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Wissen und Können in Schule und Universität nachhaltig vermitteln

Klüger lernen

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Bildungsprozesse oder anders gefragt: Was ist nachhaltiges Wissen und wie muss es vermittelt oder erlernt werden?

Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Humbold-Universität Berlin, 10.10.2015

(…) Lernen ist zum globalen Problem avanciert, und zwar nicht nur im Hinblick auf die sich immer schneller ablösenden Lerninhalte, sondern auch auf Probleme des Lernens selbst, hinsichtlich seiner Methoden, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formen. Junge Menschen müssen sich auf Anforderungen vorbereiten, die noch niemand genau kennt.

In der Schule gehören daher solides Grundwissen und entsprechendes Können zu den Prämissen nachhaltiger Bildung. Dahinter verbirgt sich vor allem das Rüstzeug, ein Leben lang weiter zu lernen und den jeweiligen Lernbedarf rechtzeitig und selbständig zu erkennen. Es gibt dafür den vergleichsweise nüchternen Terminus „Kulturtechniken“.

An der Universität geht es um die Fähigkeit, wissenschaftlich an die Welt heranzugehen und zugleich das Wissen und Können zu mehren, das in der Schule den „Lernstoff“ bildet, also die Wissenschaft voranzutreiben. (…)

Denn Wissen kann man quantifizieren, Bildung jedoch bedeutet, Wissen zu qualifizieren. Wissen ist der Rohstoff für Bildung – nachhaltig lässt er sich einsetzen, wenn man es ordnet und verknüpft, aber auch kritisch prüft und auswählt, methodisch herleitet, an Sinn und Einsicht knüpft. Eingebettet in ein Kontinuum von Menschlichkeit und Kultur wird dann aus Bildung ein nachhaltiges Projekt.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Beilage der HU zum Start des Wintersemesters 2015/2016, 10.10.2015, Jan-Hendrik Olbertz, HU-Präsident, Klüger Lernen

Hervorhebung im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

„Erleichterungspädagogik“ und „Leistungsplacebos“

„Lernen muss nicht Spaß machen“

Matthias Burchardt über den Mythos Leistung, das Komplott der „Erleichterungspädagogik“ und das Missverständnis, in der Schule eine Agentur zum Humankapitalaufbau zu sehen

Matthias Burchardt lehrt an der Uni Köln  am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik. Er referiert im Rahmen der vom Arbeitsbereich Fachdidaktik Psychologie – Philosophie von Konrad Paul Liessmann, Katharina Lacina und Bernhard Hemetsberger in Kooperation mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe „Mythos Leistung?“.
5.10.2015, Interview Lisa Nimmervoll

STANDARD: „Mythos Leistung?“ lautet das Thema der Vortragsreihe, die Sie nach Wien führen wird. Wie ist es um die Leistung, den Leistungsgedanken bestellt?
Burchardt: (lacht) Schlecht. Einerseits wird der Leistungsbegriff überstrapaziert und eine wettbewerbliche Leistungsgesellschaft gefordert, die den Kindern alles Mögliche zumutet und sie im Leerlauf erschöpft. Andererseits finden wir Tendenzen der Erleichterung, dass man sagt, wir müssen Kinder vor allem schützen, was sie fordert, und dann traut man ihnen gar nichts mehr zu, sodass es an der Zeit ist, den Leistungsbegriff einer pädagogischen Klärung zuzuführen, um vor allem auch die ideologische Ausbeutung dieses Begriffs zu befragen. (…)

Wie definieren Sie Leistung? Das, was mit Noten gemessen wird, „Kompetenzen“ oder wie?
Da müssen wir erst eine Begriffsklärung vornehmen. Interessant ist ja, dass dieses Erleichterungskomplott mit Messbarkeiten argumentiert. Nun ist jedem nachdenklichen Menschen klar, dass man Bildung überhaupt nicht trainieren, messen oder vergleichen kann wie die Leistung eines Sportlers. Diesen äußeren, auf Messbarkeit zugeschnittenen Leistungsbegriff würde ich als untauglich und inhuman ablehnen und für einen pädagogischen Leistungsbegriff plädieren im Sinne von Leistung als Bewährung: Ich bewähre mich an etwas, da ist etwas, woran die Wahrheit meiner Fähigkeiten zutage kommt, wo ich eine Hürde nehmen, eine schwere Aufgabe lösen muss. Aber ich bewähre mich auch für etwas. Jemand, der sich an Aufgaben bewährt hat, ist auch in der Lage, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Wer sich bewährt, bekommt die Anerkennung, dass er gebraucht wird. Das ist sehr wichtig für junge Menschen in allen Schulformen. Mit so einem pädagogischen Leistungsbegriff werden wir der Person, aber auch den gesellschaftlichen Ansprüchen und der Komplexität der Welt gerecht. Denn es ist ja nicht durch Erleichterungspädagogik aus der Welt zu schaffen, dass die Quantenphysik relativ schwer zu verstehen ist. (…)

