische Newspeak verrät, dass es mehr um Sozialtechnokratie als um Bildung geht; und so wird nun seit dem „PISA-Schock“ eifrig reformiert und enthusiastisch digitalisiert. Viele Lehrer:innen und Schüler:innen fühlen sich seit Jahren „im Hamsterrad“ der auf Dauerreform abgestellten Neuen Lernkultur.
Jetzt aber zeigte die Schulschließung und die sukzessive Wiedereröffnung im Frühjahr, dass viele der neuen Lernformen nicht richtig funktionierten. Nicht wenige Schüler:innen waren mit der Selbstständigkeit des „Zuhause-Lernens“ völlig überfordert, obwohl doch seit zwanzig Jahren gerade darauf so viel Wert gelegt wurde. Die „ewig Morgigen“ werden erklären, viele Lehrer:innen hätten die spezifischen Kompetenzen nicht richtig trainiert. Hier gebe es Nachholbedarf. Außerdem wäre das ja eine unerwartete Situation gewesen. Man bräuchte neuere, noch offenere, noch individuellere Aufgabenformate. Und überhaupt: Die digitale Infrastruktur sei ja nicht ausreichend gewesen. Was in diesem Fall auch stimmt. Es fragt sich nur: Wofür nicht ausreichend? Hören wir nicht mehr auf die „ewig Morgigen“! Stattdessen könnten wir aus den Erfahrungen mit der Schulschließung eine schöpferische Ernüchterung verspüren, die den dynamischen Change-Prozess im Bildungssystem in Frage stellt. Mindestens vier Dinge konnte man nämlich in dieser Phase wie durch ein Brennglas wahrnehmen. 1. Schule wird vor allem als außerfamiliärer Aufenthaltsort für junge Menschen benötigt, 2. Schüler:innen brauchen zum Lernen stabile Strukturen und institutionelle Außenhalte, 3. Bildung funktioniert nur in einem leiblichen Beziehungssystem, 4. kleinere Klassen sind lern- und diskussionsförderlich.
Zum ersten Punkt: Als wahre Aufgabe der Schule nannte der Schriftsteller Georg Klein einmal ihre Aufbewahrungsfunktion. Die blanke Not der Alltagsorganisation zwinge uns, die „Energiebündel“ in die Schule zu schicken. Wir müssten unseren Nachwuchs, so Klein, „sechs oder mehr Stunden los sein, um unseren eigenen Kram mit der Welt geregelt zu bekommen“. Und auch für den Nachwuchs ist es nicht das Schlechteste, mal weg von den Eltern zu sein. Die Corona-Krise macht diese Aufbewahrungsfunktion der Schule nun überdeutlich, auch wenn der anvisierte Normalbetrieb im kommenden Schuljahr unterrichtspraktisch und pädagogisch begründet wird. Die „Lernenden“ dürften nicht zu viel Stoff verpassen. „Ziel ist es, einen geregelten, durchgehenden Lernprozess für alle Schülerinnen und Schüler im gesamten Schuljahr sicherzustellen“, so der Berliner Senat. Immerhin gilt Maskenpflicht auf den Schulfluren.
Nun zum zweiten Punkt: Manche Berliner Lehrkraft bemerkte, dass einige Mittelstufen-Schüler:innen während der Schulschließung die digital gestellten Aufgaben nicht sorgfältig oder gar nicht gemacht hatten, auch wenn die private digitale Ausstattung vorhanden war. Sicherlich haben zu viele Aufgaben für Frustration gesorgt; aber vor allem scheinen Selbstverantwortung und eigenständige Zeiteinteilung viele Schüler:innen überfordert zu haben. Es fehlte schlicht der Grenzen setzende Rahmen. Ein Vater berichtete kürzlich in der Deutschlandfunk-Sendung „Schulbeginn in Zeiten von Corona“, dass sein sechzehnjähriger Sohn die zugesandten Aufgaben ständig aufschob, weil er sich selbst keine Tagesstruktur geben konnte. In Berlin kam hinzu, dass die Schüler:innen sicher sein konnten, auch bei Nicht-Bearbeitung ihrer Aufgaben schlimmstenfalls die Halbjahresnote im Zeugnis zu erhalten. Damit fiel auch die Notenstruktur als institutioneller Orientierungsrahmen zumindest für diejenigen weg, die ihre Versetzung sicher in der Tasche hatten. Dennoch war die Entscheidung des Berliner Senats richtig, dass eine Notenverschlechterung den „Ausnahmefall“ darstellen sollte; denn die Lernbedingungen, die häuslichen Unterstützungssysteme und die Digitalausstattung der Kinder und Jugendlichen sind sehr unterschiedlich.
Es macht jedoch nachdenklich, wenn eine Lehrerin während des Inforadio-Podcasts „Schule kann mehr“ klagt, dass sie frustriert sei. Dass Noten eine solche Bedeutung für die Lernmotivation hätten, wäre ihr vor der Corona-Krise nicht so klar gewesen. Warum hatte sie andere Erwartungen? Wahrscheinlich führt die Etablierung der Neuen Lernkultur dazu, dass viele Lehrer:innen inzwischen an Change-Prozesse glauben. Sie glauben anscheinend auch daran, dass „Schule Spaß macht“, wenn sich „Lehrende“ stets innovativ „aufstellen“, wenn sie ihren Schüler:innen „auf Augenhöhe begegnen“, wenn sie ihre Methodik jedes Jahr neu anpassen und die geforderte Kompetenzorientierung mitmachen, wenn sie projektorientiert arbeiten und nach jeder Unterrichtseinheit einen Evaluationsbogen mit Smilie-System herumreichen.
