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Auswirkungen der eingesetzten Didaktik auf die Rechtschreibleistung der Kinder

Rechtschreibung in der Grundschule – Eine empirische Untersuchung der Auswirkungen verschiedener Unterrichtsmethoden, Tobias Kuhl, April 2020

Dr. Tobias Kuhl ist als Psychologe am Lehrstuhl für Methodenlehre, Diagnostik und Evaluation der Universität Bonn tätig. Im Rahmen seiner Arbeit beschäftigt er sich maßgeblich mit empirischer Bildungsforschung, Evaluationsstudien und Hochschullehre.
Hier ein Auszug der Ergebnisse seiner Dissertation mit freundlicher Genehmigung des Autors. Buchcover und weitere Infos siehe rechte Seitenleiste der Website.

Das Lesen- und das Schreibenlernen verkörpern die ersten wirklich großen Herausforderungen innerhalb der Schullaufbahn und sind häufig mit vielfältigen Problemen verbunden (Bredel, Fuhrhop & Noack, 2017). Vielen Kindern bereitet das Rechtschreiblernen aufgrund der hohen Komplexität der Rechtschreibregeln und der zahlreichen Ausnahmen innerhalb der deutschen Schriftsprache große Schwierigkeiten (Günther, 2007). In Längsschnittstudien wurde nachgewiesen, dass sich Defizite im Bereich der Lese- und Rechtschreibkompetenz häufig in einem frühen Stadium des Lernprozesses manifestieren und über die gesamte Grundschulzeit erhalten bleiben (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1993). Folglich ist besonders der Anfangsunterricht wichtig und prägend für die Gesamtentwicklung der Rechtschreibkompetenz. (S. 4)

Im modernen Grundschulunterricht werden verschiedene Lehrmethoden eingesetzt, nach denen die Kinder das Lesen und das Schreiben lernen sollen.

Das vorrangige Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Beantwortung der nachfolgenden Fragestellung und Hypothesen (S. 67ff):

Hypothese 1: Die Rechtschreibleistungen der Grundschulkinder unterscheiden sich in Abhängigkeit von der eingesetzten Didaktik.

Da sich die drei Methoden Spracherfahrungsansatz, Lesen durch Schreiben und moderner Fibellehrgang in wesentlichen Aspekten voneinander unterscheiden (vgl. Kapitel 1.5 bis 1.7) und fachliche Diskussionen häufig nicht auf der Basis objektiv-systematischer Untersuchungen, sondern eher auf einer ideologisch-argumentativen Ebene geführt werden, soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Auswirkungen der eingesetzten Didaktik auf die Rechtschreibleistung der Kinder empirisch-wissenschaftlich fundiert zu evaluieren und vergleichend gegenüberzustellen. Hierzu soll sowohl eine Längsschnittstudie als auch eine Querschnittstudie durchgeführt werden.

Hypothese 2: Kinder, die mit Lesen durch Schreiben oder mit der Rechtschreibwerkstatt unterrichtet werden, sind intrinsisch motivierter, sich mit Schriftsprache auseinander zu setzen als Kinder, die mit einem Fibellehrgang unterrichtet werden.

Vertreter sowohl des Spracherfahrungsansatzes als auch des Ansatzes Lesen durch Schreiben postulieren, dass die offenen Lehrmethoden aufgrund des individualisierten Unterrichtsgeschehens die Motivation, sich mit Schriftsprache auseinander zu setzen, besser fördern, als es lehrgangs-orientierte Unterrichtsmethoden vermögen. Moderne Fibellehrgänge geben das jeweilige Rahmenthema vor (vgl. Kapitel 1.8); bei der Tobi Fibel (Metze, 2009) sind dies Koboldgeschichten, für die sich vielleicht nicht jedes Kind interessiert. Kinder der offenen Didaktiken dürfen sich selbstständig aussuchen, mit welchem Material sie sich beschäftigen.
Folglich sollten Fibelkinder im Durchschnitt weniger Freude beim Lesen und Schreiben empfinden als Kinder, die mit der Rechtschreibwerkstatt oder mit Lesen durch Schreiben unterrichtet werden. Darüber hinaus kann angenommen werden, dass Kinder, die sich vielleicht nicht für die vorgegebenen Lehrbuchinhalte einer Fibel interessieren, sich weniger mit Schriftsprache identifizieren und deren praktischen Alltagsnutzen als weniger hoch einschätzen als Schüler der offenen Lehrmethoden.
Diese Annahme soll in der vorliegenden Arbeit empirisch im Querschnitt geprüft werden. Der Fokus liegt hierbei auf der Lese- und Schreibfreude sowie auf dem wahrgenommenen Wert des Schreibens (vgl. Kapitel 1.9).

Hypothese 3: Werden Kinder mit Lesen durch Schreiben oder mit der Rechtschreibwerkstatt unterrichtet, beschäftigen sie sich auf der Verhaltensebene in ihrer Freizeit mehr mit Schriftsprache als Kinder, die mit einem Fibellehrgang unterrichtet werden.

Der offene Unterricht mittels des Spracherfahrungsansatzes oder Lesen durch Schreiben soll die Kinder dazu anregen, sich selbstständig mit Schriftsprache zu beschäftigen. So soll ihre intrinsische Motivation stärker geweckt werden können, als es Fibelwerke vermögen (vgl. Hypothese 2). Da Motivation und Handlung eng miteinander verknüpft sind (vgl. Kapitel 1.9), erscheint die Annahme naheliegend, dass mit offenen Methoden unterrichtete Kinder in ihrer Freizeit häufiger lesen und schreiben als Fibelkinder.

Hypothese 4: Grundschulkinder üben außerhalb der Schule in Abhängigkeit von der eingesetzten Didaktik unterschiedlich häufig Lesen und Schreiben.

Neben der Untersuchung des Schreib- und Leseverhaltens als Freizeitvergnügen ist es interessant, die Auswirkungen der verschiedenen Didaktiken dahingehend zu untersuchen, ob Grundschulkinder in Abhängigkeit von der eingesetzten Unterrichtsmethode im Fach Deutsch zuhause mit ihren Eltern unterschiedlich viel üben (müssen). Zwar verbietet Reichen (1992) in seiner Methode Lesen durch Schreiben explizites Üben, es kann gleichwohl unterstellt werden, dass sich nicht alle Eltern an diese Weisung halten, da sie davon ausgehen, ihr Kind profitiere von Übungen. Graf Orthos Rechtschreibwerkstatt und gängige Fibelmethoden verbieten Eltern das Üben mit ihren Kindern nicht und stellen ergänzendes Material zu diesem Zweck bereit (Metze, 2014; Sommer-Stumpenhorst, 2014e).

