Schlagwort-Archive: OECD

Das Entscheidende für den Hirnreifungsprozess ist die Bindung, die Orientierung des Kindes am Gegenüber.

„Lehrer haben einen großen Teil von Schülern da sitzen, die Kleinkinder geblieben sind“

Kindern fehle ein Gegenüber, eine menschliche Person, mit der sie sich auseinandersetzen. Das Bildungswesen habe sich in die falsche Richtung entwickelt: autonomes Lernen (Kinder erarbeiten sich alles alleine), individuelles Lernen (Kinder entscheiden, auf welchem Niveau sie lernen) und Lehrer und Erzieher, die ihrem eigentlichen Beruf gar nicht mehr nachgehen, sondern nur noch sogenannte Lernbegleiter sind. Winterhoff hat seine Beobachtungen nun in dem Buch „Deutschland verdummt – Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut“ herausgebracht [siehe nebenstehende Bücherliste].

Michael Winterhoff, geboren 1955, ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Er studierte von 1977 bis 1983 Humanmedizin an der Universität Bonn. Seit 1988 ist er als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn niedergelassen. Als Sozialpsychiater ist der anerkannte Facharzt auch im Bereich der Jugendhilfe tätig. Er befasst sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht.

stern, 29. Mai 2019, Michael Winterhoff im Interview mit Susanne Baller

Susanne Baller: Sie sagen, Kinder brauchen ein Gegenüber. Was meinen Sie damit?

Michael Winterhoff: Nehmen wir einen Kindergarten, zum Beispiel einen, der gerade mit dem Deutschen Kita-Preis prämiert wurde. Dort herrscht die Vorstellung vor, dass wir Angebote machen, Themenräume, Toberaum, Bastelraum, Café, vielleicht Theaterraum, Matschraum und die Kinder sich in diesen Räumen bewegen und sich das aussuchen, was sie interessiert. Es gibt Kindergärten, da müssen sich die Kinder einloggen, in welchen Raum sie gehen, umloggen, wenn sie in einen anderen gehen. Es ist gewollt, dass die Kinder auf sich gestellt sind. Ich bin Tiefenpsychologe, Analytiker, die Persönlichkeitsentwicklung ist ja eine Wissenschaft. Die emotionale, soziale Psyche ist ein Teil unseres Gehirns, da gibt es einen Hirnreifungsprozess. Und das Entscheidende dafür ist die Bindung, die Orientierung des Kindes am Gegenüber. Wenn die fehlt, kann sich diese Psyche nicht bilden.

Können Sie das beschreiben?

Das Wichtigste, das wir im Leben brauchen, ist nicht lesen, schreiben, rechnen zu können, sondern dass wir über diese Psyche verfügen [Winterhoff geht in seinem Buch „Deutschland verdummt“ auf S. 98f genauer darauf ein]. Das heißt, wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, muss ich mich auf Sie konzentrieren. Es kostet mich überhaupt keine Kraft, alle Impulse in mir zur Seite zu drängen, egal ob ich müde bin oder Hunger habe, damit ich mich auf Sie fokussieren kann. Das ist eine von hunderttausend Leistungen, die wir erbringen: umsichtig sein, weitsichtig sein, vorausdenkend. Wir können Verantwortung für uns übernehmen und für andere und, und, und. Diese Dinge entwickeln sich in den ersten 20 Jahren, wir sprechen von der erworbenen Intelligenz. Wir haben eine Grundintelligenz mitgebracht, die ist unterschiedlich, aber nicht entscheidend, entscheidend ist diese erworbene Intelligenz. Und die kann sich nur bilden, wenn das Kind von klein auf ein Gegenüber hat, an dem es sich orientieren kann. Wenn es jemanden hat, der mit dem Kind auch Dinge einübt und sie abverlangt.

Sind dafür nicht auch die Eltern zuständig?

Die wichtigsten Jahre, die das Kind hat, sind die ersten zehn, im Schwerpunkt die ersten sechs. Wenn Eltern das nicht leisten können – und das können immer mehr nicht –, dann müssen die Systeme außerhalb übernehmen. Wenn die aber in Richtung autonom lenken, sind die Kinder verloren.

Wieso können Eltern das nicht leisten?

Natürlich gibt es Eltern, die die Möglichkeit haben, sich die Zeit für die Kinder zu nehmen. Es gibt Eltern, die es als wichtig erachten, die Schulleistung zu begleiten. Es gibt auch Eltern, die es sich finanziell leisten können, besonders für sich und ihr Kind zu sorgen. Aber da reden wir von privilegierten Ausnahmen. Die Gruppe der Eltern, die das nicht leisten können, ist sehr groß geworden. Und wir können und dürfen diese Kinder nicht alleine lassen. Wir brauchen heute, um Kinder entwickeln zu können, viel kleinere Gruppen. Ich fordere die Umstellung, dass wir Lehrer wieder als Lehrer sehen, dass Erzieher wieder Erzieher sind. Die können wir sofort machen, die kostet noch nicht mal Geld. Aber wir müssen, wenn uns die Kinder wichtig sind und wir als Gesellschaft Menschen haben wollen, die so leben können wie wir, investieren. Ich brauche in der Grundschule auf 15 Kinder zwei Lehrer oder einen Lehrer und einen Erzieher. Ich brauche das auch in der Nachmittagsbetreuung in der Offenen Ganztagsschule, da ist der Schlüssel aktuell 1:25 und diese Person ist oft noch nicht mal Erzieherin.

Können Sie erzählen, wie Sie die Veränderung der Kinder in der Praxis erleben?

Auf die Psyche eines Kindes kann man nur durch Beobachtung schließen. Ich bin seit mehr als 30 Jahren tätig, ich habe also noch andere Kinder im Verhalten erlebt. Ich habe Standardsituationen geschaffen und da haben sich die Kinder in ihrem Verhalten gravierend verändert. Die Psychoanalyse hat sich mit der Persönlichkeitsentwicklung befasst und das Verhalten, das ich heute bei Kindern und Jugendlichen sehe, entspricht dem Verhalten eines Kleinkindes. Wenn ich früher einen Fünfjährigen gefragt habe: „Was machst du gern im Kindergarten?“, hat er gestrahlt und erzählt, was er da spielt. Wenn ich gefragt habe mit wem, hatte er die Namen der Kinder präsent. Er hat es mir so erzählen können, dass ich mir etwas darunter vorstellen konnte und er war im Affekt. Das heißt, wenn ich nach Freunden gefragt habe, war das Gefühl, dass er das Kind dabei hatte, im Raum. Wenn man heute einen Fünfjährigen fragt, was er gerne im Kindergarten macht, dann kommt häufig die Antwort: „Weiß ich nicht.“ Wenn ich dann nachfrage, was man dort machen kann, tun manche Kinder so, als müssten sie lange nachdenken oder sie müssen vielleicht auch lange nachdenken. Dann kommt irgendwas wie: mit Autos spielen. Die Antworten sind ohne Affekt. Wenn ich nach den anderen Kindern frage, wissen viele gar nicht die Namen von denen, mit denen sie spielen. Sie nehmen nur sich wahr. Sie stehen auf einer Entwicklungsstufe von 10 bis 16 Lebensmonaten, das ist ein Abschnitt, wo man nur sich sieht und gar nicht erkennt, dass es ein Gegenüber gibt.

Bei Jugendlichen gibt es ähnliche Veränderungen?