Offenbar sind traditionelle Rahmenbedingungen – sowohl zeitliche als auch räumliche – und eben auch Noten als Lerngrund nötig, und zwar mehr, als es die Neue Lernkultur wahrhaben will. Vor allem aber erkennt man, dass die „aufnahmebegierigen Energiebündel“, wie sie Georg Klein nennt, ebenfalls sehr widerständig sind, vielleicht sogar erwartbar widerständig, und zwar gegenüber den neuen pädagogischen Subjektivierungsformen. Diese werden durch Etikettierungen wie „offen“, „individuell“, „selbstorganisiert“ und „selbstkompetent“ verbrämt und als solche von den Schüler:innen durchschaut. Am Ende steht eben doch die Note: auch für individuelles oder kreatives Handeln.
Da es sich nicht lohnt, in einer Leistungsgesellschaft über die Abschaffung von Noten zu debattieren, weiter zum dritten Punkt: dem Digitalisierungshype der letzten Jahre. Dass die digitale Kommunikation nicht immer funktionierte, weil Systeme zusammenbrachen, E-Mail-Postfächer voll waren, Datenschutzregeln die Nutzung bestimmter Tools verhinderten und einige Schüler:innen und auch Lehrer:innen nicht über die sogenannte digitale Infrastruktur verfügten oder sie nicht beherrschten, ist sicherlich richtig. Doch ist dies kein Argument für „noch mehr“ Digitalisierung im Bildungssystem, sondern allenfalls für stabile und datenschutzsichere Systeme, die man im Notfall eines Lockdowns benutzen kann. Auch hier ist eine nüchterne Bestandsaufnahme wichtig. Denn es wurde vor allem eine Sache deutlich, auf welche die Medienwissenschaftler Ralf Lankau und Paula Bleckmann seit Langem hinweisen: nämlich dass ein Sich-Bilden in leiblichen Beziehungen geschieht. Dauerhafte Bildschirmarbeit führt nicht nur zur Selbst- und Weltentfremdung, sondern richtet auch die Körper zu – und zwar im orthopädischen Wortsinn. Ein Thema, das zunehmend Kinderärzt:innen beschäftigt und im Übrigen auch viele Lehrer:innen im Frühjahr am eigenen Leib verspürten. Rücken-, Ischias-, Augenschmerzen …
Zudem erfuhren die Schüler:innen, dass beim „Lernen zuhause“ Computer-Spiele und Social-Messenger-Dienste nur einen Mausklick von digitalen Lernprogrammen und Aufgaben-Portalen entfernt sind und dass gerade diese Nähe ein Konzentrationshindernis ist.
Wie sehr begrüßte man schließlich die sukzessive Schulöffnung und – um zum letzten Punkt zu kommen – die reduzierten Klassengrößen, die einen lebendigen Austausch im Klassenraum zuließen, ohne dass irgendwo digitale Daten produziert, gespeichert und schlimmstenfalls kapitalistisch verwertet wurden. Der Bildungsforscher John Hattie wies darauf hin, dass bestimmte Lehrmethoden und Formen der Interaktion und des Feedback-Verhaltens wohl besser in kleineren Lerngruppen möglich seien und deswegen das Thema „Klassengröße“ weiter untersucht werden müsse. Man fragt sich jedoch, warum es dafür empirische Belege braucht.
So gab das vergangene Schuljahr einige Antworten auf die Frage: Wozu ist die Schule da? Nun, Schule ist bedeutsam als Treffpunkt für Kinder und Jugendliche. Sie ermöglicht im besten Fall gelungene Begegnungen zwischen jungen und älteren Menschen, bietet als traditioneller Lernraum einen festen Rahmen, der stabiler funktioniert als die Formate der neuen Lernkultur, entlastet Eltern und bereitet fachlich auf spätere Studiengänge und Berufe vor. Das mag lapidar klingen, ist aber nicht wenig, und dafür kann man die Schule auch schätzen.
Es überfordert doch Schüler:innen, ständig gute Leistungen erbringen und dabei stets „Spaß haben“ zu müssen, nebenbei noch „Selbstkompetenz“ und „Resilienz“ auszubilden und sich selbst im neoliberalen Sinn zu optimieren. Was von Schüler:innen verlangt wird, vor allem an Aufgaben- und Stoff-Fülle, haben in den letzten beiden Monaten des „Lernens zuhause“ vor allem die Eltern von Gymnasialschüler:innen erfahren. Denn die kompetenzorientierten und inhaltsleeren Lehrpläne führten ja nicht dazu, dass Lernstoff reduziert wurde. Er wurde in manchen Fächern nur beliebiger.
Vielleicht rührt der von vielen Schüler:innen schon seit langem empfundene Schuldruck auch daher, dass sie diese Diskrepanz zwischen Leistungsanforderungen und Spaß- und Autonomiediktat, wenn auch unbewusst, empfinden und nicht auflösen können? Fatal wäre es, wenn man jetzt weiter an der Reformschraube dreht und damit nur die kognitiven Dissonanzen erhöht. Aber dies ist wohl erwartbar – genauso wie die fortschreitende rastlose Digitalisierung. Die Change-Manager und die EdTech-Industrie wird‘s freuen.

Der Beitrag wurde am 26.08 2020 auf der Website der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. (GBW) veröffentlicht. Zum Artikel: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/die-corona-krise-zeigt-wozu-die-schule-eigentlich-da-ist.html

Er ist die ungekürzte Version eines Artikels, der am 15.8.2020 unter dem Titel „Die Coronakrise zeigt, wozu die Schule da ist“ in der „taz“ erschien: https://taz.de/Die-steile-These/!5703228/

Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.