Hypothese 5: Das didaktische Leitmedium im Grundschul-Deutschunterricht beeinflusst die Lesepräferenz der Kinder.

Da die verschiedenen Lehrmethoden die Schüler unterschiedlich an das Lesen heranführen, könnte dies dazu führen, dass sich Kinder in Abhängigkeit von der eingesetzten Didaktik eher mit Büchern mit viel Text oder mit Literatur mit vielen Bildern beschäftigen. Eine explorative Untersuchung dieser Annahme könnte Erkenntnisse aus Hypothese 2, die der Frage nachgeht, wie gerne die Grundschüler lesen, thematisch ergänzen. (S. 67ff)

Überblick über die Ergebnisse der Längsschnittstudie

Die Varianzanalysen bescheinigten der Fibelgruppe eine signifikante Überlegenheit gegenüber den beiden anderen Didaktikgruppen. Die längsschnittliche Analyse zeigte auf, dass die Fibelkinder zu allen fünf Messzeitpunkten der Rechtschreibtestungen mittels der Hamburger Schreib-Probe signifikant bessere Leistungen mit meist großem Effekt im Vergleich zu den Gruppen erbracht hatten, die mit der Rechtschreibwerkstatt oder der Methode Lesen durch Schreiben unterrichtet worden waren. Rechtschreibwerkstatt- und Lesen durch Schreiben-Kinder unterschieden sich zu keinem Zeitpunkt signifikant in ihren Leistungen. (S. 105)

Abbildung 17, Seite 106, Ergebnisse des Längsschnitts Rechtschreibleistung (Graphemtreffer) nach z-Standardisierung (Kuhl & Röhr-Sendelmeier, 2018b)

Die Fibelmethode ist den beiden offenen Methoden Rechtschreibwerkstatt (Spracherfahrungsansatz) und Lesen durch Schreiben hinsichtlich des Lernerfolgs der Schüler überlegen. Dieses Ergebnis fügt sich nahtlos in die internationale Forschungslage ein: Die Annahme der Reformpädagogen, offene Unterrichtssettings seien einer lehrgangsgebundenen Fibelmethode überlegen, hält einer empirischen Überprüfung nicht stand. Zum erfolgreichen Lernen benötigen sehr viele Kinder direkte Instruktionen durch den Lehrer (Ehri et al., 2001; Fan, 1993; Foorman et al., 1998; Hattie, 2014). Regelvermittlung, konstruktive Rückmeldungen und Fehlerkorrekturen durch die Lehrperson führen auch in internationalen Studien nachweislich zu einer erheblichen Verbesserung der Schulleistung aller Kinder (Hattie, 2014; Sadler, 1989). Insbesondere Risikokinder profitieren außerordentlich stark von solchen direkten und spezifischen Instruktionen durch die Lehrkraft (Swanson et al., 1999; Thomé & Eichler, 2004; White, 1988). (S. 138f)

Grundsätzlich ist die Entwicklung neuer Lehrmethoden zu begrüßen. Die Gesellschaft befindet sich in einem permanenten Wandel und Lehrer sehen sich häufig mit neuen Problemen und Aufgaben konfrontiert. Basierend auf den vorliegenden Erkenntnissen sollte hinterfragt werden, ob es zielführend ist, dass Unterricht ohne solide empirische Basis flächendeckend reformiert wird. In der medizinischen Forschung wäre der Einsatz von Medikamenten ohne aufwändige Studien und Zulassungsverfahren undenkbar. An diesen Standards sollte sich die Pädagogik messen. Die Konzeption neuer Unterrichtsmethoden sollte zukünftig idealer Weise durch multiprofessionelle Teams erfolgen, um Fachwissen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu bündeln und zu integrieren, damit die Chancen auf möglichst hohe Erfolge maximiert werden. (S. 142)

Grau unterlegte Einschübe sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Eine gute Übersicht und Zusammenfassung der Studie durch die Universität Bonn, Institut für Psychologie unter: https://www.psychologie.uni-bonn.de/de/unser-institut/abteilungen/methodenlehre-und-diagnostik/mitarbeiter-1/m.sc.-tobias-kuhl-1/poster-buko-rechtschreiberfolg-nach-unterschiedlichen-didaktiken-21.09.2018

Weiter Informationen zu „Lesen und Schreiben“: https://schulforum-berlin.de/category/schule-lesen-und-schreiben/

Wo „hart arbeiten und freundlich sein“ Teil des Lehrplans sind.

Bericht über eine „Brennpunktschule“ im Norden Londons.
Der Schulalltag „ist darauf ausgerichtet, das Lernen zu maximieren und Ablenkung zu minimieren.“

Bericht von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher. Er ist bei der OECD Direktor des Direktorats für Bildung. [siehe Anmerkung am Schluss des Berichts]

[…] Ein Ort, der seinen Erfolg auf lehrergeleiteten Unterricht aufgebaut hat, ist die Michaela Community School im Wembley Park, einem benachteiligten Viertel im Norden Londons. In jedem Klassenzimmer, das ich beobachtete, machten die Lehrer die Lernziele deutlich, strukturierten ihren Unterricht klar und stellten interessante Fragen, die das Denken höherer Ordnung anregten. Es wurde keine Zeit verschwendet, da die Schüler genau wussten, was sie zu erwarten hatten. Es gab kein Auswendiglernen, das Menschen oft mit lehrergesteuertem Unterricht in Verbindung bringen. Alle Schüler wurden in jedem Moment aufgefordert, alternative Wege zu finden, um Probleme zu lösen und ihre Denkprozesse und Ergebnisse kurz und bündig zu kommunizieren. Und weil die Schüler von Michaela vom ersten Tag an lernen, wie man lernt und hart arbeitet, müssen sie am Ende nicht mehr für die Prüfung üben und verlieren wertvolle Zeit bei der Prüfungsvorbereitung. Es überrascht nicht, dass die GCSE-Prüfungsergebnisse [1] bei Michaela sehr gut sind und Ofsted [2], das Büro für Bildungsstandards der britischen Regierung, die Qualität der Bildung als herausragend anerkennt, was man in dieser Nachbarschaft nicht oft sieht. […]

