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Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? Summary.

Aus der deutschen Übersetzung der deutschen UNESCO-Kommission einige Kernaussagen mit Schwerpunkt „Digitale Medien in der Bildung“:

Es gibt einen Mangel an guten, unvoreingenommenen Erkenntnissen über die Auswirkungen von digitalen Medien in der Bildung.

  • Es gibt wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung. Die Technologie entwickelt sich schneller, als wir sie evaluieren können: Produkte aus dem Bereich der Bildungstechnologien ändern sich im Durchschnitt alle 36 Monate. Der Großteil der Erkenntnisse stammt aus den reichsten Ländern. Im Vereinigten Königreich haben 7 % der Unternehmen für Bildungstechnologien randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, und 12 % nutzten eine externe Zertifizierung. Eine Umfrage unter Lehrkräften und Schulverwaltungen in 17 US-Bundesstaaten ergab, dass nur 11 % von ihnen vor der Einführung nach einer von Fachleuten geprüften Bewertung fragten. (S. 1)
  • Ein Großteil der Studien stammt von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen. Pearson [der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada] finanzierte eigene Studien und bestritt unabhängige Untersuchungsergebnisse, wonach die Produkte des Unternehmens keine Effekte zeigten. (S. 1)

Kurz gesagt: Wir verfügen zwar über viele allgemeine Forschungsarbeiten zum Lernen mit digitalen Medien. Der Umfang der Forschung zu konkreten Anwendungen und Rahmenbedingungen ist jedoch unzureichend, sodass es schwierig ist, nachzuweisen, dass eine bestimmte Technologie eine bestimmte Art des Lernens fördert. (S. 7)

Warum entsteht dennoch häufig der Eindruck, dass digitale Medien die Antworten auf die großen Herausforderungen im Bildungsbereich bieten könnten?

Um den Diskurs über digitale Medien in der Bildung zu verstehen, ist es wichtig, dass wir die Sprache, mit der sie beworben werden, und die Interessen, denen sie dienen sollen, hinterfragen.

  • Wer definiert den Rahmen für die Probleme, die mit digitalen Medien gelöst werden sollen?
  • Welche Folgen entstehen daraus für die Bildung?
  • Wer präsentiert digitale Medien in der Bildung als Voraussetzung für die Transformation von Bildung?
  • Wie glaubwürdig sind solche Behauptungen?
  • Welche Kriterien und Standards müssen festgelegt werden, um den aktuellen und potenziellen künftigen Beitrag digitaler Medien für die Bildung zu beurteilen, damit wir Hype und Substanz unterscheiden können?
  • Können Forschung und Evaluation mehr sein als kurzfristige Beurteilungen von Auswirkungen auf das Lernen und potenziell weitreichende Folgen des umfassenden Einsatzes digitaler Medien in der Bildung erfassen? (S. 7)

Übertriebene Erwartungen an digitale Medien gehen Hand in Hand mit übertriebenen Schätzungen zur Größe des weltweiten Marktes. Die Schätzungen von Business-Intelligence-Anbietern für das Jahr 2022 bewegen sich zwischen 123 Mrd. und 300 Mrd. US-Dollar. Solche Berechnungen werden fast immer in die Zukunft projiziert und sagen ein optimistisches Wachstum voraus, aber sie geben keine Auskunft über historische Entwicklungen und prüfen nicht, ob sich frühere Prognosen bewahrheitet haben. Solche Berichte bezeichnen Bildungstechnologien routinemäßig als unverzichtbar und Technologieunternehmen als Enabler und Disruptoren. Wenn sich die optimistischen Prognosen nicht erfüllen, wird die Verantwortung implizit auf die Regierungen abgewälzt, um den indirekten Druck auf diese aufrechtzuerhalten, vermehrt in entsprechende Anschaffungen zu investieren. Das Bildungswesen wird dafür kritisiert, dass es sich nur langsam verändere, in der Vergangenheit verhaftet sei und in Sachen Innovation hinterherhinke. Eine solche Darstellung spielt mit der Faszination der Menschen für Neues, aber auch mit ihrer Angst, abgehängt zu werden. (S. 7)