Ein Beispiel: Ein 15-Jähriger aus Berlin, top erzogen, ausgezeichneter Schüler am Gymnasium, beschimpft seine Mutter mit den übelsten Schimpfworten, wenn er seinen Willen nicht kriegt. An einem Sonntagmorgen bricht er in einem Baumarkt ein, um eine Kettensäge zu klauen, und nimmt noch seinen elfjährigen Bruder mit. Warum? Weil der Motor seines Carts kaputt war und der einer Kettensäge sich als Ersatz eignet. Er schneidet also den Drahtzaun auf und wundert sich, dass fünf Minuten später die Polizei dasteht. Wobei alles voller Kameras und Alarmanlagen ist. Dass man am helllichten Tag gesehen werden könnte und jemand die Polizei ruft, begreift er nicht. Dass der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht und dass er seinen kleinen Bruder da mit hineingezogen hat, auch nicht. Er kann einfachste Zusammenhänge nicht erkennen. Und als er vor mir saß, wusste er nicht, was er hier sollte. Und das erklärt sich nur über den Reifegrad in der emotionalen sozialen Intelligenz eines Kleinkindes. Und das ist das, was die Betriebe heute zu Recht sagen, wenn sie Praktikanten anstellen oder Auszubildende: Sie haben keine Arbeitshaltung, die sehen auch die Arbeit nicht, die haben keinen Sinn für Pünktlichkeit, erkennen Strukturen und Abläufe in der Firma nicht, sie können nicht priorisieren, nicht feststellen, welcher Reiz wichtig ist. Das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht.

Seit wann ist das so?

Seit Ende des letzten Jahrtausends geht es bergab. Wir haben das Glück, in einer Hochkultur zu leben, die vor 200 Jahren die Kindheit erfunden und sich Gedanken über das Bildungswesen gemacht hat. Diese enorme Psyche, die wir haben, würden wir unseren Kindern automatisch mitgeben, wenn wir in uns ruhen würden, abgegrenzt und klar wären. So war das bis 1995, die Menschen waren viel zufriedener als heute. Hätte man 1990 solche Lernmethoden vorgestellt, mit offen und frei und auf sich gestellt, hätte man die Leute für irre erklärt. Weil man ein Gespür für Kinder hatte und dafür, was für sie gut und wichtig ist. Die Digitalisierung hat die Menschen verändert.

Wie macht sich das bemerkbar?

Als Kinderpsychiater erlebe ich das ständig in meiner Praxis. Wenn Sie mal sehen, wie wenig Kinder heute mit fünf Jahren noch können – eine Schere bedienen oder einen Stift, das wäre eine Ausnahme. Wenn Sie mal sehen, was sie Ende der vierten Klasse können: 1995 konnten die Kinder noch drei- bis viertausend Wörter richtig schreiben, in schöner Schrift und völlig sicher. Wenn Sie sich das heute angucken, ist das einfach traurig und auch fahrlässig. Man könnte das verändern, aber das ist ein dickes Brett. Es kann nur gelingen, wenn die Eltern sagen: Wir wollen mehr Qualität, wir wollen eine Änderung. Aber letztendlich ist auch die Industrie gefragt, damit die Bildungspolitik sich endlich ändert. Bildungspolitik in Deutschland ist Ideologie und die ändert sich mit jedem Regierungswechsel.

Was ist in den Schulen passiert?

Die Schulen wurden in den letzten 20 Jahren kaputtreformiert, die Lehrer können nicht mehr. Auf die wahren Probleme schaut man nicht, dass wir, wie es bis 1995 noch war, nicht mehr darüber verfügen können, dass alle Kinder eine Schulreife mit sich bringen. Damals wollten die Kinder in die Schule, waren lernwillig, wissbegierig und haben auch Dinge gemacht, zu denen sie keine Lust hatten, üben, Hausaufgaben etc. Und heute haben die Lehrer einen großen Teil von Schülern da sitzen, die Kleinkinder geblieben sind und sich nicht haben entwickeln können. Wir haben an den Bedürfnissen der Kinder vorbei ein ganzes Bildungswesen auf den Kopf gestellt.

Und das zieht sich bis ins Berufsleben durch?

Bei vielen. Ich befasse mich nicht mit den 50 Prozent der Heranwachsenden, die super gelungen sind und bestens ins Leben gehen können. Ich bin als Arzt damit befasst, wenn etwas nicht stimmt. Und bei den anderen 50 Prozent haben wir etwas versäumt und darauf mache ich aufmerksam. Die Veränderung des Bildungswesens kommt ja nicht von Lehrern oder Eltern, sondern ist eine Idee der OECD und von Ideologen gewesen und über die Bildungspolitik von oben nach unten durchgedrückt worden. Heute hat jeder zweite Schulabgänger Probleme in der Berufsfindung. Das betrifft alle Gruppen. Wir haben im Bereich der IHK-Studie ein Drittel der Lehrstellen gar nicht besetzt, ein Viertel Abbrecher, ein Drittel braucht Nachhilfe in Deutsch und Mathe und im Studium ist es dasselbe. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung sagt, dass 50 Prozent gar keine herkömmliche Hochschulreife mit sich bringen, auch hier gibt es große Probleme in Deutsch und Mathe. Auch hier muss Nachhilfe gegeben werden. Ich finde es äußerst bedenklich, wenn nach Studienabschluss mit dem Bachelor oder Master 38 Prozent in der Probezeit in Firmen nicht übernommen werden, weil beklagt wird, dass ihnen soziale Fähigkeiten fehlen. Soft Skills, sich entsprechend auf die Firma einzustellen, teamfähig zu sein oder dass sie sich selbst überschätzen. Wir bilden die Kinder an dem, was man im Leben braucht, vorbei.

Zum Artikel:  https://www.stern.de/familie/kinder/michael-winterhoff–jugendliche-schueler-sind-auf-dem-niveau-von-kleinkindern-8728324.html

Bildungsgerechtigkeit: „Differenzierung nach Leistungsgruppen“

Was Risikoschülern hilft

Integratives Lernen ist für schwache Schüler weniger zuträglich. Die Aufteilung in Leistungsgruppen wäre viel gerechter.
F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 15.11.2018, von Heike Schmoll

Vor kurzem hat der für Bildung bei der OECD Verantwortliche Andreas Schleicher zum wiederholten Mal eine Sonderauswertung der Pisa-Daten vorgestellt, in der er Deutschland eine bleibend hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft attestiert. Seit Beginn der OECD-Studien stehen die Länder mit strikter und früher Aufteilung in weiterführende Schulformen im Rampenlicht der Kritik. Sie hätten ein deutlich geringeres Leistungsniveau, eine stärkere soziale Undurchlässigkeit und benachteiligten gerade die leistungsschwachen Kinder und die aus schwierigen Verhältnissen.

Doch Schleichers Ratschlag, Schulen in Problemvierteln besser auszustatten, wird in der Berliner Schulrealität täglich Lügen gestraft. Dort gibt es zusätzliche Lehrerstellen, mehr Geld und trotzdem keine Leistungsverbesserungen. Die betroffenen Schulleiter sagen offen, an Geld fehle es ihnen nicht, wohl aber an kompetenten Lehrern und an Sozialarbeitern. Doch dafür interessiert sich die OECD offenbar nicht, sie begnügt sich damit, kurzzeitiges öffentliches Aufsehen zu erregen.