Die Schulbildung bei Michaela baut auf dem Verständnis auf, dass das Lernen sequentiell ist und dass die Beherrschung früherer Aufgaben die Grundlage für die Kompetenz in nachfolgenden Aufgaben ist. Für Lehrer bedeutet dies, dass sie nicht die Lernziele variieren, die für die gesamte Klasse gelten, sondern dass sie alles tun, um sicherzustellen, dass jeder Schüler die Möglichkeit hat, das Material auf eine für ihn oder sie angemessene Weise zu lernen. In einer der von mir beobachteten Mathematikstunden bot eine Lehrerin einem der Kinder drei Möglichkeiten an, ihr Verständnis von Brüchen zu festigen. Und indem sie sie bat, ihre Denkprozesse zu erklären, machten nicht nur der Schüler, sondern die ganze Klasse Fortschritte. Da es allen Schülern gelingt, jede aufeinanderfolgende Aufgabe zu erledigen, ist das Ergebnis weniger Variation und ein schwächerer Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds auf die Lernergebnisse. […]

Während der lehrergesteuerte Unterricht ein wichtiger Bestandteil der Unterrichtspraxis in der Michaela Community School ist, geht es nicht nur darum, Fakten und Zahlen zu reproduzieren, sondern basiert auf dem Verständnis, dass eine breite und vielfältige Wissensbasis die Grundlage für die Entwicklung einer informierten und differenzierten Meinung ist. Ich habe das während des Schulessens gesehen, als ich mit einer Gruppe von Sechstklässlern an einem „Familientisch“ gegessen habe. Die Kinder waren wach, neugierig und fürsorglich. Sie kamen aus sehr unterschiedlichen ethnischen und sozialen Verhältnissen, teilten eine Identität über das Lernen und waren sehr stolz auf ihre Schule. Sie diskutierten beim Mittagessen das Thema des Tages – was es braucht, um einen Marathon zu laufen – mit dem gleichen Interesse und der gleichen Energie, mit der sie mich mit Fragen über mein Leben und meine Ausbildung überhäuften. Die hohen Anforderungen, die die Schule an sie stellt, haben sie nicht ängstlich, sondern ehrgeiziger gemacht. Sie zielen auf Oxford und Cambridge. Sie hörten mir und einander aufmerksam zu und kümmerten sich darum, dass wir alle genug zu essen hatten. Nachdem die Teller abgeräumt waren, drückten die Kinder von jedem Tisch ihren Klassenkameraden, Lehrern und Eltern ihre „Wertschätzung“ aus und dankten demjenigen, der ihnen besonders geholfen hat.

Als ich Katharine Birbalsingh, die Direktorin und Gründerin von Michaela, nach dem Mittagessen traf, fasste sie die Fähigkeiten, die sie unter diesen Kindern entwickeln möchte, als „hart arbeiten und freundlich sein“ zusammen, ein Streben, das ebenso mächtig wie einfach ist. Die Schüler müssen verstehen, dass Erfolg harte Arbeit erfordert, aber Michaela sorgt auch dafür, dass Schüler, die Probleme haben, die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Disziplin ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Jedes Detail des Schultages ist darauf ausgerichtet, das Lernen zu maximieren und Ablenkung zu minimieren. […]

Disziplin [wird] durch Struktur, Vorhersehbarkeit und Eigenverantwortung erreicht. Die Kinder, die ich traf, wirkten glücklich und selbstbewusst. Und das stimmt wiederum mit einer der wichtigsten Lehren aus PISA überein: Ein positives Disziplinarklima ist eine der besten Prognosen für bessere Bildung und soziale Ergebnisse. Kinder schätzen ein schulisches Umfeld, in dem Mobbing ungewöhnlich ist, in dem sie sich nicht unbehaglich oder fehl am Platz fühlen und in dem der Aufbau echter und respektvoller Beziehungen zu Lehrern die Norm ist. […]

Die Schulleiterin Birbalsingh hörte sich die Forschungsergebnisse von PISA mit großem Interesse an, gründete ihre Schule jedoch auf etwas Einfacherem: dem gesunden Menschenverstand.

[1] GCSE = General Certificate of Secondary Education entsprechen in England, Wales und Nordirland etwa dem deutschen mittleren Schulabschluss (MSA). Das GCSE gilt im britischen Schulsystem als die wichtigste Abschlussprüfung für die Sekundarstufe I.
[2] Ofsted, Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills

Übersetzt aus: OECD Education, Where “working hard and being kind” are part of the curriculum, 20.11.2019, Bericht von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher. Er ist bei der OECD Direktor des Direktorats für Bildung


Anmerkung durch Schulforum-Berlin:

Die Verfasser der von Schleicher erwähnten Pisa-Studie [1] führen weiter aus: „Eine bessere Ausstattung in der Schule hilft, aber nur, wenn sie den Lernprozess effektiv verbessert und das Gemeinschaftsgefühl stärkt.“ Außerdem wird festgestellt, dass eine bessere Ausstattung mit Computern gerade bei sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern nicht mit besseren Leistungen einhergeht. (S.8)

Natürlich kennt Schleicher auch dieses Ergebnis der Studie, das er jedoch in einem aktuellen Interview [2] bewusst verschweigt, denn er sagt: „Die deutschen Schulen sind beim digitalen Lernen [3] weit zurück, das rächt sich jetzt.“ Er führt weiter aus, wie die „Möglichkeiten der Digitalisierung“ genutzt werden sollen. So sind „durch Technik nicht nur herkömmliche Bildungsprozesse effizienter zu gestalten, sondern völlig neue Lernumgebungen zu entwickeln“, und er gibt als Lösung vor, dass diese „das Lernen spannender, relevanter, interaktiver und individueller machen.“ Sein Credo lautet: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“

Wie weit ist doch seine Argumentation von den Ergebnissen der genannten Pisa-Studie sowie den überragenden Ergebnissen der Schulpraxis der von Schleicher geschilderten Michaela Community School entfernt.

Nicht erst seit der Initiierung der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ [4] durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2015 wird deutlich, dass internationale IT- und Medienkonzerne – mit kompletter Verwertungskette für IT-Geräte und digitale Lern-Produkte – die Rolle als Richtungsgeber bei den Akteuren der Digitalisierung von Bildung eingenommen haben. [5] Anzumerken ist auch, dass die OECD keine Bildungsvereinigung ist sondern die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Der Bildungsmarkt hat weltweit ein Volumen von 5 Billionen US-Dollar. [6] Es geht also um ein riesiges Geschäft!