Technologieunternehmen können einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Entwicklung entsprechender Untersuchungen haben. So finanzierte [der weltweit größte Bildungskonzern] Pearson beispielsweise Studien, mit denen unabhängige Analysen angefochten wurden, die ihrerseits gezeigt hatten, dass die Produkte von Pearson keine Wirkung hatten. (S. 11)

Studien auf der Grundlage von PISA-Daten deuten auf einen negativen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler hin, sobald die Schwelle einer moderaten Nutzung überschritten ist. Lehrkräfte empfinden die Nutzung von Tablets und Handys als Beeinträchtigung ihrer Klassenführung. Mehr als eine von drei Lehrkräften in sieben Ländern, die an der ICILS-2018-Studie teilnahmen, stimmten zu, dass die Verwendung digitaler Medien im Klassenzimmer die Lernenden ablenkt. (S. 11f)

Bildungssysteme sollten bei der Entscheidung über die Einführung digitaler Technologien stets sicherstellen, dass die Interessen der Lernenden im Mittelpunkt eines auf Rechten basierenden Rahmens stehen. Der Fokus sollte nicht auf digitaler Infrastruktur, sondern auf den Ergebnissen des Lernens liegen. Zur Verbesserung des Lernens sollten digitale Medien die persönliche Interaktion mit Lehrkräften nicht ersetzen, sondern ergänzen. (S. 20)

Weitere Fragestellungen und Hinweise:

Die Rolle von digitalen Medien in der Bildung ist seit langem Gegenstand intensiver Debatten:

  • Sorgen sie für eine Demokratisierung des Wissens – oder bedrohen sie die Demokratie, indem sie die Kontrolle über Informationen in die Hände weniger Auserwählter legen?
  • Bieten sie grenzenlose Möglichkeiten, oder führen sie in eine zukünftige Technologieabhängigkeit, aus der es kein Zurück mehr gibt?
  • Führen sie zu einer Angleichung der Bedingungen, oder verschärfen sie die Ungleichheit?
  • Sollten sie für den Unterricht junger Kinder eingesetzt werden, oder besteht ein Risiko für deren Entwicklung? (S. 33)

Der UNESCO-Bericht „Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?“ empfiehlt, dass Technologie in der Bildung evidenzbasiert eingeführt werden sollte, also auf Grundlage von Nachweisen, dass sie geeignet, chancengerecht, skalierbar und nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Ihr Einsatz sollte im besten Interesse der Lernenden liegen und die zwischenmenschliche Interaktion ergänzen. Digitale Medien sollten als Werkzeug verstanden werden, das unter diesen Bedingungen genutzt werden kann. (S. 33)

Technologie [in der Bildung] kann aber auch ausgrenzend, irrelevant und belastend, wenn nicht sogar schädlich sein. Regierungen müssen für die richtigen Bedingungen sorgen, um einen chancengerechten Zugang zu Bildung für alle zu ermöglichen, und müssen die Nutzung von Technologien so regulieren, dass die Lernenden vor deren negativen Einflüssen geschützt werden. (S. 33)

Weitere Informationen:

UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Hirnforschung an der Schule: Auf einer Wellenlänge

Soziale Interaktion ist von zentraler Bedeutung für das Lehren und Lernen.

Sören Maahs  

Schule ist mehr als ein Ort der Stoffvermittlung. Sie ist vor allem auch ein Raum des Miteinanders und des sozialen Lernens. „Zusammenarbeiten, sich begegnen, gemeinsam handeln“ so Michaela Sambanis, Professorin an der Freien Universität Berlin. Sie bildet Lehrkräfte für das Fach Englisch aus und verbindet in ihrer Arbeit Hirnforschung mit Didaktik.

Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die menschlichen Beziehungen in einem Klassenzimmer entscheidend dafür sind, dass Kinder und Jugendliche erfolgreich lernen. Gerade für das Sprachenlernen sei Interaktion von großer Relevanz, sagt Michaela Sambanis: „Was wirklich zählt und die Lernatmosphäre ausmacht, sind Interaktionen, die soziale Nähe ermöglichen.“ Doch das Phänomen der Interaktion ist schwer fassbar. Lässt sich ihre Dynamik objektiv erforschen?