Wie die Organisation arbeitet, konnte man zuletzt im Januar erleben, als eine Pisa-Sonderauswertung zur Resilienz erschien und Deutschland mit seiner anscheinend geradezu ständestaatlichen Sortierung in weiterführende Schulen wieder einmal der Buhmann zu sein schien. Wer dann das Originalpapier las, konnte nichts darüber finden, vielmehr war die übliche Deutung nur in die Presseerklärung eingefügt worden. Einige Anfragen an Andreas Schleicher und die Autoren der Studie blieben unbeantwortet.

Das eigentlich Skandalöse daran aber ist, dass die Pisa-Daten für die Beurteilung der Leistungsgerechtigkeit und des Einflusses der sozialen Herkunft gar nicht geeignet sind, weil sie die kognitiven Fähigkeiten der Schüler nicht erfassen, die Lernen und Bildungserfolg bestimmen. Gelegentlich ist das auch eingewandt worden. Gleichwohl wird ungebrochen behauptet, die Aufteilung in verschiedene Schulformen steigere nur die Bildungsungerechtigkeit und die höhere Bildung werde in Deutschland gewissermaßen vererbt. Das wird sie in der Tat insofern, als die kognitive Entwicklung nach sozialer Herkunft schon unterschiedlich ist. Doch das ist überall so, auch in Ländern mit völlig integrierten Systemen. Man müsste zeigen, dass sich der Effekt der sozialen Herkunft mit der Differenzierung in Schularten im Vergleich zur Integration verstärkt – wenn die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten berücksichtigt werden. Nun hat der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS) ausgewertet, die die kognitiven Fähigkeiten der Kinder enthält und zu den wenigen Studien gehört, die den Übergang und die Leistungsentwicklungen über mehrere Klassen hinweg verfolgt. Die Standardposition, wonach die Differenzierung keine sonderlichen Effekte auf den Bildungserfolg habe, sondern nur den Einfluss der sozialen Herkunft verstärke, konnte er dabei widerlegen: Die Verteilung auf die verschiedenen Bildungswege, die Bildungsbeteiligung, wird mit der strikten Aufteilung nach den Fähigkeiten, speziell über die Verbindlichkeit der Empfehlungen, leistungsgerechter, und der Einfluss der sozialen Herkunft ändert sich dabei nicht.

Die „National Educational Panel Study“ (NEPS)] untersuchte die Frage: ob die Einschränkung der Wahlfreiheit beim Übergang in die Sekundarstufe durch die Verbindlichkeit der Empfehlungen der Schule die Einflüsse der vorherigen Leistungen einerseits und der sozialen Herkunft andererseits verändert. Das Ziel ist die Systematisierung verschiedener Ansätze und Befunde durch ein übergreifendes theoretisches Modell der Effekte der Differenzierung der Bildungswege nach den Leistungen und der empirische Test dieses Modells mit Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS) für die deutschen Bundesländer. Der zentrale Befund lautet: Die Verbindlichkeit verändert die Effekte der sozialen Herkunft auf den Übergang nicht, es verstärkt sich jedoch die Leistungsgerechtigkeit, verstanden als Kopplung des Übergangs an die Leistungen der Kinder in der Grundschule oder die kognitiven Fähigkeiten. Für das mit der Differenzierung verbundene Ziel einer Verstärkung der Effizienz des schulischen Kompetenzerwerbs über die kognitive Homogenisierung der Schulen und Schulklassen wären danach nicht die weitere Öffnung und Liberalisierung, sondern die Stärkung der Selektivität nach den kognitiven Fähigkeiten und Leistungen der Kinder angeraten, auch um Abweichungen des Übergangs von den Gymnasialempfehlungen nach unten zu verhindern – und das gerade für die talentierteren Kinder aus den unteren Schichten, die eine solche Empfehlung nach oben tatsächlich erhalten haben.
Aus: Leistungsgerechtigkeit und Bildungsungleichheit, Effekte der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlungen beim Übergang auf das Gymnasium. Ein Vergleich der deutschen Bundesländer mit den Daten der „National Educational Panel Study“ (NEPS)

Daraus ließe sich schließen, dass es für die Leistungsgerechtigkeit und die Begrenzung des Einflusses der sozialen Herkunft nicht ratsam ist, den Elternwillen frei zu geben. Das sollte auch für die Abweichungen von den Grundschulempfehlungen nach unten gelten, wenn also Eltern ihr Kind trotz einer Gymnasialempfehlung nicht aufs Gymnasium lassen. Gerade die talentierten Kinder aus den unteren Schichten werden von ihren Eltern nicht dorthin gelassen – aus Vorsicht und weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt.

Das hat Folgen auch für die Leistungen. Fehlplazierungen bei nicht leistungsgerechter Aufteilung führen nämlich dazu, dass die Schulklassen nicht kognitiv homogener werden, was eigentlich das Ziel der Differenzierung ist: Mit der Homogenisierung ließen sich die Curricula inhaltlich den unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen besser anpassen, etwa eher akademisch oder berufsbezogen, und der Unterricht darauf dann auch stärker fokussieren, wodurch die Leistungen im Vergleich steigen könnten.

Das scheint in der Tat so zu sein. Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für die verschiedenen Bundesländer hat für 2009 gezeigt, dass strikter differenzierende Bundesländer wie Bayern, Sachsen und früher auch einmal Baden-Württemberg deutlich bessere Leistungen hervorbrachten, gerade bei den leistungsschwächeren und den Migrantenkindern, als Berlin, Bremen und auch Hessen mit einem liberaleren System der Aufteilung. In Baden-Württemberg haben sich nach dem IQB-Bericht für das Jahr 2015 die Leistungen in allen Dimensionen erheblich verschlechtert. „Durchgehend ungünstige Veränderungen zeigen sich nur in einem Land (Baden-Württemberg)“, hielten die Forscher damals fest.

Dieser Befund zeigt sich nun auch allgemein und unter Kontrolle aller wichtigen Bedingungen durch NEPS-Daten: Mit der strikten Differenzierung nach den Fähigkeiten steigen die Leistungen, und es gibt auch hierfür keine stärkeren Effekte der sozialen Herkunft als in integrierten Systemen. Der wichtigste Mechanismus dafür ist wirklich die kognitive Homogenität. Sie führt immer zu höheren Leistungen, also auch in integrativen Systemen. Am günstigsten aber ist die Kombination von kognitiver Homogenität der Schulklassen und der weiteren Homogenisierung durch eine strikte Differenzierung.

Zu erwähnen ist, dass von diesen Effekten nicht – wie mancher jetzt meinen könnte – nur die leistungsstarken Kinder profitieren, sondern gerade die leistungsschwachen. Anders als gedacht haben die eher leistungsschwächeren Kinder also nichts von der Heterogenität, eher im Gegenteil. Sie kommen mit einem sehr heterogenen Umfeld schlecht zurecht. Bei den besonders Leistungsstarken ist es etwas anders: Für sie ist es gleichgültig, wie homogen die schulische Umgebung ist, sie profitieren sogar leicht davon, wenn es heterogener wird.

Was in früheren Gesamtschulstudien der siebziger Jahre schon einmal belegt wurde, lässt sich nun also auch mit den Daten des NEPS belegen: Integrative Systeme sind für die schwächsten Schüler am wenigsten zuträglich, die leistungsstarken können mit Komplexität viel besser umgehen und zuweilen sogar davon profitieren. Die Schwächsten dagegen geraten rasch ins Hintertreffen. Mit anderen Worten: Differenzierung nach Leistungsgruppen wäre im Sinne der Bildungsgerechtigkeit das Gebot der Stunde.