Unter diesen ökonomischen Vorgaben ist wenig Hoffnung, dass Schleicher mit dem Finger auf das „Zentrale Ergebnis der Studie“ hinweist: „Ein positives Schul- und Unterrichtsklima ist ein Schlüsselfaktor für Resilienz.“ (S. 9)

Viele Schülerinnen und Schüler haben seit Jahren besorgniserregende schlechte Leistungsergebnisse in den Basiskompetenzen Rechnen, Schreiben und Lesen. Auch ist ein zunehmender Verlust von Sozialkompetenzen, sprachlichem Ausdrucksvermögen und vernetztem Denken festzustellen. All das lässt sich durch die „Digitalisierung“ nicht verbessern – denn Lernen braucht Beziehung. [7]

[1] Erfolgsfaktor RESILIENZ – Warum manche Jugendliche trotz schwieriger Startbedingungen in der Schule erfolgreich sind – und wie Schulerfolg auch bei allen anderen Schülerinnen und Schülern gefördert werden kann. Eine PISA-Sonderauswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Kooperation mit der Vodafone Stiftung Deutschland.
[2] Interview im Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.02.2020
[3] Kritisch ist anzumerken, dass die Bezeichnung „digitales Lernen“ irreführend ist und eher als positiv konnotiertes, euphemistisches Synonym für die Einführung digitaler Lehr- und Lernmittel im Diskurs genutzt wird [vgl. Förschler, Annina], so auch von Schleicher.
[4] BMBF, Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten. Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“
[5] Förschler, Annina (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52. (siehe Bücherliste)
„[D]er Diskurs [wird] über das Veröffentlichen von Strategie- und Positionspapieren, Handlungsempfehlungen, öffentlichwirksamen Studien und Online-Auftritten wirkmächtig beeinflusst und (mit)gestaltet und (auch) darüber Einfluss auf bildungspolitische Entscheidungen und Agenden-Ausrichtungen genommen.“ (ebd. S. 46)
[6] Handelsblatt, 21.10.2014, Relias Learning – Bertelsmann erweitert Bildungsgeschäft mit USA-Zukauf
[7] Krautz, Jochen (2020): Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht, Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.


Die Ergebnisse der Michaela Community School zählen zu den besten des Landes.

Die GCSE-Ergebnisse der Michaela Community School, die viermal besser waren als der nationale Durchschnitt, waren die ersten, über die seit ihrer Eröffnung vor fünf Jahren im Rahmen des Programms für freie Schulen berichtet wurden. Gavin Williamson, der Bildungssekretär, sagte, dass „erstaunliche Ergebnisse“ von den freien Schulen erzielt wurden und fügte hinzu: „Wir haben echte Erneuerungen gesehen, echte Veränderungen, und das führt tatsächlich zu besseren Ergebnissen in einigen der am stärksten benachteiligten Teile des Landes.“ (übersetzt aus: Telegraph, 17.10.2019, Camilla Turner, More than half of state school pupils failing to achieve ’strong pass‘ in English and maths GCSEs.)


siehe auch:
Auf dieser Berliner Schule herrschen klare Regeln
„Die Schüler wissen, dass wir sehr konsequent handeln würden“
Schulleiter Michael Rudolph legt bei seinen Schülern Wert auf Disziplin. Und hat damit offenbar Erfolg.

Viele Kinder sind „eigentlich nicht beschulbar“

Der Grundschule werden immer mehr Erziehungsaufgaben aufgebürdet. Julia Petry ist gerne Grundschullehrerin. Doch die Schwierigkeiten würden immer mehr, sagt die Pädagogin. […]

Deutschlandfunk Kultur, 09.03.2020, Julia Petry im Gespräch mit Dieter Kassel

Eine Stunde mehr pro Woche sollen bayerische Grundschullehrerinnen und –lehrer nach dem Willen des bayerischen Kultusministeriums künftig unterrichten. Für die Grundschullehrerin Julia Petry war diese Ankündigung der Anlass, in einem offenen Brief auf Facebook ihren Unmut auszudrücken. Nicht nur über die aktuelle Maßnahme, sondern generell über die immer schwieriger werdende Situation von Grundschullehrern. […]

[I]n den letzten Jahren habe die Zahl der Kinder mit emotionalen oder sozialen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten extrem zugenommen: „Das heißt, sie können sich nicht konzentrieren, kaum zuhören, Stillsitzen fällt wahnsinnig schwer. Es gibt unglaublich viele Konflikte, die ausgetragen werden, und es fällt einfach diesen Kindern wahnsinnig schwer, sich zurückzunehmen.“

„Konnte man vielleicht in der Vergangenheit davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der Schüler den Anforderungen der Schule gewachsen ist, so finden sich heute massiv viele Kinder in den Klassenzimmern, die in diesem Rahmen eigentlich nicht beschulbar sind. Sei es, dass Kind A von klein auf Stunde um Stunde vor der Playstation verbracht und keinerlei Lust auf den ‚anstrengenden‘ Unterricht hat, weil sein Gehirn, sein Belohnungszentrum bereits auf Videospiel-Niveau konditioniert ist. Sei es, weil Kind B zu Hause keine Zuneigung und Strukturen erfahren hat und dementsprechend in einem Sozialverbund, der Rücksichtnahme und Empathie erfordert, gänzlich verloren ist. Sei es, dass Kind C mit Eltern aufwächst, die nur vor dem Smartphone hängen – aus welchen Gründen auch immer – was beim Kind in einer extremen Sprachentwicklungsstörung resultiert. Hinzu kommen dann noch die Kinder, die – weil Erziehen nun durchaus eine anstrengende Sache ist – überhaupt keine Grenzen kennen und alles dürfen, die gar nicht gelernt haben, sich auch einmal zurückzunehmen. Diese Herausforderung wird nun in vielen Fällen auf die Schule übertragen und an die Lehrkraft übergeben, denn diese werde es schon richten, in der Schule werde das Kind schon Anstand lernen.“ (Aus Julia Petrys offenem Brief)

Petry vermutet die Ursache für diese Entwicklung in den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, vor allem in der Mediennutzung. „Ein Kind, was es jetzt beispielsweise gewöhnt ist, von klein auf die Zeit vor Fernseher und Tablet zu verbringen, wird natürlich eine andere Motivation vielleicht entwickeln für die Schule, andere Voraussetzungen entwickeln als ein Kind, dem regelmäßig vorgelesen wird oder das viel an der frischen Luft spielen kann.“

Verhaltensauffällige Kinder hätten Auswirkungen auf den gesamten Unterrichtsalltag, betont die Lehrerin. Denn man wolle sich natürlich diesen Kindern zuwenden und ihnen gerecht werden. „Aber auch den anderen Kindern muss man ja noch gerecht werden. Und das ist eigentlich das, was das Unterrichten gerade so schwierig macht.“

Die gesellschaftlichen Veränderungen spiegeln sich offenbar auch in der Elternarbeit wider. Auf der einen Seite gebe es die Eltern, für die es „sehr wichtig“ sei, was in der Schule passiere. „Viele Eltern fragen wöchentlich oder alle zwei Wochen nach, wie es steht“, sagt Petry. 