(…) Ich halte es für eine gefährliche Entwicklung, diese Leistungsansprüche allein vor dem Kriterium des Marktes zu beurteilen, weil es noch ein marktunabhängiges Kriterium gibt: die Ansprüche, die das Leben an uns stellt. Wir müssen uns nicht nur in der Arbeit bewähren, sondern auch in der Kultur, in der Gesellschaft, im demokratischen Raum. Aber auch existenziell müssen wir uns bewähren an Lebenskrisen, und da ist Bildung gefragt, die eben nicht marktabhängig ist. (…)

Früher hörte man oft den Satz „Ohne Fleiß kein Preis“. Das hat sich irgendwie aufgehört. Zu Recht? Oder ist Fleiß eine Dimension, die im Zusammenhang mit Leistung gedacht werden muss?
Absolut. Fleiß, Anstrengung – das ist kein Selbstzweck. Ich finde es schrecklich, wenn man sagt, Schule muss den Kindern Spaß machen. Lernen muss nicht Spaß machen. Fernsehen oder Spielen machen Spaß. Erfolg kann Freude machen, die Freude nach einer Anstrengung, sich an etwas bewährt zu haben, ist durch kein Spaßmedium zu ersetzen. Wir betrügen die Kinder um diese Erfahrung, wenn die Schule auf herausfordernde Leistungsansprüche verzichtet.

zum Artikel:  STANDARD, Wien, 05.10.2015, Lisa Nimmervoll, Bildungsphilosoph: „Lernen muss nicht Spaß machen“

Hervorhebung im Fettdruck durch Schulforum-Berlin


siehe auch:
ZERSETZUNG VON BILDUNG: ÖKONOMISMUS ALS ENTWURZELUNG UND STEUERUNG
EIN ESSAY
Prof. Jochen Krautz
aus:  Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte, Beiheft 5, Bildung gestalten – Akademische Aufgaben der Gegenwart, S. 129. Herausgegeben von Silja Graupe und Harald Schwaetzer zur Eröffnung der Cusanus Hochschule

(…) „Bildung ist ohne Wissen und Können nicht zu haben. Wer nichts weiß oder kann, verfügt auch nicht über Bildung.“ 1) Bildung hat in dieser Perspektive mit Anstrengung zu tun, die man aufwenden muss, um Können und Wissen zu erwerben. Diese Bewährung an der Sache stärkt und bildet die Persönlichkeit. Insofern stellt sich auch wohlgemeinte „Bildungsgerechtigkeit“ nicht ein, wenn man das Anspruchsniveau für alle senkt.

1) Prof. Dr. Robert Kreitz:  Wissen, Können, Bildung – ein analytischer Versuch, S. 98


siehe auch:
PRO DOMO
Festrede zur Hundertjahrfeier der Humboldtschule, Berlin-Tegel, am 23. Mai 2003 im Ernst–Reuter–Saal des Rathauses Reinickendorf/Berlin, Hinrich Lühmann, Schulleiter des Humboldt-Gymnasiums.

(…) Nun ist Schule zwar, wenn es gut geht, fair und freundlich, aber sie ist keine dauernde
Lustbarkeit, denn sie verlangt Arbeit und konfrontiert den Heranwachsenden, je älter er
wird, desto fester, mit Leistungsanforderungen. Dabei werden seine Möglichkeiten, aber
auch seine Grenzen deutlich. Das kindliche Lustprinzip wird durch das Realitätsprinzip der
Erwachsenenwelt abgelöst.
Woran es in Deutschland fehlt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Prozesses, der
in anderen Ländern, historisch völlig ungebrochen, als notwendige und frühe Lebenserfahrung
begriffen, akzeptiert und gefordert wird. (…)


siehe auch:
Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive
John Hattie, Gregory C.R. Yates
1. Auflage, 2015, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, S.113,114
Überarbeitet von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer

Aus der Sicht des Lernenden ist Lernen nicht immer angenehm
Allgemein gesehen, bringt Lernen ein hohes Maß an Belohnung und persönlicher Zufriedenheit mit sich. (…) Das eigentliche Lernen ist größtenteils nicht angenehm. Es ist angenehm eine Fertigkeit zu haben, Können zu zeigen und sich vorzustellen, was man tun kann. Es ist angenehm, etwas zu leisten oder von den Vorteilen der Leistung zu träumen. Dennoch kann Lernen mühsam sein. Der eigentliche Lernprozess, der Moment, an dem das Lernen stattfindet, kann anstrengend und mit Gefühlen der Unsicherheit belastet sein. Dies kann schnell in negative Gefühle umschlagen, wenn die Aufnahmefähigkeit überschritten wird. (…)
In ähnlicher Weise unterschätzen wir den Zeit- und Übungsumfang, der erforderlich ist, um eine neue Fertigkeit zu entwickeln. Wir unterschätzen, wie viel Disziplin und Entschlossenheit zur Entwicklung von fachlicher Kompetenz benötigt werden. (…)


siehe auch:
„Visible Learning for Teachers – Maximizing impact on learning” –
Zusammenfassung der praxisorientierten Konsequenzen aus der Forschungsbilanz von John Hattie „Visible Learning”
Dieter Höfer & Ulrich Steffens, 26. 092012, Institut für Qualitätsentwicklung, Wiesbaden