Natürlich gibt es auch bei strikter Differenzierung weiterhin Unterschiede im Bildungserfolg nach der sozialen Herkunft, aber nicht anders als in integrierten Systemen. „Für die Erklärung der Leistungen kommen gewiss auch Effekte aus der Qualität der Schulen und der Qualifikation des Lehrpersonals hinzu. Diese Effekte gibt es auch, anders als jene, die mit der Differenzierung nach den kognitiven Fähigkeiten zu tun haben, überall, auch bei Integration. Qualität der Schulen und Qualifikation der Lehrer könnten zudem, auch darin anders als die kognitiven Fähigkeiten, institutionell geändert werden. Eine irgendwie schon sachlogische Verbindung zwischen Leistungsdifferenzierung und einer Stratifikation der Schulen und des Bildungserfolgs besteht jedenfalls nicht“, sagt Esser.

Warum aber hielt und hält sich die Standardposition schon so lange? Die Antwort liegt nahe: Weil bei Pisa entscheidende Informationen nicht enthalten waren, daher die theoretisch nötigen Analysen nicht vorgenommen werden konnten und sich so systematische Verzerrungen zuungunsten der leistungsbezogenen Bedingungen und Vorgänge geradezu ergeben mussten. Umso wertvoller erweisen sich nun die NEPS-Daten zu einer ersten Klärung der meisten offenen Fragen. Und der Befund ist eindeutig: Mit einer strikten Differenzierung nach Leistung wird die Bildungsbeteiligung leistungsgerechter und die Leistungen (in der Sekundarstufe) besser – und das, ohne dass sich der Einfluss der sozialen Herkunft verstärkt. Wer als Bildungspolitiker dafür sorgen will, dass sich die Gruppe der Risikoschüler verringert, muss eigentlich strikt differenzieren und in kognitiv möglichst homogene Schulklassen aufteilen. Dabei muss allerdings gewährleistet sein, dass nach Fähigkeiten und Leistungsstand aufgeteilt wird.

Umso wichtiger wären entsprechend verlässliche Leistungstests am Ende der Grundschulzeit und darauf gestützte leistungsgerechte Empfehlungen. Nur so könnte vermieden werden, dass Grundschullehrer Kinder aus privilegierten Familien eher für gymnasialgeeignet erklären und talentierte Kinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien unterschätzen. All das spricht für eine bindende Grundschulempfehlung, die politisch in keinem Bundesland mehr durchsetzbar erscheint. Normierte Testverfahren für den Übergang könnten die Einschätzung der Lehrer objektivieren. Diese Ergebnisse dann in einem verpflichtenden Gespräch mit den Eltern zu erläutern wäre eine Möglichkeit, Elternwillen und Leistungseinschätzung in praktikabler Weise zusammenzubringen. Dafür plädiert die Dortmunder Bildungsforscherin Ricarda Steinmayr in einer umfangreichen Studie.

Esser hat auch das Ergebnis der Sonderauswertung der OECD zur Resilienz vom Anfang dieses Jahres neu analysiert. Dabei zeigt sich, dass die kognitive Zusammensetzung der Schulklassen in den Ländern mit strikter Differenzierung bei Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen einen zusätzlichen positiven Einfluss auf die Leistungen hat. In den offenen Systemen tut sich für sie nichts. Es trifft also auch hier nicht zu, was die Standardposition seit Pisa besagt und was die OECD regelmäßig mit ihren Sonderauswertungen zu bestätigen vorgibt: dass die Differenzierung die Leistungen nicht verbessert und (nur) die soziale Bildungsungleichheit verstärkt.

zum Artikel:  F.A.Z., BILDUNGSWELTEN, Heike Schmoll, Starken Schülern hilft´s, schwachen eher nicht

Eingefügte Beiträge kursiv im Einzug und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

„Das, was für einen guten Unterricht unverzichtbar ist, das gemeinsame Gespräch über die Stoffinhalte, bleibt auf der Strecke.“

Entzaubert

Am Ländervergleich schulischer Leistungen wird deutlich, dass das „längere gemeinsame Lernen“ die damit verbunden positiven Erwartungen nicht erfüllt.

5.8.2018, von Rainer Werner, Berlin

Rainer Werner war Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

Fast jeder vierte Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Diese ethnische Vielfalt bildet sich in keiner anderen Institution so sichtbar ab wie in der Schule. Kinder aus aller Herren Länder lernen gemeinsam mit deutschen Kindern. Die Vielfalt der Herkunftssprachen ist enorm. Alle Schüler bringen die geistigen und kulturellen Prägungen mit, die sie im Elternhaus und in ihrem sozialen Milieu erworben haben. Heute lautet die Gretchenfrage der Pädagogik: Wie kann man die Vielfalt an Begabungen, sprachlichem Vermögen, sozialem Verhalten und kulturellen Prägungen pädagogisch so handhaben, dass für jedes Kind das optimale Lernergebnis herauskommt. Nicht-Pädagogen, die zum ersten Mal eine quirlige Multi-Kulti-Klasse live erleben, erscheint diese Aufgabe als die Quadratur des Kreises. Sie empfinden die Lehrkraft auf einer „mission impossible“. Doch die Lehrkräfte wissen sich offensichtlich zu helfen. Darum gelingt auch der Unterricht im ganzen Land überwiegend konfliktfrei. Auf einem anderen Blatt steht jedoch die Frage, wie sich der Umgang mit der heterogenen Schülermischung in den Lernergebnissen niederschlägt.

Rot-grüne Bildungspolitiker glauben, das Erfolgsrezept für heterogene Schulklassen gefunden zu haben: im „längeren gemeinsamen Lernen“. Dieses Konzept führt das in der Grundschule praktizierte gemeinsame Lernen bis zur 10. Klasse der Sekundarstufe I fort. Die äußere Fachleistungsdifferenzierung, die Schüler nach ihren Fähigkeiten in Kurse mit unterschiedlichem Anspruchsniveau einordnet, ist dabei verpönt. Die großen Unterschiede im Lernvermögen der Schüler sollen vor allem durch Binnendifferenzierung aufgefangen werden. Die Länder, in denen  CDU/CSU in unterschiedlichen Koalitionen regier(t)en, setzen  eher auf das herkömmliche  dreigliedrige System (Bayern) oder auf ein Zwei-Säulen-Modell (Thüringen, Sachsen), das den  integrierten  Schulformen (Mittelschule, Oberschule) Fachleistungskurse vorschreibt.

Der „Bildungsmonitor“ des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln bewertet regelmäßig die Qualität der Schulen aller Bundesländer und entwickelt daraus eine Rangfolge. Auch die PISA-Studie der OECD erlaubt die Ermittlung der Schulqualität der Bundesländer. In den letzten Jahren hat sich die Rangfolge der Länder relativ verfestigt. An der Spitze liegen Bayern, Sachsen und Thüringen, am Ende Bremen und Berlin. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, wie in diesen Ländern der Unterricht in der Sekundarstufe I gehandhabt wird. Hier werden die Weichen gestellt, ob ein Schüler die Schule mit dem Mittleren Schulabschluss (MSA) oder ohne Abschluss verlässt. Bayern hat seine Spitzenstellung seit Jahren verteidigt, weil es unbeirrt vom Zeitgeist am gegliederten Schulsystem festhält. Das Gymnasium dürfen nur Schüler besuchen, die einen Notendurchschnitt von 2,33 in den Fächern Deutsch, Mathe, Heimat- und Sachunterricht vorweisen können. Anders als in den meisten Bundesländern, wo nur der Elternwille zählt, bietet diese Notenschwelle die Gewähr dafür, dass am Gymnasium eine relativ homogene Leistungskultur vorherrscht. Dass dann die Lernergebnisse gut ausfallen, kann einen Kenner nicht verwundern.

In Thüringen und Sachsen existiert ein Zweisäulen-Modell. Neben dem Gymnasium gibt es die „Oberschule“ (Sachsen) bzw. „Regelschule“ plus Gesamtschule (Thüringen). Die beiden integrierten Schulformen „Oberschule“ und „Regelschule“ bieten zwei Bildungsgänge an, die zum Haupt- oder Realschulabschluss führen. Da die beiden Schulformen keinen gymnasialen Zug haben, ist die Schülerschaft relativ homogen. Die Gesamtschule, die es in Thüringen zusätzlich gibt, kann den Spagat zwischen Kindern mit Hauptschul- und Gymnasialempfehlung nur meistern, indem sie die Schüler, wie es an dieser Schulform seit jeher üblich ist, in Fachleistungskursen unterrichtet. Diese klare Trennung von Gymnasium und integrierter Schulform hat mit zu den guten Leistungen der beiden Bundesländer beigetragen.

Anders sieht es in Berlin aus. Neben dem Gymnasium gibt es seit 2010 die Integrierte Sekundarschule. In dieser Schulform sind auch die zahlreichen Berliner Gesamtschulen aufgegangen. Da gerade in Berlin die Heterogenität der Schülerschaft enorm ist, muss der Unterricht differenziert werden. Diese Differenzierung kann unterschiedlich realisiert werden: durch die Einrichtung von Kursen auf verschiedenen Leistungsstufen oder durch Binnendifferenzierung in gemischten Lerngruppen. Die Berliner Schulverwaltung verzichtet darauf, den Schulen die Differenzierungsmethode vorzuschreiben, die am meisten Erfolg verspricht. Stattdessen heißt es im „Berliner Schulgesetz“: „Über Beginn und Formen der Leistungsdifferenzierung entscheidet jede Schule im Rahmen ihres Schulprogramms. Eine Verpflichtung zur äußeren Fachleistungsdifferenzierung besteht nicht“. (§ 22, 4) Im wichtigen Fach Deutsch dürfen sich die Schulen sogar bis zur 9. Klasse Zeit lassen, bevor sie überhaupt leistungsdifferenziert unterrichten müssen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Kollegien, denen vor allem die „soziale Gerechtigkeit“ am Herzen liegt, für die Binnendifferenzierung entscheiden, obwohl Erfahrung und Evidenz des Unterrichts ihnen zeigen müssten, dass das Unterrichten in homogenen Lerngruppen besser gelingt.

Warum ist die Fachleistungsdifferenzierung der Binnendifferenzierung überlegen?

In den Klassen des integrierten Systems ist die Spreizung der Lernvoraussetzungen, des Vorwissens und der Lernmotivation, bei den Schülern gewaltig. Sie stellt den Lehrer vor große methodische Herausforderungen. Es ist nämlich keineswegs leicht, jeden Lernstoff so aufzubereiten, dass er allen Lernniveaus gerecht wird. Binnendifferenzierung gehört zu den schwierigsten Handwerkstechniken eines Lehrers. Und es ist ein zeitlich aufwendiges Verfahren, jedes Unterrichtsmaterial in drei Niveaustufen aufzubereiten. Viele Lehrer begnügen sich deshalb damit, Unterrichtsangebot und Schwierigkeitsgrad auf das mittlere Niveau in der Klasse abzustellen, also auf die Schüler, die die Mehrheit bilden. Die besonders leistungsstarken Schüler bekommen dann nur ungenügende Lernanreize, die leistungsschwachen erhalten nicht die Förderung, derer sie bedürfen. Dies ist leider der pädagogische Alltag an vielen Sekundarschulen.

Gruppenunterricht mit verschiedenen Anforderungsniveaus ist nur ein schwacher Notbehelf. Die Kluft im Leistungsvermögen der Schüler bleibt ja bestehen. Sie wird spätestens dann wieder offen zutage treten, wenn es gilt, die in den Gruppen gewonnenen Lernergebnisse im anschließenden Klassengespräch zusammenzuführen. Mit den unterschiedlichen Lernniveaus so umzugehen, dass alle Schüler einen Lernzuwachs erfahren, erfordert ein hohes Geschick in der Gesprächsführung. Weil dies in heterogenen Gruppen so schwierig ist, begnügen sich viele Lehrer mit der Erarbeitung des Lernmaterials in den Arbeitsgruppen. Sie hoffen, dass das Erarbeitete auch ohne Vertiefung durch die abschließende Diskussion „hängen bleibt“. Das Prinzip Hoffnung ersetzt eine wirkungsvolle Unterrichtstechnik. Das, was für einen guten Unterricht unverzichtbar ist, das gemeinsame Gespräch über die Stoffinhalte, bleibt auf der Strecke.

Es könnte so einfach sein, wenn Bildungspolitiker ihre Parteitagsmanifeste und Gesellschaftsutopien beiseiteließen und ausschließlich das Wohl der Schüler im Auge hätten. Was ist für sie das beste Lernprinzip? In welchen Lerngruppen fühlen sie sich am wohlsten? Ich habe an der Gesamtschule erlebt, wie entspannt man in den homogenen Lerngruppen unterrichten kann, die durch äußere Leistungsdifferenzierung zustande kommen. Ich habe zugleich erfahren, wie wohl sich die Schüler inmitten gleich leistungsstarker Schüler fühlen. Gerne habe ich auch in den Kursen unterrichtet, die von den besonders schwachen Schülern gebildet werden. Wenn man sich auf ihr Verständnisniveau und auf ihre Mentalität einlässt und wenn man ihnen jede mögliche Unterstützung zuteilwerden lässt, werden die Erfolge nicht ausbleiben. In diesen Lerngruppen hatte ich nie das Gefühl, gegen die „soziale Gerechtigkeit“ zu verstoßen, weil ich sie alleine, also „selektiv“, unterrichtete. Im Gegenteil: Die Schüler waren entspannt, weil sie nicht mit den „Überfliegern“ zusammen waren, deren Geistesblitze sie allzu oft als Demütigung empfanden. Und sie wussten es zu schätzen, dass der Lehrer auch ihren Ehrgeiz herausforderte. Manchmal ist soziale Gerechtigkeit dort finden, wo man sie gar nicht vermutet.

2008 startete die Kultusministerkonferenz die Kampagne „Aufstieg durch Bildung – Die Qualifizierungsoffensive für Deutschland“. Darin werden die Bundesländer aufgefordert, in ihren Schulen Voraussetzungen zu schaffen, jedem Kind in Deutschland einen Schulabschluss zu ermöglichen. Von diesem Ziel hat sich unser Land in den letzten Jahren immer weiter entfernt. 2015 betrug die Zahl der Schüler ohne Schulabschluss 5,9 Prozent gegenüber 5,7 Prozent (2014) und 5,6 Prozent (2013). Solange die Qualitätsoffensive der KMK die Unterrichtsmethoden in den schlecht abschneidenden Bundesländern nicht in den Blick nimmt, wird sich daran wenig ändern.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zum Artikel und seiner Website:  https://guteschuleblog.wordpress.com/2018/08/05/entzaubert/

Eine ganze Kleinstadt ohne Schulabschluss

Deutschlandweit summiert sich das Scheitern an der Schule zu rund 47.000 Jugendlichen. Jährlich. Anders gesagt: Das Land leistet sich in jedem Jahr die Einwohnerschaft einer kompletten Kleinstadt, die allenfalls zu Aushilfsjobs in der Lage ist. (Aus: Tagesspiegel, 13.05.2017, Werner van Bebber, Eine ganze Kleinstadt ohne Schulabschluss)

Berliner Quote der Schulabbrecher:  Jeder Zehnte verlässt die Sekundarschule ohne Abschluss – fast doppelt so viele Schüler wie im Bundesdurchschnitt.

Digitales Geräteturnen in der Schule

„Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen“

Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein

Der Ruf nach der Digitalisierung der Schulen ist so laut, so schrill, so penetrant geworden, dass es an der Zeit ist für eine Pause.

Man möchte sie vom Desktop wischen – all die PDFs des Bundesbildungsministeriums, die Zwischenberichte von Arbeitsgruppen, die Expertisen aus IT und Wirtschaft, die humorigen FDP-Wahlplakate mit der Zeile „Digital first. Bedenken second“. Man möchte stattdessen die Frage beantwortet wissen: Von welcher Digitalisierung ist eigentlich die Rede, wenn es um die Schulen geht?

Mit Schwung gehören auch die Studien vom Tisch gewischt, die deutsche Schulen zu Orten der digitalen Ödnis erklären. Diese Studien schüren die Angst, heutige Schüler könnten den Anschluss an eine immer automatisiertere Arbeits- und Kommunikationswelt verlieren. Hallo, die Schüler sind schon jetzt „digitaler“, als gegenwärtige Eltern und Lehrer es jemals sein werden. Natürlich brauchen sie die Hilfe der Schule, um mündige Mediennutzer zu werden und die Chancen des Digitalen von seinen Gefahren unterscheiden zu können; auch vielen Erwachsenen täte Nachhilfe hier gut. Aber brauchen sie dafür Unterricht an digitalen Geräten? Wenn ja, welchen? In welchem Alter, in welchen Schularten und Fächern? Wie oft, wie lange? Mit welchen Inhalten? Vor allem: Mit welchem pädagogischen Nutzen?

Das Bildungsbarometer 2017 des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik verriet, was erwachsene Bürger von Computern in Schulen halten. 63 Prozent der Befragten finden demnach, dass Schüler ein Drittel der Unterrichtszeit für das selbständige Erarbeiten [des Unterrichtsstoffes] am PC nutzen sollten [siehe Grafik und Text unterhalb der Grafik]. Man nehme das wörtlich: Ein Drittel der Unterrichtszeit sind 25 Augenpaare auf 25 Monitore gerichtet, um mit einer Maschine zu lernen, was man im Leben so braucht. Fragt sich, wozu eine solche Studie gut ist [siehe Anmerkung am Ende des Artikels]. Vielleicht dafür, zu zeigen, dass die Diskussion dringend differenzierter geführt werden muss. Dass es absurd ist, die Schulen für Milliarden zu digitalisieren und die Schüler dann vor die Geräte zu setzen, ohne sich ganz genau zu überlegen, was ihnen das bringt.

Aus dem Bildungsbarometer 2017, S. 21:

Andreas Schleicher, als Pisa-Chef der OECD, sagt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führe nicht per se zu besseren Schülerleistungen, das hätten Beobachtungen über ein Jahrzehnt gezeigt. Und die Schülertests Iglu und Timss belegen, dass Grundschüler, die mindestens einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzen, in einigen Fächern niedrigere Kompetenzen zeigen als Grundschulkinder, die seltener vorm PC sitzen.

Gegenbeweise konnte die Forschung bislang nicht liefern, aber das stört die Studienmacher nicht. Diesen Freitag präsentierte die Bertelsmann-Stiftung unverdrossen ihren „Monitor Digitale Bildung“, in dem sie beklagt, die Schule verkenne pädagogische Potenziale der Digitalisierung, hätte weder Strategien noch Konzepte – und schlechtes Wlan sowieso. [Das] klingt so, als müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken. Als sollten sie die pädagogischen Potenziale einer Technik anerkennen (und Konzepte dafür entwickeln), obwohl diese Potenziale bislang nur behauptet sind. Worin sie bestehen, weiß auch Bertelsmann nicht.

Im Tagesspiegel vom 15.09.2017 berichtet Amory Burchard aus der Studie: Bessere Technik erhoffen sich die meisten Lehrkräfte und Schulleitungen aber nicht etwa für den Einsatz im Unterricht. 81 Prozent der Lehrkräfte beziehungsweise 88 Prozent der Schulleiter sehen die Chancen des digitalen Wandels vor allem darin, „administrative Aufgaben besser bewältigen zu können“, heißt es. Und nur acht Prozent der Direktorinnen und Direktoren setzen sich Digitalisierung als strategisches Ziel für die Entwicklung ihrer Schule. Gleichwohl sind etwa 70 Prozent der Pädagogen davon überzeugt, dass digitale Medien die Attraktivität ihrer Schule steigern werden.

Auch an den Haltungen und Kompetenzen der Lehrkräfte müsse noch gearbeitet werden, resümiert die Bertelsmann-Stiftung. Deshalb sollte der Einsatz digitaler Medien zum Pflichtprogramm im Lehramtsstudium und in der Weiterbildung gehören, erklärte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Mit dem „Monitor digitale Bildung“ sondiert die Stiftung auch ein wichtiges Geschäftsfeld des Bertelsmann-Konzerns. Die 2016 gegründete „Bertelsmann Education Group“ etwa hat zahlreiche Bildungsanbieter hinzugekauft, vor allem solche, die auf digitale Bildung spezialisiert sind.  [siehe nachfolgender Beitrag:  Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung – Perfektes Zusammenspiel]

Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Damit die Schulen nicht zur nächsten Reform verdonnert werden, die eine kurzsichtige Politik irgendwann zurücknehmen muss.

Hervorhebungen im Fettdruck und eingerückte Elemente durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel:  Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein, Digitales Geräteturnen in der Schule

siehe auch:  „Digitale Bildung“: Big Brother ist teaching you!
Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?

Das Steuerungselement – Schaffung eines öffentlichen Meinungsklimas:

[Beim ifo Bildungsbarometer] wird nicht untersucht, wie Bildungspolitik bestmöglich gestaltet werden sollte, um das Bildungssystem zu verbessern. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, welche Meinungen die Deutschen haben und in welchen Bereichen und unter welchen Umständen sich politische Mehrheiten für oder gegen Bildungsreformen finden. (S. 17)

Die Ergebnisse zeigen also Bereiche auf, in denen politische Reformen auf öffentliche Akzeptanz treffen und somit leichter umsetzbar sein dürften. (S. 18)

Insgesamt zeigt das ifo Bildungsbarometer deutlich, dass die Bereitstellung bestimmter Informationen bildungspolitische Meinungen verändern kann. (S. 37)

aus ifo Bildungsbarometer 2017:
https://www.cesifogroup.de/de/ifoHome/research/Departments/Human-Capital-and Innovation/Bildungsbarometer/Bildungsbarometer2017.html
ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München

„Digitale Bildung“: Big Brother is teaching you!

Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?

Ein Vortrag bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Kreisverband Böblingen, zu den Bestrebungen von Google, Apple, Microsoft, Bertelsmann und der Telekom, die Bildung in die Hand zu bekommen. Und warum fast keiner diese Unterwanderung bemerkt.

Peter Hensinger, Pädagoge

Wir hatten schon viele Schulreformen, und nun wird von der Kultusministerkonferenz eine weitere angekündigt, die „Digitale Bildung“: Unterricht mit digitalen Medien wie Smartphone und Tablet-PC über WLAN.1 […]

Die Hauptinitiative der Digitalisierung der Bildung kommt von der IT-Branche. Im Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ steht, wer das Bundeswissenschaftsministerium berät – nämlich Akteure der IT-Wirtschaft: Vom Bitkom, der Gesellschaft für Informatik (GI) über Microsoft, SAP bis zur Telekom sind alle vertreten (BUNDESMINISTERIUM 2016:23). Nicht vertreten dagegen sind Kinderärzte, Pädagogen, Lernpsychologen oder Neurowissenschaftler, die sich mit den Folgen der Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Die New York Times schlägt in einer Analyse Alarm: „How Google Took Over the Classroom“  (13.05.2017).2 Mit ausgeklügelten Methoden, den Hype um digitale Medien nutzend, greift Google nach der Kontrolle des US-Bildungswesens, auch der Kontrolle über die Inhalte.
[siehe auch: SZ, 16.06.2017, Google drängt in die Klassenzimmer]

Wer bei der Analyse und Bewertung dieser Entwicklung nur fragt „Nützen digitale Medien im Unterricht?“, verengt den Blick, reduziert auf Methodik und Didaktik und schließt Gesamtzusammenhänge aus. Denn die digitalen Medien sind mehr als nur Unterrichts-Hilfsmittel. Diesen Tunnelblick weitet die IT-Unternehmerin Yvonne Hofstetter. Sie schreibt in ihrem Buch „Das Ende der Demokratie“: „Mit der Digitalisierung verwandeln wir unser Leben, privat wie beruflich, in einen Riesencomputer. Alles wird gemessen, gespeichert, analysiert und prognostiziert, um es anschließend zu steuern und zu optimieren“ (HOFSTETTER 2016:37). […]

Geplant ist, das Schulbuch durch Smartphones oder TabletPCs zu ersetzen. Damit geben wir jedem Schüler eine Superwanze: „Smartphones sind Messgeräte, mit denen man auch telefonieren kann … Dabei entstehen riesige Datenmengen, die dem, der sie analysiert, nicht nur Rückschlüsse auf jedes Individuum erlauben, sondern auch auf die Gesellschaft als Ganzes“ (HOFSTETTER 2016:26). Diese Geräte heben die grundgesetzlich geschützte Privatsphäre auf, sie ist aber ein Garant für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung.3 […]

Die persönlichen Daten aus Facebook, Google und Twitter sind das Gold des 21. Jahrhunderts, v.a. für die Weckung von Konsumbedürfnissen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert deshalb die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Daten, er schreibt, das Ziel von BigData sei es, über den „direkten Kundenzugang … die Kontrolle über die Kundenschnittstelle (zu) gewinnen”. „Ein derartiges Agentenmodell [!!!] gewinnt an Bedeutung, da empirisches Wissen über den Kunden und seine Bedürfnisse von enormem Wert ist” (RB & BDI 2015: 8). Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Industrie Smartphones und TabletPCs in KiTas und Schulen etablieren will. Sie ermöglichen die Datenerfassung bereits dort, wo die Kunden der Gegenwart und Zukunft sozialisiert werden: „Die Schulen werden faktisch zu Keimzellen eines Big-Data Ökosystems“, heißt es in einem BigData Befürworter-Buch (MAYER-SCHÖNBERGER 2014:52). Heute schon ist die Überwachung der Verhaltens-, Kommunikations-, Lern- und Entwicklungsdaten und der Handel mit den digitalen Zwillingen ein Milliardengeschäft.5 […]

Führt der Einsatz von digitalen Medien zu besserem Lernen?

Konnte inzwischen mit Vergleichsstudien belegt werden, dass digitale Medien zu besseren Lernerfolgen führen als die bisherige „analoge“ Erziehung? Nein, im Gegenteil. Dazu verweise ich auf die Beiträge auf der Anhörung im hessischen Landtag am 14. Oktober 2016 zum Thema „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“. Die dort vortragenden Experten Burchardt, Lankau und Spitzer weisen nach, dass alle bisherigen Untersuchungen ergaben, dass der Einsatz der digitalen Medien nicht zu besserem Lernen führt. (BURCHARDT 2016, LANKAU 2016, SPITZER 2016). Dazu vier Beispiele: […]

Fußnoten und Literaturhinweise sowie weitere Artikel des Referenten siehe Vortragsskript.

Zum Vortrag:  Peter Hensinger, Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer? Diskussionsveranstaltung beim Kreisverband der GEW, Kreisverband Böblingen, am 21.06.2017.


Der Leiter der Telekom-Studie „Schule digital. Der Länderindikator 2015“, Wilfried Bos (Institut f. Schulentwicklung IFS, TU Dortmund), weist auf den fehlenden Nutzen von Digitaltechnik für bessere Unterrichtsergebnisse hin:

„Die Sonderauswertung hat auch gezeigt, dass Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an.“ (S. 8)

Zitiert wird die PISA-Sonderauswertung über „Students, Computers and Learning“. Die laut Bos daraus folgende Konsequenz – noch mehr Digitaltechnik für die Schulen, noch mehr Schulungen der Lehrerinnen und Lehrer durch IT-Anbieter und verpflichtende Direktiven der Rektorate an die Lehrerkollegien, dass Digitaltechnik im Unterricht verpflichtend eingesetzt werden müsse – dürfte eher dem Auftraggeber der Studie (die Telekom ist ein Anbieter technischer Infrastruktur und digitaler Dienstleistungen) denn pädagogischer Notwendigkeit geschuldet sein. Auffällig ist, dass weder nach Altersstufen noch nach Fachinhalten, nicht nach Schulformen oder Unterrichtsmethoden unterschieden wird. Digitaltechnik und die Beschulung durch Software scheint selbst dann Allheilmittel zu sein, wenn OECD-Studien das Gegenteil belegen.

aus:  Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Digitalisierung und schulische Bildung, Anhörung durch die Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“, Thema „Digitalisierung“, S. 4f (14. Oktober 2016)

weitere Publikationen zu „Digitalisierung und schulische Bildung“ unter: http://lankau.de/category/publikationen/vortraege/

siehe auch:  Bündnis für HUMANE BILDUNG, DigitalPakt Schule der Kultusminister: Irrweg der Bildungspolitik


[…] Die Diskussion um die „Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft“ oder die „digitale Bildungsrevolution“ entbehrt eines wesentlichen Fundaments, nämlich eines rational gebildeten Begriffs von Bildung, ohne den man der sich abzeichnenden Entwicklung und auch dahinter stehenden Interessen in vielfacher Hinsicht hilflos ausgeliefert ist. Die vollmundigen Versprechungen stehen auf tönernen Füßen, es gibt keine empirischen Belege für die in Aussicht gestellten positiven Effekte im Bildungswesen. Die zunehmende Technisierung unterrichtlicher Prozesse droht auf fundamentale und genuine Aufgaben von Schule und Unterricht gegenläufig zu den Verheißungen destruktive Wirkungen zu entfalten, indem sie deren konstitutive Elemente zurückdrängt und beschneidet: Schule und Unterricht als Orte des Miteinanders, der vielfältigen sozialen Interaktion, einer gelebten Solidarität, unterschiedlichster Lehr-Lern- und Sozialformen, des Ausfechtens von Konflikten und Sich-Abarbeitens am Gegenüber, der Freude am (besseren) Argument und der Sache und des gemeinsamen Fortschreitens im Erkennen. Insofern erweist sich der digitale Wandel als dialektischer Transformationsprozess. Es drohen umzuschlagen: selbstbestimmtes Lernen in Fremdsteuerung, Transparenz in Überwachung, Emanzipation durch Zugang zu Informationen in Abhängigkeit von intransparenten, technokratischen Strukturen mit autoritären Zügen, Bildungsgerechtigkeit in kontingenten Zugang zu „analogen“ Bildungsgütern, Fortschritt in Rückwärtsgewandtheit, Wissenschaft in Fixierung des Intellekts auf das Bestehende. […]

aus: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, Dr. Burkard Chwalek, erschienen in: Beruflicher Bildungsweg – bbw, 7 + 8/2017, S. 6-10

„Was Pisa testet, ist nicht Bildung, sondern Pisa-Kompetenz“

Kölner Wissenschaftler Matthias Burchardt: „Pisa-Studie ist manipulativer Zahlensalat“

Das Gespräch führte Kerstin Meier, Kulturredaktion, Kölner Stadt-Anzeiger:

Herr Burchardt, welche Rolle spielen die Ergebnisse der Pisa-Studie für Sie?
Gar keine. Denn der wissenschaftliche Erkenntniswert ist relativ gering und die politische Wirkung aber in Anbetracht dessen erschreckend groß.

Warum sagen die Zahlen für Sie nichts aus?
Ich halte die Studie für in hohem Maße manipulativ. Der Maßstab, für Bildung, der hier angelegt wird, ist nicht transparent. Er entspricht auf jeden Fall nicht dem Bildungsgedanken, der unsere Tradition im europäischen Raum ausmacht, der uns stark gemacht hat als Kultur- und Wirtschaftsstandort. Hier wird ein ganz anderes Bildungsmodell abgetestet und propagiert.

Und zwar?
Wenn man sich die Aufgabenformate anguckt, nimmt man keine Rücksicht auf die Curricula der einzelnen OECD-Länder. Vieles von dem, was bei uns Bildung ausmacht, wird ausgeblendet, und das, was getestet wird, entspricht nicht unseren Vorstellungen von Bildung.

Ein Beispiel?
Es gibt auf der Webseite der OECD unter anderem eine Beispielaufgabe zum Thema Drama. Da könnten deutsche Schüler dann sicher etwas schreiben über literarische Stilmittel, Figurenkonstellation , Epochenmerkmale und so weiter. Aber in der Pisa-Studie wird gefragt: Wo befanden sich die Schauspieler, bevor der Vorhang aufging? Und verleiht dafür die höchste Stufe Lesekompetenz. Die Bildungsziele der Länder legen naturgemäß ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Und hier wird nun ein totaler Maßstab angelegt, der letztlich keinem gerecht wird, weil er mehr verdunkelt als sichtbar macht.

Wenn das so einfach ist – warum sind die deutschen Schüler dann nicht viel erfolgreicher?
Daran, dass die Aufgabenformate bisher eigentlich völlig fremd waren für die deutschen Schüler. Inzwischen trainieren wir Pisa und schneiden ja auch besser in der Studie ab – aber unsere Bildung hat sich faktisch verschlechtert. Was Pisa testet, ist nicht Bildung, sondern Pisa-Kompetenz. Das ist eine Verkümmerungsform.

Gute Pisa-Ergebnisse geben für Sie also keinerlei Hinweis auf gute Bildung?
Nein. Die OECD setzt bewusst auf einen medialen Schockeffekt und dramatisiert die Ergebnisse in ihrer Präsentation. Zum Beispiel, indem die Testergebnisse in ihrer Darstellung um 500 gespreizt werden. Dadurch erscheinen die Differenzen zwischen den einzelnen Ländern aber auch zwischen den Jahren gewaltig. Würde man den Mittelwert bei 1 ansetzen, lägen die Unterschiede im Promillebereich und niemand würde sich aufregen.

Was für einen Nutzen bringt das der OECD?
Es gibt Papiere der OECD, in denen steht, die schockhafte Inszenierung diene dazu, dass die Länder eher bereit sind, ihre Bildungssysteme zu verändern. Und dabei hat die OECD eben auch eine politische Agenda: Eine gleichförmige Gestaltung der einzelnen Bildungssysteme weltweit. Und das unter Vernachlässigung der kulturellen Vielfalt und regionalen Eigentümlichkeiten.

Die Globalisierung von Bildung?
Exakt. Ein einziges System, das eben nicht mehr die Mündigkeit des Menschen zum Ziel hat, sondern seine Verwertbarkeit in wirtschaftlichen Zusammenhängen. Wobei selbst der ökonomische Nutzen der Pisa-Reformen fraglich ist, wenn Sie mal mit mittelständischen Unternehmer sprechen.

Aber hatte der Pisa-Schock in Deutschland nicht tatsächlich auch positive Wirkungen? Zum Beispiel ein Bewusstsein für den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg bei uns?
Sie müssen nur schauen, was daraus geworden ist: Wir haben jetzt in den vergangenen 15 Jahren nach der Pfeife der OECD getanzt. Mit dem Ergebnis, dass wir möglicherweise besser bei Pisa geworden sind. Aber weder die soziale Gerechtigkeit im Bildungssystem noch das Können und Wissen der Schüler sind besser geworden. Im Gegenteil: Die Studierfähigkeit und die Ausbildungsreife haben in hohem Maße abgenommen. Und zwar, weil wir uns auf diesen Zahlensalat verlassen haben. Eine Rückkehr zum Realitätsprinzip ist deshalb dringend nötig.

Im Vorfeld der aktuellen Studie rügte Andreas Schleicher, internationaler Koordinator für die Pisa-Studie, die Deutschen dafür, dass ihr Reformeifer nachgelassen habe…
Ich behaupte, das Gegenteil ist der Fall. Der Reformeifer war viel zu groß und was die Schulen jetzt bräuchten, wäre Ruhe und eine Neubesinnung auf das Wesentliche. Zum Glück sehe ich bei der Bildungspolitik inzwischen auch ein Umdenken. Also eine immer größere Skepsis gegenüber den Pisa-Zahlen. Das Trommelrühren von Andreas Schleicher und seinen Kollegen hat also wohl auch etwas damit zu tun, dass sie berechtigte Sorge haben, ihre Meinungsführerschaft könne bröckeln.

Was also tun? Die Studie ignorieren?
Nein, ihre Mechanismen entlarven. Und ich würde vorschlagen: Wir steigen aus Pisa aus, und Deutschland steckt das Geld lieber in die Schulen anstatt in diesen seltsamen Test, der uns nicht voran gebracht hat.

Dr. Matthias Burchardt ist Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln.

zum Artikel:  Kölner Stadt-Anzeiger, 6.12.2016, Kerstin Meier, Kulturredaktion, Kölner Wissenschaftler Matthias Burchardt „Pisa-Studie ist manipulativer Zahlensalat“


Siehe auch:

„Wir brauchen Bildung statt PISA“,   Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, zur Veröffentlichung der aktuellen PISA-Ergebnisse am 6.12.2016