„Und auf der anderen Seite haben wir die Eltern, die vielleicht den Schwerpunkt zu Hause nicht so sehr auf die Schule setzen, wo dann die Elternarbeit deshalb schwierig wird, weil man sie erreichen muss – oder eben noch zusammen mit anderen Behörden zusammenwirken muss, um halt da die Kinder so richtig in die Schule mit einzubinden.“

„Elternarbeit: ‚Dafür gibt es doch die Sprechstunde‘, werden Sie sagen. Was aber, wenn Klein-Heinzi jeden Tag andere Kinder verprügelt und man deshalb täglich in den Pausen oder nach Schulschluss mit der Mutter telefonieren muss? Was aber, wenn Klein-Jutta schon morgens vor der Schule weint und man deshalb jeden Tag zusammen mit den Eltern eine Viertelstunde früher anfängt, um das Kind zu beruhigen? Was aber, wenn Klein-Ole mit der familiären Situation wegen Scheidung/ Trennung etc. überhaupt nicht zurecht kommt, dies in der Schule kompensiert und man darum ständig in Kontakt mit beiden Eltern, Jugendamt, Schulpsychologen ist? Was aber, wenn Klein-Mahmud schwer traumatisiert ist und man durch wöchentliche Treffen mit den Betreuern und den Eltern versucht, Hilfe zu organisieren? Was aber, wenn Klein-Heidi eine Vierfachdiagnose hat und man aus diesem Grund eigentlich jeden Tag mit dem Vater kommunizieren müsste und immer wieder Hilfeplangespräche mit anderen Behörden stattfinden?“ (Aus dem offenen Brief)

[E]s gibt Kollegen, die es noch härter trifft.

„Stichpunkt Inklusion: Sollte man – und dies betrifft mittlerweile keineswegs nur noch Ausnahmefälle – ein oder mehrere gehandicappte Schüler in der Klasse haben, darf man für dieses Kind/ diese Kinder eigene, mit den Klassenzielen nicht übereinstimmende Förderpläne schreiben, besonderes Unterrichtsmaterial erstellen, versuchen, im ohnehin schon randvoll gepackten Klassenraum in ohnehin schon randvoll gepackten Unterrichtsminuten zu unterstützen und zu fördern, und überdies noch mit der Schulbegleitung, dem Förderzentrum, dem Jugendamt etc. engstens kooperieren.
Vielleicht hat man dann noch das „Glück“, in einer Jahrgangsmischung zu unterrichten – einer Sparmaßnahme, die als tolles pädagogisches Projekt verkauft wird – bedeutet dies für den Lehrer aber vor allem sehr viel Mehrarbeit, schließlich muss ja der Unterricht für die 13 Erstklässler und die 15 Zweitklässler vorbereitet werden.“ (Aus dem offenen Brief)

Von den Behörden wünscht sich Petry mehr Sensibilität für die gestiegene Belastung. „Wir möchten allen Kindern gerecht werden“, betont sie. „Das ist natürlich immer eine schwierige Angelegenheit. Aber je schwieriger sozusagen die Voraussetzungen sind, umso weniger können wir eigentlich dieses hohe Ideal erfüllen, das wir uns alle gesetzt haben.“

aus: Deutschlandfunk Kultur, 09.03.2020, Julia Petry im Gespräch mit Dieter Kassel

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.

Schule ohne Lehrer

Lehrer einsparen und mehr auf E-Learning-Kurse setzen? Die Schülerschaft ist nicht begeistert. Unter Lehrern sorgt das Vorhaben für Unmut.

FAZ, 01.02.2020, Jessica von Blazekovic, Wirtschaftsredakteurin bei FAZ.NET.

[…] Mitte Januar berichtete die Tageszeitung „Toronto Star“ über Pläne der Provinzregierung, das Budget der Schulen in Ontario bis zum Jahr 2023 deutlich zu beschneiden – indem Lehrer durch Computer ersetzt werden. Das Bildungsministerium orientiert sich dabei nach eigenen Angaben an einem Modell, wie es schon in den republikanisch regierten amerikanischen Bundesstaaten Alabama und Arkansas praktiziert wird.

Karikatur von Heiko Sakurai, Veröffentlichung auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung

Die Schulen in Ontario sollen demnach den Anteil der Schüler in E-Learning-Kursen in den kommenden Jahren „stufenweise hochfahren“, um Kosten zu sparen. In den internen Dokumenten werde sogar mit der Idee gespielt, ab September 2024 reine Online-Schulabschlüsse anzubieten. Mit dieser Maßnahme soll ab Herbst 2020 jedes Jahr ein wachsender zweistelliger Millionenbetrag an Fördergeldern eingespart werden, von rund 35 Millionen Dollar in diesem Jahr bis auf mehr als 57 Millionen Dollar ab dem Schuljahr 2023/24. Und nicht nur das: Wie die Zeitung weiter berichtet, will die Regierung von Ontarios Premierminister Doug Ford das Online-Curriculum sogar an Schüler aus anderen Provinzen vermarkten und prüfen, ob Lizenzen verkauft werden können. Das Bildungsministerium der Provinz bestätigte die Existenz der Dokumente, dementierte aber, dass es Pläne zur Privatisierung der Online-Kurse gebe.

Unter Lehrern sorgt das Vorhaben für Unmut

„Für mich sieht es ganz danach aus, als ob jemand nach Wegen suchen würde, Geld zu sparen, anstatt den Kindern das zu geben, was sie wirklich brauchen“, schrieb Harvey Bischof, Präsident eines Lehrerverbands in Ontario, in dem Kurznachrichtendienst Twitter. Premier Fords Regierung hatte immer wieder beteuert, die Pläne, E-Learning an Schulen verpflichtend zu machen, dienten allein den Schülern [!] und nicht dem Zweck, Geld einzusparen. Bischof fügte hinzu, die Idee, einen Schulabschluss komplett online zu erwerben, sei besonders „bizarr“.