(…) Erfolgreiches Lernen erfordert nach Hattie vor allem zwei Fähigkeiten: 1) bewusste Lernpraxis und 2) Konzentration. Er macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass Lernen nicht ununterbrochen Spaß machen kann. Vielmehr ergeben sich für jeden Lerner auch längere Phasen einer notwendigen, aber eben nicht immer angenehmen harten Arbeit, bis es gelingt, eine bestimmte Fähigkeit mit hinreichender Geschwindigkeit, Sicherheit und Effektivität auszuführen. Erfolgreiches Lernen in diesem Sinne erfordert Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und entsprechende sachgerechte Reaktionen.

Hattie verweist in diesem Zusammenhang auf die häufig unterschätzte Bedeutung von Konzentration („concentration“) und Beharrlichkeit („persistence“). Gerade für Anfänger ist es von entscheidender Bedeutung, dass es während des aktiven Lernprozesses wenig Ablenkung von den Inhalten und den Erschließungsmethoden gibt. Dies sicherzustellen, ist daher eine der fortlaufenden Aufgaben der unterrichtenden Lehrkräfte. (…)

mehr zum Beitrag unter der Seite “Lernen” …

Zum Welttag des Lehrers

Hilferuf aus dem Lehrerzimmer

Die Pädagogen im Lande mühen sich redlich, die Schulpolitik hingegen folgt heiklen Illusionen – Drei Beispiele aus Nordrhein-Westfalen
Michael Felten, 30.09. 2015

Zum „Welttag des Lehrers“ am 5. Oktober dürfen die Pädagogen hierzulande auch in diesem Jahr keine größeren Ehrungen erwarten. Zu sehr sind Schulministerien und Kultuspolitik damit beschäftigt, der problematischen Leistungsbilanz unserer Schulen durch Reformaktionismus und Begriffsakrobatik zumindest scheinbar beizukommen.
Ein Kollege sagte kürzlich: „Die Politik blockiert Stück für Stück die Instrumente, die wir für unsere Arbeit brauchen.“ Dazu drei Beispiele aus Nordrhein-Westfalen.

HAUSAUFGABEN
Sicher, das nachmittägliche Üben war immer schon lästig. Aber dass Schüler an Ganztagsgymnasien neuerdings gar keine Hausaufgaben mehr machen dürfen, macht denn doch sprachlos. (…)
Immer wieder wird geunkt, Hausaufgaben brächten nichts. Dabei attestiert die Hattie-Studie,
die weltgrößte Datenbasis zur Effektivität von Lehr- und Lernformen, dem häuslichen Nachbereiten des Unterrichts in der Sekundarstufe höchste Wirksamkeit (…)

SELBSTORGANISIERT LERNEN
Es hört sich erst mal zeitgemäß an: Eigenverantwortlichkeit scheint allemal motivierender zu sein, als immer nach der Pfeife des Lehrers zu tanzen, und im Leben muss man doch auch allein zurechtkommen. De facto ist dies Etikettenschwindel: Viele Schüler arbeiten nur vorgefertigte Arbeitsblattstapel ab, oft oberflächlich und in Konkurrenz. Besonders brisant: Leistungsschwächeren fällt selbstbestimmtes Lernen am schwersten – sie werden durch die neuen Lernformen quasi zusätzlich benachteiligt. (…)
Kognitionspsychologen wie Elsbeth Stern sehen den Lehrer keineswegs im Abseits. Praktisch nutzbares Wissen wie automatisierte Handlungen entwickeln sich vor allem durch Wiederholung, Steuerung, Erfolg und Fehlerkorrektur. Ohne Lehrer ist das schwer denkbar.

INKLUSION
Auch das klingt verführerisch: Alle Schüler sollen gemeinsam lernen, unabhängig vom Lernvermögen oder etwaigen Einschränkungen. Aber: In vielen Inklusionsklassen geht es arg hoch her. (…)

Zum Welttag des Lehrers daher ein Hilferuf aus dem Lehrerzimmer. (…)

zum Artikel:  Kölner Stadt-Anzeiger, Gastbeitrag, 30.09. 2015, Michael Felten, Hilferuf aus dem Lehrerzimmer (online nicht verfügbar)

Michael Felten, geb. 1951, Gymnasiallehrer in Köln.
Er arbeitet auch als Schulentwicklungsberater, Publizist und Buchautor.
www.eltern-lehrer-fragen.de