Was im Kopf von Schulkindern vorgeht, während sie im Unterricht sitzen, ließ sich bisher kaum beantworten. Bis vor wenigen Jahren untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Hirnforschung soziale Prozesse nur an einzelnen Probanden, die andere Personen beobachten. Inzwischen ist es aber möglich, mittels Elektronenzephalografie (EEG) die Gehirnwellen bei mehreren Lernenden gleichzeitig zu ermitteln und die Aktivitätsmuster zu vergleichen, während die Personen miteinander interagieren.

„Neuronale Kopplung“ im Klassenzimmer

Für solche Studien kommen tragbare, haubenartige EEG-Geräte im Klassenzimmer zum Einsatz, erklärt Sambanis. Das Ziel sei es, dem Gehirn bei möglichst natürlichen Kontakten „zuzuschauen“ und zu beobachten. Dabei entdeckten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass sich bei bestimmten Aktivitäten die Hirnsignale der Lernenden synchronisierten. Diese „neuronale Kopplung“ zeige sich in Phasen produktiver Aktivierung der Gruppe, etwa bei anregenden Diskussionen im Unterricht.

Lässt sich bei mehreren interagierenden Schulkindern eine Angleichung der Hirnaktivierung erkennen, sei dies ein messbarer Hinweis für das Engagement im Unterricht. Das wiederum bilde eine gute Grundlage für die kognitive Auseinandersetzung mit dem vermittelten Stoff. „Je höher die Synchronisierung mit den Mitschülerinnen und Mitschülern ist, desto weniger lassen sie sich ablenken“, erläutert die Didaktikprofessorin.

Der Blick in die Köpfe einer Schulklasse zeige auch: Je wohler sich die Lernenden in ihrer Klasse und mit der Lehrkraft fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich auf den Stoff einlassen und ihm die nötige Aufmerksamkeit schenken. Das Zugehörigkeitsgefühl unter den Schülerinnen und Schülern, das berühmte „Klassenklima“, ist entscheidend daran beteiligt, ob der gehirnliche Gleichtakt mit anderen aus der Klasse zustande kommt, erklärt Michaela Sambanis. „Vor diesem Hintergrund beantwortet sich die Frage, ob gemeinschaftsstärkende Aktivitäten wertvolle Unterrichtszeit verschwenden oder ob sich eine kleine Zeitinvestition dafür lohnt, gewissermaßen von selbst.“ […]

Besser lernen durch positive Lernatmosphäre und soziale Nähe

Siehe: https://www.tagesspiegel.de/auf-einer-wellenlange-4311367.html

„Das Bunte können wir nicht mehr abschaffen. Was wir brauchen, sind Konzepte, um damit umzugehen“

PISA-Schock: Erfahrene Lehrkraft spricht über den Zusammenhang von Diversität und Leistungseinbruch an den Schulen im Land.

Veröffentlicht auf Focus-online am 8. Januar 2024. Veröffentlichung auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors, Rainer Werner.

Kürzlich hat der frühere Berliner Gesamtschul- und Gymnasiallehrer Rainer Werner in einem Interview erläutert, wo er die wichtigsten Hebel im Umgang mit der Bildungskrise sieht.[1] Das Thema Migration war für ihn dabei eine Randnotiz. Weil es im Forum ungewöhnlich heftig diskutiert wurde, hat Werner sich dazu bereit erklärt, das Ganze zu vertiefen.

Wir haben kürzlich ein Interview mit Ihnen geführt, das auf außergewöhnlich große Resonanz gestoßen ist. In den Kommentaren im „Forum“ spielte Ihr Hinweis auf die Wichtigkeit der Sekundärtugenden eine große Rolle. Könnten Sie noch einmal ausführen, welche Tugenden Sie meinen.

Heute geschieht es immer häufiger, dass Schüler vor Aufgaben kapitulieren, die Ihnen zu kompliziert erscheinen. Wenn eine Mathe-Aufgabe nicht innerhalb einer Minute lösbar ist, schmeißen manche den Block in die Ecke und sind völlig frustriert. Viele Schulen arbeiten deshalb mit Hilfe von Schulpsychologen daran, das Durchhaltevermögen der Schüler zu verbessern, ihnen Ausdauer und Ehrgeiz beizubringen. Das ist auch nötig, damit sich die Lernergebnisse verbessern. Aufmerksamkeit ist z. B. eine der Sekundärtugenden, bei der es großen Handlungsbedarf gibt. Die Digitalität hat unser Leben beschleunigt: Inhalte werden oft nur noch überflogen, um ein Like zu setzen, und schon geht’s direkt zur nächsten Botschaft. Die Digitalisierung wird sich nicht aufhalten lassen, im Gegenteil, die Prozesse werden sich weiter beschleunigen. Deshalb arbeitet ein guter Unterricht daran, dass sich die Schüler ohne Zeitdruck auf den geistigen Prozess des Unterrichts einlassen und dabei Durchhaltevermögen entwickeln.

Welche Herausforderungen gibt es noch?

Kaum jemand dürfte bestreiten wollen, dass wir uns in einer gesellschaftlichen Entwicklung befinden, in der die Schule zahlreiche Probleme, die im Außen existieren, ausbügeln muss: Intoleranz, Unduldsamkeit, Neigung zu Gewalt, Sprachunfähigkeit, Verrohung. Ich finde es falsch und realitätsfremd, wenn wir uns darüber beschweren und sagen, dass sei nicht die Aufgabe von Bildungsinstitutionen. Wir können auf das Verhalten der Kinder am besten da einwirken, wo sich ein großer Teil ihres Lebens abspielt: an den Schulen. Da heute die meisten Schulen Ganztagesschulen sind, gäbe es ideale Möglichkeiten, soziale Tugenden wie Kooperation, Teamgeist, Hilfsbereitschaft und Solidarität auszubilden. Freie Arbeits- und Projektgruppen wären dafür geeignete Formate.

Sehen Sie auch Handlungsbedarf im Unterricht?

Ja, ich bin überzeugt, es würde ein Ruck durch die Schulen gehen, wenn sich alle bemühen würden, das Kerngeschäft der Lehrkräfte, den Unterricht, zu stärken. Viele Schulen leiden darunter, dass von den Schulbehörden vor allem Organisatorisches kommt. Dabei ist das Betriebssystem einer Schule immer die Didaktik, der gut gemachte Unterricht. Davon hängt ab, ob die Schüler viel oder wenig lernen. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn wir die Pascha-Diskussion konstruktiv führen würden! Ich glaube übrigens, dass Friedrich Merz, von dem die „kleine Paschas“ ja ursprünglich stammen, genau das wollte.

Der CDU-Politiker hat sich im vergangenen Jahr bei Markus Lanz zum Thema geäußert…

… richtig, aber zitiert wurde er hinterher immer nur mit den beiden Skandalwörtern. Ich habe damals im Netz nach dem vollständigen Zitat gesucht und konnte es nicht finden. Dann transkribierte ich die Tonspur der Talkshow und siehe da: Das vollständige Zitat schilderte detailliert, mit welchen Zumutungen Grundschullehrerinnen zu kämpfen haben, wenn ihnen Jungen aus dem arabischen Kulturraum keinen Respekt zollen und sich nach einem starken Mann sehnen. Keine einzige Qualitätszeitung hat das Zitat in Gänze abgedruckt und zum Anlass genommen, eine pädagogische Diskussion über die Schwierigkeiten zu führen, denen die Lehrkräfte an unseren Grundschulen ausgesetzt sind. […]

Welche Möglichkeiten gibt es, handgreifliche Konflikte, von denen man in letzter Zeit so häufig hört, einzudämmen?

Es ist fraglich, ob es eine einzelne Lehrkraft allein schafft, die bestehenden Erziehungsdefizite auszugleichen. Das ganze Kollegium muss sich dieser Erziehungsaufgabe widmen, im Idealfall auf Grundlage eines konsensfähigen erzieherischen Leitbildes. An einer Gesamtschule, an der ich zwölf Jahre lang unterrichtet habe, führten wir z.B. ein Kommunikationstraining durch, durch das Schüler lernten, Konflikte verbal und nicht mehr handgreiflich zu lösen. Ein beträchtlicher Teil der Schüler an dieser Schule stammte aus dem patriarchalen Kulturkreis und hatte es nicht gelernt, Konflikte anders als körperlich zu lösen. Es war verblüffend zu sehen, wie die Schüler nach und nach lernten, heikle Situationen im Rollenspiel friedlich aufzulösen und wie sie die neuen Verhaltensmuster dann auch im Pausenhof immer öfter anwandten. Dies nur als ein konzeptuelles Beispiel. Es gibt viele Punkte, an denen angesetzt werden kann oder muss.

Wo zum Beispiel?

Vor einigen Jahren gab es in Berlin eine Kampagne, die sich an männliche Lehramtsstudenten richtete. Das Ziel war, mehr männliche Lehrkräfte an die Grundschulen zu bringen. Die Kampagne richtete sich darüber hinaus auch an junge Männer in der Ausbildung zum Erzieher, denn auch in den Kitas gibt es eine massive Überrepräsentanz des Weiblichen. Meines Wissens hat die Maßnahme gefruchtet, aber nur ein oder zwei Jahre lang, dann ist der Effekt wieder verpufft. Schade. Das Ziel an den Grundschulen sollte ein ausgeglichenes Verhältnis von weiblichen zu männlichen Lehrkräften sein. Fifty-Fifty also. Ich bin überzeugt, das könnte viele der aktuellen Konflikte abschwächen.

Aber nur, wenn die Jungen an eine männliche Lehrkraft geraten und diese dann auch nicht zu soft ist – oder?

Das glaube ich nicht. Die nicht so durchsetzungsstarken Lehrkräfte müssen auch lernen, mit solchen Jungen richtig umzugehen. Ich erinnere mich noch an einen Bio-Lehrer, der mir mal bei einem Schulausflug sein Herz ausschüttete. Er klagte über einen türkischen Schüler, der von der ersten bis zur letzten Minute seinen Unterricht stören würde. Den Kollegen machte das fix und fertig, er stand kurz vor der Depression.

Konnten Sie ihm denn helfen?

Zuerst fragte ich: Was hast du gegen den Knaben unternommen? Er antwortete: Ich habe sämtliche schulischen Sanktionen gegen ihn ergriffen – ohne Erfolg. Dann fragte ich ihn, ob er es schon mal mit Lob probiert habe. Er schaute mich an, als ob ich einen völlig unsinnigen Vorschlag gemacht hätte. Aber ich ließ mich nicht beirren. Rede mal mit anderen Kollegen, die den Schüler kennen, meinte ich. Frage sie, wo die Stärken des Jungen liegen. Und rede am besten auch mal mit dem Sportlehrer. Das war die richtige Fährte, denn der türkische Junge war ein Fußball-Ass, spielte in der Schulmannschaft als Kapitän. Die Mädchen himmelten ihn an.

Wie ging es weiter?

Ich sagte dem Bio-Lehrer, er solle es wie Angela Merkel bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 machen. Einfach zum nächsten Spiel gehen und dann mit dem Jungen ein wenig Smalltalk in der Kabine machen. Genau das tat er. Als er mich beim nächsten Mal kontaktierte, meinte er, er sei mir zu Dank verpflichtet. Er habe den Jungen gelobt – seitdem sei er zahm wie ein Reh. Mir ist es wichtig, diese Geschichte so ausführlich zu erzählen, weil ihr ein häufiges Muster zu Grunde liegt: Oft werden Verhaltensauffälligkeiten von Schülern – Aggressionen, Grenzüberschreitungen, aber auch ein innerer Rückzug – bestraft, statt sie als das zu sehen, was sie meist sind: Hilfeschreie, der Wunsch, mehr beachtet zu werden. Es wäre viel gewonnen, wenn alle Lehrkräfte, die solche Schüler unterrichten, die Signale erkennen und mit den Schülern das Gespräch suchen würden. Viele vermeintlich problematische Schüler, die ich erlebt habe, haben durch ihr Verhalten häusliche Konflikte kompensiert. Wenn man sie nun auch noch in der Schule bestraft und gedemütigt hätte, wären einige von ihnen Schulflüchtige geworden. Dabei gibt es so viele Mut machende Beispiele, wie Konfliktspiralen durchbrochen werden können. […]

Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis der aktuellen PISA-Studie?

Zum ersten Mal wurde dokumentiert, dass die Leistungen aller Schüler unter der größer gewordenen Diversität in den Klassen leiden. Wenn man diese Erkenntnis ernst nimmt, gibt es keine Ausreden mehr. Wir müssen jetzt die Schulen so ertüchtigen, vor allem pädagogisch und didaktisch, dass sie mit den diversen Klassen besser umgehen können.

Wie soll das gehen?

Das Problem ist, dass unsere pädagogischen Konzepte nicht so beschaffen sind, dass sie gutes Lernen unter diesen erschwerten Bedingungen ermöglichen. Die Buntheit können wir sowieso nicht mehr abschaffen. Die ist in modernen Gesellschaften nun mal Realität. In den Lehrerkollegien gibt es so viel pädagogischen Sachverstand, dass es merkwürdig wäre, wenn es einem eingeschworenen Team nicht gelingen würde, Lern- und Erziehungskonzepte zu entwickeln, die mit der Vielfalt der Begabungen, kulturellen und religiösen Prägungen umgehen können. Ich bin davon überzeugt, dass eine Rückkehr zum begabungsgerechten Lernen, vor allem in den Hauptfächern, dazu beitragen könnte, dass alle Schülergruppen gute Lernleistungen erzielen. Warum sollte man nicht die schwachen Lerner in einer Lerngruppe zusammenfassen? Sie würden davon mehr profilieren, als wenn sie im Klassenverband von 25 Schülern untergehen.

Was für Konzepte empfehlen Sie sonst noch, um die Probleme anzupacken?

Zum Beispiel einen durchgehenden fachlichen Förderunterricht für Schüler, die Verständnisprobleme haben. Gute Erfahrungen machen Schulen mit Patenmodellen: Ältere Schüler geben jüngeren fachliche Nachhilfe. Dann die schon genannten Kommunikationsübungen und Rollenspiele. Lehrkräfte müssen lernen, genau hinzuschauen, um Lernkrisen rechtzeitig zu erkennen. Nützlich wäre es, wenn Lehramtsstudenten im Studium das Instrument der Lerndiagnostik besser vermittelt bekämen. Dann könnten sie später als Lehrkraft viel schneller erkennen, wenn ein Schüler fachliche Probleme hat. Nichts ist für einen Schüler frustrierender, als wenn er mit seinen Verständnisproblemen über Wochen und Monate hinweg alleingelassen wird.

Gibt es auch etwas Positives von der Schule zu berichten?

Ja, eine Schülergruppe hat von unserem Schulsystem in besonderer Weise profitiert: die Mädchen. Sie sind die Gewinner des Aufstiegs durch Bildung. Sie haben die Jungen, was die Abi-Zahlen angeht, vor ein paar Jahren überholt. Und auch qualitativ sind sie spitze: Unter den besten fünf Schülern eines Abi-Jahrgangs finden sich oft nur Mädchen. Mädchen mit ausländischen Wurzeln haben daran nachweislich einen immer größeren Anteil. Ja, man könnte sagen, dass auch muslimische Mädchen durchstarten. Wir sollten alles tun, um sie auf diesem Weg zu unterstützen. Wir sollten aber auch die Jungen im Auge behalten und vor allem an den Grundschulen besser in den Fokus nehmen – Stichwort: mehr männliche Lehrkräfte.

Das Wort „Lehrer“ fällt bei Ihnen gerade ziemlich oft…

Ich habe vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel geschrieben „Auf den Lehrer kommt es an“. Das kann man ruhig wörtlich nehmen. Lehrer haben es in der Hand, ob das Lernen gelingt oder nicht. Wer eigene Kinder hat, erlebt beim Abendbrot, dass der Sohn oder die Tochter den einen Lehrer loben, weil er so gut erklären kann, und die andere Lehrerin tadeln, weil es in ihrem Unterricht immer chaotisch zugeht. Bei Klassentreffen 20 Jahre nach dem Abitur können sich gestandene Familienväter noch gut an den tollen Geschichtslehrer erinnern, der die historischen Ereignisse so spannend erzählen konnte. Ein guter Lehrer bleibt ewig im Gedächtnis.

Hätten Sie noch ein schönes Schlusswort?

Ich vergleiche die Schule gerne mit einer ewigen Baustelle. Das Haus ist nie fertig. Mal muss man einen Erker anbauen, mal die Veranda erweitern, mal vielleicht den Garten vergrößern. Schule ist nichts Starres, sondern entwickelt sich durch die, die in ihr wirken, stetig weiter. Die Bewohner des Hauses arbeiten für den Moment, denn morgen kann alles schon wieder anders sein. So wie auch sonst im Leben. Überall in der Gesellschaft gibt es Veränderung. Wir leben in einer Welt, die internationaler, digitaler, bunter geworden ist und sich weiter wandelt. Schule darf sich nicht dagegen abschotten. Wir müssen die Schülerschaft so nehmen, wie sie ist. Zu sagen, in diesem Haus haben einige keinen Platz, wäre falsch.

[1] „Nicht das System ändern! Den Unterricht verbessern!“ | Für eine gute Schule (wordpress.com)

Rainer Werner arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer für Deutsch und Geschichte an unterschiedlichen Schulen Berlins. Er hat zahlreiche didaktische Lehrwerke (Ernst Klett und Schroedel Verlag) für den Deutschunterricht verfasst, Vorträge zu pädagogischen und didaktischen Themen gehalten und Seminare und Workshops zur Weiterbildung von Lehrern durchgeführt. Rainer Werner schreibt pädagogische Beiträge für Zeitschriften und Tageszeitungen (FAZ, WELT, CICERO-online) und Bücher über den Lehrerberuf („Auf den Lehrer kommt es an“, „Lehrer machen Schule“). Seit seiner Pensionierung war er an acht Berliner Schulen als Vertretungslehrer tätig.



Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen

Frankfurt am Main, 22.11.2023: Über 40 führende Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen fordern zusammen mit Kinder- und Jugendärzten von den Kultusminister:innen der Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen.

Unter den Erstunterzeichnern sind führende Experten wie der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Universität Augsburg), die Mediziner Prof. Manfred Spitzer (Universitätsklinik Ulm) und Prof. Thomas Fuchs (Jaspers-Lehrstuhl Universität Heidelberg) sowie der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg).

„Wir fordern die Kultusminister:innen aller 16 Bundesländer auf, bei der Digitalisierung an Schulen und Kitas ein Moratorium zu erlassen“, sagt Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Aufrufs. „Die wissenschaftliche Erkenntnis ist inzwischen, dass Unterricht mit Tablets und Laptops die Kinder bis zur 6. Klasse nicht schlauer, sondern dümmer macht. Hinzu kommen laut Studien negative gesundheitliche, psychische und soziale Wirkungen durch den vermehrten Einsatz digitaler Geräte im Unterricht. Jetzt ist der Zeitpunkt, dass die Schulpolitik auf die Pädagogen und Kinderärzte dieses Landes hört und den Versuch des digitalen Unterrichts abbricht! In Schweden ist es bereits so weit: Die schwedische Bildungsministerin stoppte den Tablet-Einsatz in der Primarstufe. Das können die Kultusminister:innen in den Ländern nun auch tun.“

Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch die schwedische Regierung korrigierte 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professor:innen des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung von Schulen in einem Gutachten als falsch kritisierte: Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die behaupteten positiven Befunde nicht belegbar seien. Die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe. Die Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: „Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen“ (Gutachten des Karolinska-Instituts von 2023, einer der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt).

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) hat 2023 Leitlinien zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend herausgegeben, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie von vielen Fachverbänden aus Medizin, Psychologie und Suchtprävention mitgetragen werden. Die wichtigste Empfehlung für alle Altersstufen: Reduktion der Bildschirmzeiten, keine eigenen Geräte für Kinder und keinen unkontrollierten, unbegleiteten Zugang zum Internet.

Der U.S. Surgeon General (oberste Gesundheitsbehörde in den USA) hat 2023 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Sie zeigt detailliert auf, wie stark junge Menschen von digitalen Medien beeinflusst und abhängig werden. Die immer längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter habe Folgen für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Körperunzufriedenheit, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Depression.

Kontakt für Rückfragen: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Redaktionsleitung Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
ralf.lankau@bildung-wissen.eu

Der Moratoriumsaufruf in voller Länge und mit allen Erstunterzeichnern

Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.