Positive Lerneffekte sind nicht möglich.
Das hat nicht zuletzt die weltweite Hattie-Studie bewiesen: Nicht Technik entscheidet über den Lernerfolg, sondern in erster Linie die Persönlichkeit des Lehrers. […] Zentral bei jeder Lernerfahrung sind die zwischenmenschliche Interaktion, die spontanen Diskussionen im Unterricht sowie das gemeinsame Lernen in Gruppen. Face-to-Face bleibt unschlagbar, wenn ein begeisternder Lehrer mit seinen Schülern arbeitet. Da kann kein MOOC [Massive Open Online Course] aus Harvard mithalten! (Prof. Dr. Gerald Lembke, Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim)

Schüler gegen den Plan

Wie eine Umfrage der studentischen Interessengruppe OSTA-AECO aus Ontario nun zeigt, halten auch die Schüler nichts von dem Vorstoß. 94,5 Prozent missbilligen demnach die Regierungspläne. Befragt wurden 6000 Schüler der Klassen 8 bis 12 an 60 staatlichen und katholischen Einrichtungen. Die Mehrheit (60 Prozent) der Schüler gab an, die bestehenden Online-Lernangebote würden ihr Lernverhalten nicht hinreichend unterstützen. Jeder Vierte hat demnach Schwierigkeiten, seine E-Learning-Lehrer bei Fragen zu kontaktieren, 35 Prozent sagten, sie hätten Probleme bei der Nutzung der Lernsoftware. OSTA-AECO zufolge würden schätzungsweise 90.000 Schüler in Ontario ihren High-School-Abschluss nicht schaffen, wären sie dazu verpflichtet, Online-Kurse zu belegen.

zum Artikel: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/schule-ohne-lehrer-eine-provinz-in-kanada-macht-ernst-16609474.html
Eingefügte Karikatur mit freundlicher Genehmigung von Heiko Sakurai.
Textauswahl in grau unterlegtem Einschub und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Ist die Gemeinschaftsschule am Ende? – „Notenfreier Scheinerfolg bis Klasse 8“

„Ich bin als Sozialarbeiter geendet“

Gymnasiallehrer an Gemeinschaftsschulen (GMS) in Baden-Württemberg laufen Sturm.

FAZ, 13.02.2020, Heike Schmoll, Berlin

„Wenn ich Leistungsnachweise schreiben lasse oder gar Tests, dann werfen Schüler mir die Arbeit entgegen und meinen, dass ihnen ohnehin nichts passiere, wenn sie nicht mitschrieben.“ Das ist kein Bericht aus einer Berliner Brennpunktschule, sondern die Stimme eines Gymnasiallehrers an einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Der Wegfall der Noten und der Versetzungsordnung bewirkten, dass Schüler eine große Gleichgültigkeit entwickelten, „sie lernen nicht und besitzen auch keine Arbeitsdisziplin“.

Praktisch durchgängig werden von den Lehrkräften massive Disziplinprobleme in den Lerngruppen und während der selbstorganisierten Arbeitszeit beklagt, die ein effektives Lernen teilweise unmöglich machen.
[Textauswahl in grau unterlegten Einschüben aus der Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württembergs.]

Schüler könnten „Klassenarbeiten nach einem Nichtbestehen identisch wiederholen, so dass dann die Ergebnisse stimmen“, so ein weiterer Lehrer, nach dessen Aussage auch die Vergleichsarbeiten des VERA-Tests für die achte Jahrgangsstufe hochkorrigiert wurden.

Einige Lehrer schildern bezüglich der Anmeldenoten zur Abschlussprüfung bzw. für die VERA-Tests die klare Aufforderung ihrer Schulleitung, die Noten zu schönen. Die Ergebnisse der Mittlere-Reife-Prüfungen der GMS bestätigen diesen schweren Vorwurf: So liegt die durchschnittliche Anmeldenote in Mathematik landesweit bei 3,2, während die in der schriftlichen Prüfung erzielte Note im Durchschnitt nur 3,9 beträgt. Rund ein Viertel der GMS-Schüler erreicht in der schriftlichen Mathematik-Abschluss-Prüfung nicht die Note „ausreichend“.

Statt Zensuren und Zeugnissen gibt es sogenannte Lernentwicklungsberichte, die nicht „aussagekräftig“ seien und von den Eltern und den Schülern nicht verstanden würden.

Die Verbalbeurteilungen der Schülerinnen und Schüler werden von vielen Kindern und Eltern nicht verstanden, da sie in der Regel sehr wohlwollend und ermutigend formuliert werden. Noten gibt es an den meisten GMS erst ab Klasse 9. Kinder, die auf Basisniveau lernen und ihre Eltern erliegen so teilweise bis zur 8. Klasse der Illusion, sie würden auf die Oberstufe und das Abitur vorbereitet.

Sehr viele Hauptfächer müssten fachfremd unterrichtet werden, so die einhellige Beobachtung der Gemeinschaftsschullehrer mit gymnasialer Ausbildung, die aus Angst vor Konsequenzen anonym an den Philologenverband Baden-Württemberg berichtet haben. „Ich bin bewusst Gymnasiallehrer geworden und endete nun als Sozialarbeiter.“ Viele der Kinder seien „Schulverweigerer, die beim geringsten Anlass aus der Schule wegrennen, sich komplett verweigern, schreien, weinen, Mitschüler und Lehrer treten“. Es gehe nicht mehr um Wissens- und Kompetenzvermittlung, sondern nur noch darum, die Klasse zu bändigen, so ein weiterer Lehrer, der die Gemeinschaftsschule als Schulart für gescheitert erklärt. […]

Für die größtenteils stark verhaltensauffälligen Kinder mit großen Lernschwierigkeiten seien die individuellen Lernzeiten als offene Lernform völlig ungeeignet. „Die Schüler nehmen sich nur das Thema, auf das sie ,Bock haben‘, und so geschieht es, dass Themen der Grammatik und Rechtschreibung nie bearbeitet werden“, berichtet ein Lehrer, denn manche Schüler bearbeiteten im gesamten Schuljahr nur zwei Themen. „Einfachheitshalber kann man den Schülern Lösungsblätter geben, damit sie sich selbständig kontrollieren, was in der Praxis meist darauf hinausläuft, dass sie einfach fehlende Stellen abschreiben.“

In Baden-Württemberg wurde 2012 mit den ersten 41 GMS [inzwischen sind es 306 öffentliche und 123 private] ein pädagogisches Konzept eingeführt . Ein Konzept, in dem Lehrer zu „Lernbegleitern“ degradiert werden und Schüler sich nach kurzen inhaltlichen Inputs den gesamten Stoff selbst erarbeiten sollen. Dieses Konzept ist insbesondere für schwächere Schüler – die an der GMS die Mehrheit stellen – völlig ungeeignet. Die schwächsten Schüler benötigen gerade die engste und intensivste Führung und Betreuung. Dies wurde auch in der WissGem-Studie, der Begleitstudie zur Evaluation der Gemeinschaftsschulen, genauso festgestellt. Im Übrigen sparte die Studie dieses neuen Konzepts in ihren Untersuchungen die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler praktisch vollständig aus.

Wenn die Gemeinschaftsschule so weitergeführt werde, „erziehen wir unsere Schüler zu überforderten Frustrierten“, heißt es in einem der Berichte. Das selbstorganisierte Lernen sei für schwache Schüler fatal. Das deckt sich mit Erkenntnissen der Lernforschung, die den lehrergeleiteten Unterricht für schwache Schüler als effektivste Form der Lehre identifiziert hat.

„Die Lernstandserhebung in Klasse fünf zeigt regelmäßig, dass sich die meisten Schüler deutlich unterhalb des Hauptschulniveaus bewegen“, heißt es. Zu 80 bis 90 Prozent bestehe die Schülerschaft aus Förder- und Hauptschülern. Doch an Sonderpädagogen fehlt es, berichten alle an Gemeinschaftsschulen unterrichtenden Gymnasiallehrer. […]

Der Wegfall von Noten und Versetzung, Lernentwicklungsberichte, keine äußere Differenzierung, Mobbing von Gymnasiallehrern durch Hauptschulkollegen, eine überforderte Schulleitung sowie die Beschönigung von Anmeldenoten seien Alltag, so das Fazit der Betroffenen. […]

Der PhV-Vorsitzende Ralf Scholl erklärt dazu: „Hier wird aus ideologischen Gründen („Eine Schule für alle“) ein ungedeckter Scheck auf Kosten einer ganzen Schülergeneration ausgestellt. Die GMS sind bislang jeden Erfolgsbeweis schuldig geblieben, dass sie — trotz wesentlich höherer Kosten — auch nur einen Deut besser sind als die klassischen Schulformen. (Die GMS erhalten einen Sachkostenzuschuss von über 1.300 € pro Schüler und Jahr im Vergleich zu rund 800 € für Schüler an Gymnasien und Realschulen).

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben aus der Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württembergs. Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: FAZ, 13.02.2020, Heike Schmoll, Berlin, „Ich bin als Sozialarbeiter geendet“.
zur Pressemitteilung: Philologenverband BW, 12.02.2020
siehe auch: Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider? Zum Abschlussbericht Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen. Eine Auftragsstudie soll das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Berliner Gemeinschaftsschulen legitimieren.

siehe auch: 2020.02.18_Pressemitteilung_3xMEHR_Gemeinschaftsschulkritik

„Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden“

Lehrmethoden: Fehler sollen wieder korrigiert werden

Bereits am 24.04.2019 schrieb Heike Schmoll zu diesem Thema in der FAZ:

Diesen Zettel hat eine Grundschülerin am Ende der ersten Klasse an ihre Zimmertür gehängt. Wenn Grundschulkinder auch nach fast einem Jahr Unterricht noch so schreiben wie sie hören, dann geht den Eltern der Hut hoch. Sie können einfach nicht nachvollziehen, dass nicht einmal die Vermittlung der kulturellen Basiskompetenzen zu gelingen scheint. Und sie halten es fast nicht aus, dass die Lehrer es ihnen auch noch verbieten, falsche Schreibungen zuhause zu korrigieren.

Die Methode „Lesen durch Schreiben“ […] ist noch fragwürdiger geworden, seit eine Bonner Studie [siehe Kasten], die auch eine Langzeitbeobachtung umfasste, die klare Überlegenheit des Fibel-Einsatzes mit einem systematischen Rechtschreiberwerb belegt hat.

Die meisten Bundesländer haben deshalb die Reißleine gezogen und den Grundschulen nahegelegt, von Anfang an orthographisch richtige Schreibweisen zu lehren und Fehler zu korrigieren. Branden­burg etwa reagierte unmittelbar auf die Bonner Studie und untersagte den Grundschullehrern, die Methode „Lesen durch Schreiben“ noch anzuwenden.

Studie der Universität Bonn: Rechtschreiberfolg nach unterschiedlichen Didaktiken – eine kombinierte Längsschnitt-Querschnittstudie in der Grundschule
Theorie:  „Basierend auf empirischen psychologischen und linguistischen Forschungsbefunden (Schründer-Lenzen, 2013) wird der Frage nachgegangen, ob der Unterricht nach verschiedenen Rechtschreibdidaktiken zu unterschiedlichen Lernleistungen im Verlauf der Grundschule führt. Die Rechtschreibleistungen von Grundschulkindern, die entweder mit einem systematischen Fibelansatz, dem freien Konzept Lesen durch Schreiben oder mit der Rechtschreibwerkstatt unterrichtet wurden, wurden analysiert, wobei letztere den Spracherfahrungsansatz verfolgen. Es interessierte ferner, ob sich zwischen den Didaktikgruppen die intrinsische Schreib- und Lesemotivation unterschied, da Vertreter des Spracherfahrungsansatzes hier einen Vorteil ihrer Methode gegenüber dem Fibelansatz postulieren.“
Diskussion:  Die Ergebnisse der Studie „sprechen deutlich für die Überlegenheit des Unterrichts mit einem Fibelansatz. Nicht nur waren die Rechtschreibleistungen der systematisch angeleiteten Kinder besser als die der anderen Didaktikgruppen, und zwar mit überwiegend großem Effekt; sondern auch die Streuung der Werte war in der Fibelgruppe weit geringer. Sehr viele Kinder scheinen demnach von dieser Lehrmethode zu profitieren, obwohl sie zu Beginn der Schulzeit weniger Vorkenntnisse hatten als die Lesen-durch-Schreiben-Kinder. Die in der Studie ermittelten Ergebnisse der Rechtschreibtestungen wurden aus ethischen Gründen an die Schulen zurückgemeldet. Dies betrifft jedoch alle untersuchten Kinder gleichermaßen. Sowohl die intrinsische Schreib- als auch die intrinsische Lesemotivation der Fibelkinder waren jeweils nicht geringer als die der Kinder, die nach einem der beiden Spracherfahrungsansätze unterrichtet worden waren. Die vorliegenden Daten widerlegen die Grundannnahme des Spracherfahrungsansatzes, ein frühes Korrigieren von Rechtschreibfehlern demotiviere die Kinder, sich mit Schriftsprache auseinanderzusetzen.
Insgesamt kann basierend auf den Ergebnissen dieser längsschnittlichen wie querschnittlichen Analysen ein Rechtschreibunterricht mit den beiden Didaktiken des Spracherfahrungsansatzes – Lesen durch Schreiben oder Rechtschreibwerkstatt – nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Die Didaktik Rechtschreibwerkstatt führt bei vielen Kindern in der vorliegenden Stich­probe nachweislich zu besonders geringen Rechtschreibleistungen.“ […]
Tobias Kuhl & Una M. Röhr-Sendlmeier, Universität Bonn, Institut für Psychologie

Nun hat auch Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer die Konsequenzen gezogen und eine neue Handreichung für die Grundschullehrer [siehe Kasten] herausgegeben. „Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden“, sagt Gebauer.

Auszug aus der neuen Handreichung für Grundschullehrer:

Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW – Handreichung (Juni 2019)
Damit alle Kinder richtig schreiben lernen können, bedarf es eines systematischen und anregenden Rechtschreibunterrichts in der Grundschule, der Sicherheit beim Schreiben vermittelt und die Erfahrung ermöglicht, dass das richtige Schreiben machbar, sinnvoll und notwendig ist. Dies gilt auch für die erste Klasse, denn schon Schreibanfängerinnen und Schreibanfänger brauchen Hinweise auf normgerechte Schreibungen und Anregungen, dem System unserer Orthografie auf die Spur zu kommen, damit sie nicht denken, dass man „schreibt wie man spricht“. […] Damit trägt die Schule eine besondere Verantwortung, Schülerinnen und Schüler bestmöglich bei der Entwicklung ihrer Rechtschreibkompetenz zu unterstützen, unabhängig davon, wie man deren gesellschaftliche Bedeutung bewerten mag. Diese Verantwortung wird auch angesichts aktueller Befunde über sinkende Rechtschreibkompetenzen am Ende der Grundschulzeit deutlich. (S. 6)

Bereits in der ersten Klasse, also für viele Kinder zu Beginn des Schriftspracherwerbs, hat Rechtschreibunterricht seinen Platz: als integrativer Bestandteil einer vielseitigen Beschäftigung mit Schrift. Guter (Recht-)Schreibunterricht zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass die Kinder sowohl selbständig Wörter, Sätze, Texte zu persönlich sinnvollen Schreibanlässen konstruieren und lesen (Schriftgebrauch), als auch richtig geschriebene Wörter abschreiben, dadurch üben und sie im Hinblick auf Rechtschreibphänomene erkunden (Schriftorientierung). […] Die ersten Schulwochen sind entscheidend für das weitere Lernen: die Kinder erfahren, inwiefern der Unterricht mit ihnen als Personen und mit ihren bisherigen Erfahrungen mit Schrift und Schriftgebrauch etwas zu tun hat. Sie prägen die Vorstellung der Kinder von Schule und Unterricht. (S. 25)

In Hamburg, Schleswig-Holstein, sowie in Bayern und Baden-Württemberg sollen die Grundschullehrer ebenfalls von Anfang an korrekte Schreibweisen beibringen, in den ostdeutschen Ländern hat man ohnehin wenig Gebrauch von reformpädagogischen Modellen gemacht.

Zur Berliner Schulsituation

Der Berliner Tagesspiegel vom 31.05.2018, hat folgende Überschrift:
Scheeres will „Schreiben nach Gehör“ beibehalten.
Am 10.09.2019 haben sich ca. 60 Grundschullehrerinnen bei einer Regionalen Fortbildung der Schulverwaltung für das Thema: „Drei Didaktiken des Rechtschreiblernens – nur Fibelunterricht wirkt?“ mit Frau Professor Dr. Una Röhr-Sendlmeier angemeldet.
Frau Röhr-Sendlmeier stellte zunächst die Ergebnisse der Studie “Der Verlauf des Rechtschreib-Lernens – drei Didaktiken und Ihre Auswirkungen auf Orthographie und Motivation in der Grundschule“ vor. In der Diskussion wurden die Inhalte vertieft und die eigene Praxis im Unterricht reflektiert. Für eine weitere Bearbeitung des Themas und Unterrichtshilfe hat Fau Professor Röhr-Sendlmeier auf die neu erstellte Handreichung „Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW“ hingewiesen [siehe Link am Beitragsende]. Eine Lehrerin kannte die Handreichung aus NRW bereits und wies darauf hin, dass die Grundschullehrer endlich ein wissenschaftliches Fundament für den Rechtschreibunterricht an die Hand bekommen. Von den ca. 60 Teilnehmerinnen unterrichtet eine Lehrerin nach einem systematischen Fibelansatz, keine nach der Methode der Rechtschreibwerkstatt. Die Mehrheit der Anwesenden unterrichten nach dem freien Konzept Lesen durch Schreiben. Eine Übersicht, wie viele und welche Grundschulen in Berlin welche Methode unterrichten, ist nicht bekannt, jedoch die Ergebnisse aus Vera 3 (Vergleichsabeiten in der 3. Klasse). Im Tagesspiegel vom 20.07.2019 ist zu lesen: Berliner Drittklässler können viel zu wenig. Die Ergebnisse sind seit Jahren miserabel: Mehr als die Hälfte der Schüler kann nicht ausreichend lesen und rechnen.“ In der Rechtschreibprüfung von 2017 erfüllte knapp die Hälfte der Schüler nicht einmal die Mindestanforderungen.

Der Leistungsvergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gibt den restriktiven Ländern, die für korrekten Schreiberwerb plädieren, recht: Mehr als jeder fünfte Viertklässler in Deutschland erfüllt die Mindeststandards in der Rechtschreibung nicht. Das ist insofern katastrophal, als weiterführende Schulen darauf setzen müssen, dass die Rechtschreibung beherrscht wird. Denn die Lehrer dieser Schulen sind gar nicht darauf vorbereitet, Orthographie zu unterrichten. […]

Ein wichtiges Argument gegen den Einsatz der Methode „Lesen durch Schreiben“ ist der wachsende Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund. Wer Deutsch als Zweitsprache gelernt hat, kann nicht auch noch zweimal Rechtschreibung lernen. Deshalb sollten auch wieder Diktate geschrieben werden. Auch schwächere muttersprachliche Schüler werden unter dem Rechtschreib-Hin- und Her nur leiden. Am wenigsten schaden solche Experimente denen, die immer durchkommen: den überdurchschnittlich Begabten. Die Aufgabe der Grundschule ist es aber, alle so mit den Basistechniken Lesen, Schreiben, Rechnen auszustatten, dass ihnen unabhängig von ihrer Herkunft alle Schulbildungswege offen stehen. Schon deshalb ist es eine Frage der Gerechtigkeit, von Anfang an korrektes Schreiben zu lehren.

Textauswahl der grau unterlegten Einschübe und Texthervorhebung im gelben Kasten durch Schulforum-Berlin.

Zum Artikel:  F.A.Z., 24.04.2019, Heike Schmoll, Berlin, Lehrmethoden: Fehler sollen wieder korrigiert werden

Zur PDF-Datei einer vierseitigen Zusammenfassung der Handreichung zum Download
Zur PDF-Datei der Handreichung: „Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW