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Mündliche Schülerleistungen dominieren

Dem Schreiben hat diese Entwicklung der letzten Jahre nicht gut getan: Immer weniger Schüler konnten es ausreichend üben.

F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 04.04.2019, von Rainer Werner

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

2016 sorgte eine Meldung für Aufsehen: Das Bundeskriminalamt konnte von 120 Stellen nur 62 besetzen, weil zu viele Bewerber trotz Abiturs beim Deutschtest durchgefallen waren. Der Test erfragt Kenntnisse in Rechtschreibung, Grammatik, Wortschatz und Sprachverständnis. Von der Polizei der Länder hört man ähnliche Klagen. Viele Bewerber fallen vor allem durch die Sport- und Rechtschreibprüfung. Können die jungen Menschen heute nicht mehr richtig schreiben?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der ständig geredet wird. Überall sieht man Menschen telefonieren, sei es auf der Straße, im Café oder in der Straßenbahn. Alle Fernsehsender haben Gesprächsformate im Programm, in denen sich Menschen, die sich für Experten halten, über alle möglichen Themen unterhalten. Die Talkshow ist zum zweiten Wohnzimmer der Deutschen geworden. Für das Sprechen in diesem Gesprächskosmos gibt es keine Qualitätsmaßstäbe. Man darf reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Die lockere Diktion, Umgangssprache inklusive, gilt als Ausweis von Authentizität. Der Linguist Gerhard Augst vertritt die These, dass sich in unserer Gesellschaft das Gesprochene als Standardsprache durchgesetzt habe, was es schwer mache, auf die Dominanz der Schriftsprache zu pochen. Dem Sprachwissenschaftler Peter Gallmann fiel auf, dass Kinder vor allem in Regionen, in denen es einen ausgeprägten Dialekt gibt (Bayern, Schwaben), die Rechtschreibung gut beherrschen. Weil sie wissen, dass gesprochene und geschriebene Sprache nicht dasselbe sind, lernen sie die Schriftsprache als eigenständiges sprachliches System. Im Rest der Republik schreiben Schüler, wie sie sprechen.

In der Schule drückt sich die Dominanz der gesellschaftlichen Redekultur im starken Gewicht des Mündlichen aus. In der Sekundarstufe I zählt in allen Fächern die mündliche Mitarbeit zur Hälfte, in den Grundkursen der gymnasialen Oberstufe zu zwei Dritteln. Die in allen Bundesländern eingeführte 5. Prüfungskomponente des Abiturs, eine Präsentationsprüfung, besteht zumeist nur aus einer mündlichen Leistung. Nur wenige Bundesländer verlangen zusätzlich noch eine Facharbeit. Die meisten Gymnasiasten punkten im Mündlichen: Sie sind eloquent und verfügen über einen differenzierten Wortschatz. Die Noten fallen entsprechend gut aus. Liest man hingegen von Schülern verfasste Texte, stellt man fest, dass ihre Qualität deutlich hinter der Qualität ihrer mündlichen Beiträge zurückbleiben. Wenn es auf logische Gedankenführung, den präzisen Ausdruck und schlüssig zu Ende geführte Sätze ankommt, versagen auffallend viele Schüler. Selbst bei Abiturienten kann man erleben, dass sie in Orthografie und Interpunktion nicht sicher sind. Diese Defizite lassen darauf schließen, dass Schüler zu wenig mit schriftlichen Aufgaben konfrontiert werden. Die Benennung der Fehler bei der Korrektur und die kritischen Randbemerkungen der Lehrkraft bleiben meistens ohne Folgen, weil den Schülern in der Regel nicht mehr zugemutet wird, von Aufsatz und Klausur eine Berichtigung anzufertigen.

Universitäten klagen darüber, dass den Erstsemestern trotz attestierter guter Schulabschlüsse die Grundlagenkompetenzen in der Sprache fehlen. Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, einen Gedankengang klar, schlüssig, logisch und fehlerfrei zu formulieren. Die Befragung von Studenten, die die Universität Konstanz jährlich durchführt, hat 2015 ergeben, dass mehr als 25 Prozent der Bachelorstudenten ihr Studium abbrechen. Neben der Doppelbelastung aus Studium und Job werden vor allem fachliche Mängel als Grund angegeben. 52 Prozent der Absolventen und 45 Prozent der Abbrecher gestehen ein, dass ihnen Kenntnisse und Techniken zum Verfassen akademischer Arbeiten fehlten. Die gymnasiale Oberstufe, und hier vor allem das Fach Deutsch, scheint dabei zu versagen, den Abiturienten das für ein erfolgreiches Studium nötige sprachliche Rüstzeug zu vermitteln.

An theoretischen Vorgaben fehlt es beileibe nicht. Die „Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife“ (KMK-Beschluss vom 18.10.2012) machen klare Aussagen zum Beherrschen der Schriftsprache: „Die Schülerinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie aufgabenadäquat, konzeptgeleitet, adressaten- und zielorientiert, normgerecht, sprachlich variabel und stilistisch stimmig gestalten.“ Auch die Deutsch-Lehrpläne für die Sekundarstufe II der einzelnen Bundesländer geben das Ziel vor, dass die Schüler „die Fähigkeit entwickeln, in angemessener Weise anspruchsvolle, komplexe Sachverhalte schriftlich zu formulieren“. (Beispiel Berlin) – Papier ist offensichtlich geduldig, sonst klafften beim Beherrschen der Schriftsprache Anspruch und Wirklichkeit nicht so weit auseinander.

Die Grundschuldidaktikerin Ulrike Holzwarth-Raether sieht die Ursachen für die Defizite im Schreiben schon vor der Grundschule gelegt. Mit den Kindern werde heute zu wenig gesungen und artikuliert gesprochen. Das behindere die Entwicklung der Laut-Buchstaben-Zuordnung, die eine wichtige Voraussetzung für den Schrifterwerb sei. In der Schule wird das Schreiben von Texten auf allen Schulstufen vernachlässigt. Bei Schülern gilt schreiben als lästig und „uncool“. Häufig hört man schon in der Unterstufe des Gymnasiums die Frage: „Müssen wir das wirklich aufschreiben?“ – In der Sekundarstufe I ist das Mitschreiben im Unterricht nicht mehr verpflichtend, weil die Schüler ja Arbeitsbögen zum Stoff der Stunde bekommen. Abheften von Papier ersetzt die Mühe, das Gehörte gedanklich zu verarbeiten und in adäquate Sätze zu kleiden. Stundenprotokolle haben in vielen Fächern den Rang einer Strafarbeit bekommen: „Wenn du nicht aufpasst, musst du die Stunde protokollieren!“ – Dabei zwingt gerade die Reduktion des Unterrichtsstoffes auf den knappen Umfang eines Protokolls zu gedanklicher Konzentration und präziser Formulierung.

Bei der Ausbildung schriftlicher Kompetenzen muss man früh beginnen. In Grundschule, Unterstufe und Sekundarstufe I sollte regelmäßig geschrieben werden. Es hat sich bewährt, in jede Unterrichtsstunde eine kleine Schreibaufgabe einzubauen, deren Resultate noch in der Stunde inhaltlich und sprachlich überprüft werden. Mit kreativen Schreibaufgaben (Beispiel: zwei literarische Figuren schreiben sich Briefe) kann man die Schreibaversion der Schüler am ehesten aufbrechen. Es ist unbedingt notwendig, Schülertexte zu korrigieren. Tut man das nicht, verfestigt sich der Eindruck, es sei letztlich egal, wie man schreibt. Da die Kapazitäten der Lehrkräfte begrenzt sind, können sie nicht ständig Schülertexte einsammeln und zu Hause korrigieren. Hier bietet sich die „Schreibkonferenz“ an. Drei bis vier Schüler korrigieren gemeinsam ihre Texte, bis sie verständlich und fehlerfrei sind. Wenn diese Methode häufig angewandt wird und wenn die Lehrkraft die Qualität der Endprodukte überprüft, wird sich die Schreibkompetenz der Schüler zwangsläufig verbessern. Dann werden die Texte beim logischen Aufbau, bei der schlüssigen Gedankenführung und bei der grammatisch-orthografischen Korrektheit kaum noch Fehler aufweisen. Auch hier bewährt sich das leider in Misskredit geratene didaktische Prinzip des beharrlichen Übens und Verbesserns.

Schulen können das Schreiben auch durch bessere Rahmenbedingungen aufwerten. Wenn der Deutsch-Fachbereich einen Preis für den besten Aufsatz in einem Jahrgang aussetzt, werden sich Schüler angesprochen fühlen, ihre Schreibkünste unter Beweis zu stellen. Eine Schülerzeitung, die Beiträge von Schülern veröffentlicht, kann signalisieren, dass Schreiben ein „cooles“ Handwerk ist. Dass Lesen die Schreibkompetenz erhöht, ist durch Studien bestens belegt. Regelmäßiges Lesen vergrößert den Wortschatz und festigt die Orthografie. Lesewettbewerbe gehören deshalb in jede Schule. Die Polytechnische Gesellschaft Frankfurt/M. führt einmal im Jahr einen Diktatwettbewerb durch, an dem sich Eltern, Schüler und Lehrer beteiligen. Die Sieger treten gegen die Sieger anderer Städte an. Dieses Projekt zeigt, dass der Wettstreit um sprachliche Korrektheit genauso reizvoll sein kann wie ein Sport- oder Musikwettbewerb. Es ist Zeit für eine Schreiboffensive.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Zur Website des Autors: „Für eine gute Schule

„Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen“ – Beispiel: Berliner Bildungsverwaltung

Gemeinschaftsschule: Die achte Klasse ist die Hölle

Stellungnahme zum Artikel in ZEIT-ONLINE „Gemeinschaftsschule: Die achte Klasse ist die Hölle“, vom 10.11.2018.

Im Zeitungsbeitrag[1] wird die Frage gestellt: Wie können wir es schaffen, dass auch bildungsferne Kinder höhere Abschlüsse schaffen? Die Antwort ist: Wenn alle auf eine Gemeinschaftsschule gehen. Es gibt auch Untersuchungen, die das belegen.“

Folgt man dem Link zu den Untersuchungen, so kommt man zu einer Pressemitteilung[2] über den Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen von Sen BJW, heute Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, vom 8.4.2016.

Die Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Sandra Scheeres, führt dazu aus: „Die Gemeinschaftsschulen erreichen eines ihrer wesentlichen Ziele, indem sie den Lernerfolg von der sozialen Herkunft wirksam entkoppeln. Bemerkenswert sind die Lernzuwächse der Schülerinnen und Schüler, die der Abschlussbericht den Gemeinschaftsschulen bescheinigt. Ich werde mich dafür einsetzen, dass das Angebot der Gemeinschaftsschulen in Berlin als besondere Ausprägung der Integrierten Sekundarschule dauerhaft verstetigt wird“.[3]

Hält man sich jedoch nicht nur an die von der Bildungsverwaltung gestaltete Pressemitteilung, sondern sieht sich die Studie umfassend an – zu der man aus der Pressemitteilung keinen Link erhält – bekommt man ein anderes Bild.

Der Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen[4] stellt einen Vergleich an zwischen Berliner Schülern einiger Gemeinschaftsschulen und Hamburger Schülern des ehemals gegliederten Schulsystems. Es findet also kein direkter Vergleich der verschiedenen Schulformen in Berlin statt. Von 24 Berliner Gemeinschaftsschulen nahmen nur 18 an der Befragung teil. Bei den beiden Lernstandserhebungen wurden aber nur noch 10 Schulen einbezogen. Es werden keine Erklärungen für die jeweiligen Auswahlkriterien gegeben. Somit kann man die Frage stellen, wie repräsentativ die Ergebnisse sind, auf die sich Frau Scheeres beruft.

Was die Senatorin verschweigt, ist: Mehr als die Hälfte der befragten Lehrkräfte bewertet in der Studie den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit „sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung“ – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht (Abb. 40, S. 63, Abschlussbericht, mit deutlich zunehmender Belastung von 2013 zu 2014).

Diese erhöhten Anforderungen berichtet auch im Zeitungsbeitrag Lehrer Ryan Plocher: „Aber wir arbeiten unter zunehmend schwierigen Bedingungen: Vor vier Jahren hatten wir noch ein Kind mit Förderstatus pro Klasse, heute hat eine Kollegin sieben, eine andere acht Kinder mit Förderstatus. Die Verordnung gibt ein Maximum von vier vor, aber das wird immer überschritten.“ Seine Erklärung ist: „Weil kaum Kinder mit Förderstatus an Gymnasien sind.“

In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird nun mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Obwohl bereits durch mehrere Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.)[5] nachgewiesen, ist die von der Gemeinschaftsschule propagierte Individualisierung des Unterrichts durch Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen nicht die Problemlösung. Diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens läuft Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern klafft weiter auseinander.

In der Studie berichten zwei Teams der Gemeinschaftsschulen von gravierenden Problemen, mit denen sie täglich konfrontiert sind: „Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt“ (S. 144).

Weiter werden die Lehrkräfte zitiert: „Ich bin wirklich entschieden der Meinung, es kommt viel zu wenig dabei raus, bei der Lernwerkstatt. (…) für den Schüler, der mit einer gewissen Allgemeinbildung nach der zehnten Klasse die Schule verlässt, finde ich, ist die Allgemeinbildung ganz schön klein. Da würde ich mir mehr wünschen“ (S. 149).

Es wird weiter berichtet: „deutlich ist in einigen Interviewgesprächen, dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen“ (S. 160).

Darüber ist in der eingangs erwähnten Pressemitteilung von Senatorin Scheeres nichts von dem, was die Lehrkräfte in ihrer täglichen Unterrichtsarbeit bewegt, zu lesen. Es wird übergangen.

Zeitweise parallel zur Pilotphase der Gemeinschaftsschule verlief in Berlin auch die Neustrukturierung des Sekundarschulwesens. Das Land Berlin hat die allgemeinbildende Sekundarstufe I zum Schuljahresbeginn 2010/11 von einem fünfgliedrigen auf ein zweigliedriges System umgestellt (neu geschaffene Integrierte Sekundarschule (ISS) und Gymnasium).

Eine zentrale Zielsetzung der Neustrukturierung des Berliner Sekundarschulwesens war die Erhöhung des Anteils der Schülerinnen und Schüler, die die Schule mit der allgemeinen Hochschulreife – dem Abitur – abschließen sollen. Erreicht werden soll dieses Ziel vor allem über eine Erhöhung der Abiturientenquote im nichtgymnasialen Bereich, sprich an den neu geschaffenen Integrierten Sekundarschulen (ISS) und den Gemeinschaftsschulen.

Im Ergebnisbericht der BERLIN-Studie[6] zum zweigliedrigen Berliner Sekundarschulsystem ist zu lesen: „Die Anteile der Schülerinnen und Schüler, die die formalen Voraussetzungen zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe erfüllen, haben […] deutlich zugenommen. Im nichtgymnasialen Bereich fand sich ein Anstieg von 24 auf 41 Prozent. Der Anstieg fiel sowohl an Schulen ohne als auch mit am Schulstandort vorhandener gymnasialer Oberstufe erheblich aus“ (S. 486).

Die Pressemitteilung der Bildungsverwaltung zur BERLIN-Studie vom 15.03.2017 hat genau diesen Satz besonders hervorgehoben: „Die Studie attestiert dem innerhalb weniger Jahre vollzogenen und weithin akzeptierten Wechsel der neuen Schulstruktur zahlreiche positive Entwicklungen. So wurde zum Beispiel die Anzahl der Schulen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern, die aufgrund sehr schwacher Leistungen und ihres soziokulturellen Hintergrunds geringere Aussicht auf Bildungserfolg haben, reduziert.“

Genau dieser Aussage widerspricht die Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin (WZB) vom Mai 2017: „Ob mit der Schulstrukturreform langfristig auch eine pädagogische Veränderung einhergeht und mehr Schüler*innen aus sozial benachteiligten Schichten zu einer höheren Bildung herangeführt werden können, ist noch eine offene Forschungsfrage. Das neue Berliner Schulsystem hat aber in Bezug auf die soziale Durchmischung fünf Jahre nach der Reform noch zu keiner wesentlichen Veränderung geführt und das alte Schulsystem wird mit Blick auf die soziale Durchmischung unter einem neuen Namen fortgeführt.[7]

Folgt man dem Text der BERLIN-Studie weiter, so werden auch dort die „zahlreichen positiven Entwicklungen“ und der vorgegebene „Bildungserfolg“ erheblich relativiert. In der Studie wird weiter berichtet, dass sich die Leistungen der Schüler nicht verbessert haben, sondern die Anforderungen für das Abitur gesenkt wurden. Zu lesen ist:

 „Gleichzeitig hat sich das mittlere Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler im nichtgymnasialen Bereich kaum verändert“ (S. 486).
Die Befunde [geben] somit durchaus Anlass zu der Annahme, dass die Vergabe der Übergangsberechtigung in […] der neu strukturierten Berliner Sekundarstufe nur sehr eingeschränkt mit dem erforderlichen Leistungsniveau zum erfolgreichen Durchlaufen der Oberstufe einhergeht. Das Erreichen hinreichender Leistungsstandards scheint somit im Zuge der Öffnung von Bildungswegen im vorliegenden Fall zumindest in Teilen fraglich“ (S. 487).
Weiter wird bestätigt, „dass schulstrukturelle Merkmale bzw. [schulische] Veränderungen für das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern eher von nachrangiger Bedeutung und stattdessen lernprozessnähere Aspekte wie die Unterrichtsqualität ausschlaggebend sind (z. B. Hattie, 2009)“ (S. 498).
Die Studie stellt fest: „Zu den drängendsten Aufgaben und Herausforderungen im neu strukturierten Berliner Sekundarschulwesen“ zählen „Maßnahmen zur Sicherstellung hinreichender Leistungsstandards und vergleichbare Bewertungsmaßstäbe beim Erwerb der Oberstufenzugangsberechtigung“ (S. 488) und

„Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems“ (S. 483).

Festzuhalten ist, dass die deutliche Erhöhung der Vergabe der Oberstufenzugangsberechtigung sowie die Steigerung der Abiturientenquote nachweislich nur mit einer Minimierung der Leistungsanforderungen einhergehen.[8]

Diese Aussage wird durch eine aktuelle Studie der Professoren Schwenk und Kalus, Beuth Hochschule für Technik Berlin, bestätigt[9] [siehe ausführliche Darstellung der Studie im nachfolgenden Webbeitrag]. Sie schreiben:

„Eine Auswertung der Abiturdaten [KMK] in Berlin zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016 eine deutliche Verbesserung der Abiturergebnisse bezogen auf die Parameter Durchschnittsnote, Anteil der Einsen und Zahl der nicht bestandenen Prüfungen. Genauer heißt das, die Anzahl der Abiturprüfungen nimmt über die Jahre zu, gleichzeitig sinkt die Zahl der Durchgefallenen, verbessert sich der Notendurchschnitt eines Abiturientenjahrgangs und erhöht sich der Anteil der Prüflinge, die die Bestnote 1,0 erreichen.“

Abiturnoten und besondere Veränderungen im Berliner Schulsystem

In der Abbildung 1, und nur diese soll hier dargestellt und beschrieben werden, sind die Durchschnittsnoten der bestandenen Abiturprüfungen eines Abiturjahrganges an Gymnasien, Gesamtschulen, ab 2010 Integrierte Sekundarschulen (ISS) und beruflichen Schulen von 2006 bis 2016 festgehalten.

„Die Kurve zeigt einige Auffälligkeiten, die sich mit Änderungen im Berliner Schulsystem erklären lassen. Die starke Verbesserung der Noten im Jahr 2007 fällt mit der Einführung der fünften Prüfungskomponente (5. PK) und der Einführung des Zentralabiturs zusammen. Die fünfte Prüfungskomponente besteht aus einer Präsentation über ein selbstgewähltes fachübergreifendes Thema, die seit 2013 durch eine Facharbeit im Umfang von fünf Seiten ergänzt werden muss.

Die Handreichungen der Berliner Senatsverwaltung für Lehrer zur 5. PK bestätigt die Verbesserung der Noten, dort heißt es gleich im 2. Satz des Vorwortes „In diesem Prüfungsteil erreichen Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt bessere Leistungen als in den übrigen Prüfungsfächern.“[10] Im Jahr 2013 lag die durchschnittliche Bewertung der 5. PK mit 10,4 Punkten deutlich über den der anderen mündlichen oder schriftlichen Prüfungen mit Durchschnitten von 7,9 bis 8,7 Punkten.“[11]

Weiter wird von der Bildungsverwaltung in der Handreichung argumentiert, dass die Abiturienten „sich in Arbeitstechniken und Arbeitsweisen üben, die sowohl die Universitäten als auch spätere Arbeitgeber als wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln betrachten.“[12] Die Beobachtungen in der Studieneingangsphase entsprechen nachweislich nicht dieser Aussage.

Dies entspricht der Studie der Beuth Hochschule: „Im Jahr 2010 gab es zwei Veränderungen. Zum einen wurden die Integrierten Sekundarschulen (ISS) eingeführt, die die Haupt-, Real- und Gesamtschulen in Berlin zusammenführten und die auch zum Abitur führen können. Zum anderen wurde der Notenschlüssel verändert. Die Hürde zum Bestehen wurde von 50% auf 45% der erreichbaren Punkte abgesenkt und der gesamte Notenschlüssel wurde entsprechend angepasst. Diese Änderungen führten aber nicht zu einer besonders auffälligen Verbesserung der Abiturdurchschnittsnote des Jahrgangs 2010.

Im Jahr 2012 war der doppelte Abiturientenjahrgang. In Berlin gilt die Verkürzung von 13 auf 12 Schuljahre nur für die Gymnasien. An den IS-Schulen wird das Abitur weiterhin nach 13 Jahren abgelegt. D. h. die stärkeren Gymnasiasten waren im doppelten Abiturientenjahrgang 2012 überproportional vertreten. Im darauffolgenden Jahr 2013 war das Verhältnis wieder normal und dementsprechend sind die Noten von 2013 und 2011 eher vergleichbar.“

Was bleibt nach eingehender Prüfung der Ergebnisse des Abschlussberichts zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen sowie der BERLIN-Studie zur Schulstrukturreform übrig?

In den Pressemitteilungen der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) lesen wir von „der erreichten Entkopplung von Lernerfolg und sozialer Herkunft“, den „zahlreichen positiven Entwicklungen“ der Schulstrukturreform, der „Erhöhung der Abiturquote“ und der vollmundigen Feststellung: „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet.“

Auch in Berlin sind Pressekonferenzen „wohlgeplante Inszenierungen“. Die Politiker, deren Staatssekretäre und Pressesprecher arbeiten zielgerichtet daran, „nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt“. Es wird im Vorfeld daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort in der Pressemitteilung steht, „das Versäumnisse der Bildungspolitik anzeigen könnte.“[13]

Es drängt sich die Frage auf, ob Schule, statt sich in ständig neuen Reformanstrengungen aufzureiben, sich nicht auf ihre Kernaufgaben konzentrieren sollte. Dies wird durch den Erziehungswissenschaftler Prof. Andreas Helmke verdeutlicht:

„Eine der zentralen Botschaften [des Bildungsforschers] Hattie[14] ist, dass strukturelle, organisatorische und finanzielle Faktoren Oberflächenmerkmale sind, die per se nicht oder nur wenig lernwirksam sind – im Gegensatz zu den besonders effektiven Tiefenmerkmalen der Unterrichtsqualität. Das spricht nicht gegen die Gemeinschaftsschule, es dämpft nur den unangebrachten Optimismus, das Errichten einer solchen Schule sei schon eine Art Garantie für den Erfolg. Wie gesagt, auf die Lehrer und auf den Unterricht kommt es an! Mit anderen Worten: Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. […] Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts!“[15]

Eine weitere zentrale Aufgabe in Berlin ist, Verantwortung zu übernehmen für die erschreckend hohe jährliche Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss[16] – an der die Schulstrukturreform und auch die Gemeinschaftsschule nichts geändert hat – und alle Kräfte zu bündeln, diesen jungen Menschen einen sinnvollen Weg ins Leben zu bahnen. Eine weitere Senkung des Niveaus, wie in den letzten Jahren verordnet, kann nicht die Lösung sein. Dies bedeutet nur eine Verschiebung der Problematik in die sich anschließende Bildungs- und Ausbildungseinrichtung. So ist die IHK angesichts der Entwicklung besorgt. Schon jetzt hielten die Abschlüsse nicht das, was sie versprächen. „Immer mehr Betriebe konzipieren eigene Aufnahmetests, um die Eignung der Bewerber festzustellen“. Die Bildungsverwaltung bestreitet einen Niveauverlust.[17] Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.

Manfred Fischer, 30.11.2018
Studiendirektor a.D., Unterrichtsfächer Elektrotechnik, IT-Systeme, Sozialkunde
Seit meiner Pensionierung engagiere ich mich ehrenamtlich in der Lernhilfe.

[1] ZEIT ONLINE, 10.11.2018, Judith Luig, Gemeinschaftsschule: Die achte Klasse ist die Hölle; https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-10/gemeinschaftsschule-neukoelln-demokratie-schueler-lehrer-politik-nationalsozialismus
[2] Pressemitteilung vom 8.4.2016: Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen  https://www.berlin.de/sen/archiv/bjw-2011-2016/2016/pressemitteilung.466508.php
[3] Im Januar 2019 werden durch den Rot-Rot-Grünen Berliner Senat die Gemeinschaftsschulen im Berliner Schulgesetz als „schulstufenübergreifende Schulart“ verankert. Das heißt, dass sie eine Regelschulform wie auch Grundschulen, Integrierte Sekundarschulen (ISS) oder Gymnasien werden.
[4] Zum Abschlussbericht: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule, Stand: Juni 2016
[5] Lipowsky, Frank; Lotz, Miriam: Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Türcke, Christoph:  Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Wellenreuther, Martin: Direkte Instruktion; Felten, Michael: Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk; Grell, Jochen: Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; Hattie, John: Lernen sichtbar machen, 2013; Hattie, John: Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014
[6] Das zweigliedrige Berliner Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand, https://www.dipf.de/de/forschung/aktuelle-projekte/pdf/steubis/BERLIN_Studie_Maerz_2017_wissenschaftliches_Fazit.pdf
[7] Helbig, Marcel; Nikolai, Rita: Alter Wolf im neuen Schafspelz? Die Persistenz sozialer Ungleichheiten im Berliner Schulsystem, WZB-Studie, Mai 2017, S. 29.
[8] Beiträge aus der Presse zur Niveausenkung an Berliner Schulen:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr; Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss; Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Lehrer finden Mathe-Prüfungen „Pillepalle“.
[9] Schwenk, Angela und Kalus, Norbert. KOMPETENZORIENTIERUNG IN DER DISKUSSION: BERLINER ABITUR-NOTEN, ELEMENTARMATHEMATISCHE FÄHIGKEITEN. In: Tagungsband der 13. Regionaltagung der Ingenieurpädagogischen Wissenschaftsgesellschaft, Hochschule Bochum 2018 – Diversität und Kulturelle Vielfalt – differenzieren, individualisieren – oder integrieren? In Druck. Veröffentlichung eines Auszuges aus der Studie mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
[10] SenBJW, 2012, S. 5
[11] Thoren, Katharina; Viole, Bianca; Harych, Peter; Brunner, Martin (2013): Abitur Berlin 2013 Ergebnisbericht, Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e. V., S. 42.
[12] SenBJW, 2012, S. 5
[13] FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth.
[14] vgl. Hattie, John: Lernen sichtbar machen (2013) und Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen (2014)
[15] aus: Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15;  Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau. Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten; vgl. Felten, Michael; Stern, Elsbeth (2012): Lernwirksam unterrichten – Im Schulalltag von der Lernforschung profitieren.
[16] Jeder zehnte Berliner Schüler verlässt die Schule ohne Abschluss! – Fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. https://www.tagesspiegel.de/berlin/neue-ergebnisse-zahl-der-berliner-schueler-ohne-abschluss-steigt/12462166.html ; Von 28000 Schulabgängern treten jeden Sommer nur zehn Prozent eine Ausbildung an, während rund 3000 „völlig vom Radar verschwinden“. Der Tagesspiegel, 22.06.2018, Weckruf an den Senat.
[17] Der Tagesspiegel, 8.5.2014, Sekundarschulreform: Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss

(Letzte Abfrage der angegebenen Links am 29.11.2018)

Der schleichende Systemwechsel zur nivellierenden Einheitsschule

KOMPETENZORIENTIERUNG IN DER DISKUSSION: BERLINER ABITUR-NOTEN, ELEMENTARMATHEMATISCHE FÄHIGKEITEN

Angela Schwenk1 und Norbert Kalus2
Beuth Hochschule für Technik Berlin, schwenk@beuth-hochschule.de
2  Beuth Hochschule für Technik Berlin, kalus@beuth-hochschule.de

Abstract 1 Eine Auswertung der Abiturdaten in Berlin zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016 eine deutliche Verbesserung der Abiturergebnisse bezogen auf die Parameter Durchschnittsnote, Anteil der Einsen und Zahl der nicht bestandenen Prüfungen. Dazu gegenläufig sind die Beobachtungen in der Studieneingangsphase. Aus der Perspektive von Ingenieurstudiengängen an einer Fachhochschule werden diese Beobachtungen durch Fallbeispiele demonstriert. Das Besondere an diesen Beispielen ist, dass sie aus Ingenieursfächern kommen und dass bei ihnen mathematisch einfache, praktische Anwendungen im Vordergrund stehen.

Keywords Kompetenzorientierung, Abiturstatistik, Übergang Schule – Hochschule, fehlende elementarmathematische Fähigkeiten

Abstract 2 Over the years from 2006 to 2015 a statistical analysis of the final secondary-school examinations in Berlin reports that the results are enhancing with respect to the parameters average of grades, the portion of best possible grades and the number of failed examinations. But the competencies of first-year students at university have an opposing trend. We will demonstrate these observations from the point of view of engineering study courses at a university of applied sciences and we will give examples. The specific features of these examples are: colleagues of the engineering faculty collected them out of their engineering modules; the focus is on mathematical simple practical applications.

Keywords Competence orientation, statistics of final secondary-school examinations, transition from school to university, lack of mathematical competencies.

Abiturdaten in Berlin der Jahre 2006 bis 2016: Verbesserung aller Parameter

Eine Auswertung der Abiturdaten [KMK] in Berlin zeigt für den Zeitraum von 2006 bis 2016 eine deutliche Verbesserung der Abiturergebnisse bezogen auf die Parameter Durchschnittsnote, Anteil der Einsen und Zahl der nicht bestandenen Prüfungen. Genauer heißt das, die Anzahl der Abiturprüfungen nimmt über die Jahre zu, gleichzeitig sinkt die Zahl der Durchgefallenen, verbessert sich der Notendurchschnitt eines Abiturientenjahrgangs und erhöht sich der Anteil der Prüflinge, die die Bestnote 1,0 erreichen. Diese Entwicklung wird im Folgenden genauer beleuchtet.

Abiturnoten und besondere Veränderungen im Berliner Schulsystem

Wir beginnen mit den Durchschnittsnoten der bestandenen Abiturprüfungen an Gymnasien, Gesamtschulen bzw. integrierten Sekundarschulen und beruflichen Schulen.
In der Abbildung 1 sind die Durchschnittsnoten eines Abiturjahrganges über den Jahren aufgetragen.

Dabei beachte man: je niedriger die Kurve ist, desto besser ist die Note. Von 2006 bis 2016 verbessern sich die Noten um ca. 0,3 von 2,68 auf 2,39.

Die Kurve zeigt einige Auffälligkeiten, die sich mit Änderungen im Berliner Schulsystem erklären lassen. Die starke Verbesserung der Noten im Jahr 2007 fällt mit der Einführung der fünften Prüfungskomponente (5. PK) und der Einführung des Zentralabiturs zusammen. Die fünfte Prüfungskomponente besteht aus einer Präsentation über ein selbstgewähltes fachübergreifendes Thema, die seit 2013 durch eine Facharbeit im Umfang von fünf Seiten ergänzt werden muss. Alternativ kann eine schriftliche Belegarbeit angefertigt werden, aber diese Alternative wird kaum gewählt. Die Handreichungen der Berliner Senatsverwaltung für Lehrer zur 5. PK bestätigt die Verbesserung der Noten, dort heißt es gleich im 2. Satz des Vorwortes „In diesem Prüfungsteil erreichen Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt bessere Leistungen als in den übrigen Prüfungsfächern.“ [SenBJW, 2012, S. 5] Im Jahr 2013 lag die durchschnittliche Bewertung der 5. PK mit 10,4 Punkten deutlich über den der anderen mündlichen oder schriftlichen Prüfungen mit Durchschnitten von 7,9 bis 8,7 Punkten [Thoren, 2013, S. 42].
Im Jahr 2010 gab es zwei Veränderungen. Zum einen wurden die Integrierten Sekundarschulen (ISS) eingeführt, die die Haupt- und Realschulen in Berlin zusammenführten und die auch zum Abitur führen können. Zum anderen wurde der Notenschlüssel verändert. Die Hürde zum Bestehen wurde von 50% auf 45% der erreichbaren Punkte abgesenkt und der gesamte Notenschlüssel wurde entsprechend angepasst.  Die Zeitung Der Tagesspiegel berichtete davon mit der stolzen Überschrift: „Berliner Abiturienten holen bayerische Schüler ein“ [Tgsp, 1.7.2010]. Diese Änderungen führten aber nicht zu einer besonders auffälligen Verbesserung der Abiturdurchschnittsnote des Jahrgangs 2010.
Im Jahr 2012 war der doppelte Abiturientenjahrgang. In Berlin gilt die Verkürzung von 13 auf 12 Schuljahre nur für die Gymnasien. An den IS-Schulen wird das Abitur weiterhin nach 13 Jahren abgelegt. D. h. die stärkeren Gymnasiasten waren im doppelten Abiturientenjahrgang 2012 überproportional vertreten. Im darauffolgenden Jahr 2013 war das Verhältnis wieder normal und dementsprechend sind die Noten von 2013 und 2011 eher vergleichbar.

Verteilung der Noten

Abbildung 2 zeigt die Verteilung der Noten für drei ausgewählte Jahrgänge. Die dunkelste Linie gehört zum Abiturjahrgang 2006. Anhand dieser Kurve kann man ablesen, mit welchem Prozentsatz unter allen bestandenen Abiturprüfungen des Jahres 2006 eine bestimmte Gesamtnote erreicht wurde. Die Verteilung entspricht, wie zu erwarten, näherungsweise der Gaußschen Glockenkurve. Die Kurve ist leicht nach rechts zu den schlechten Noten verschoben. Das erklärt sich damit, dass die Grafik nur auf den Daten der bestandenen Abiturprüfungen basiert, also die Noten schlechter als 4,0  nicht erfasst sind. Je heller die Kurve ist, desto neuer sind die Daten. Man erkennt deutlich, dass sich mit den Jahren die Verteilung deutlich nach links, hin zu den besseren Noten, verschiebt. Besonders bemerkenswert ist der Knick bei der Note 1. Schaut man sich die Daten aller Jahre von 2006 bis 2016 im Einzelnen an, dann erkennt man: Ab 2007, dem Jahr der Einführung der 5. PK, ist durchgängig die Häufigkeit der Durchschnittsnote 1.0 höher als die der Durchschnittsnote 1.1. In den Jahren 2009, 2011 (2011 ist ein Jahr nach der Änderung des Notenschlüssels), 2014, 2015 und 2016 ist die Häufigkeit der Durchschnittsnote 1.0 sogar höher als die der Durchschnittsnote 1.2, in 2016 sogar deutlich höher!

In Abbildung 3 zeigt die obere, dunklere Linie den Prozentsatz der nicht bestandenen Abiturprüfungen, dazu gehört die rechte Ordinatenachse. Insgesamt ist die Durchfallquote im betrachteten Zeitraum von 7,5% auf 5% stark zurückgegangen.

Im Jahr 2007 der Einführung der 5. Prüfungskomponente und des Zentralabiturs zeigt die Durchfallquote eine besonders starke Verringerung, deutlich ist auch die Verringerung im Jahr 2010, als die Notenskala verändert wurde. Der doppelte Abiturjahrgang 2012 mit der doppelten Kohorte von Gymnasiasten zeigt ebenfalls eine besonders starke Verringerung der Durchfallquote, die im folgenden Jahr 2013 wieder der des Jahres 2011 entspricht.

Parallel zum Rückgang der Durchfallquote hat sich, wie die hellere, untere Linie zeigt, der Anteil der Einser-Abiture, von 0,3% im Jahr 2006 auf 1,8% im Jahr 2016 versechsfacht.

Gegenüberstellung: Anzahl der Prüfungen und der nicht bestandenen Prüfungen

Wie man anhand der Abbildung 3 sehen konnte, verringert sich über die Jahre die Durchfallquote. Aber nicht nur der Prozentsatz der nicht bestandenen Prüfungen nimmt ab, sondern parallel zum Anstieg der Anzahl der Abiturprüfungen nimmt sogar die (absolute) Zahl der nicht bestandenen Prüfungen ab.

In Abbildung 4 sind nun keine Prozentwerte, sondern die absoluten Zahlen dargestellt. Die hellere, obere Linie zeigt mit der linken Ordinatenachse die Anzahl der abgelegten Abiturprüfungen, die schwarze, untere Linie stellt mit der rechten Ordinatenachse den Verlauf der Zahl nicht bestandenen Prüfungen dar. Deutlich ist der doppelte Abiturientenjahrgang 2012 erkennbar. Ab 2013 steigen dann die Zahlen der Abiturprüfungen deutlich kontinuierlich an. Die Zahl der Durchgefallenen folgt nicht dieser Entwicklung. Mit der Einführung der 5. Prüfungskomponente und des Zentralabiturs in 2007 und mit der Verbesserung der Notenskala in 2010 sinkt die Zahl der Durchgefallenen überproportional. Auffällig ist auch der doppelte Abiturientenjahrgang. Stieg die Zahl der Prüfungen von ca. 13100 (Jahr 2011) um 5.580, das sind 43%, so erhöhte sich parallel dazu die Zahl der Durchfaller nur um ganze 43 Personen, d.h. um 6% und änderte sich kaum. Über den gesamten Zeitraum betrachtet ergibt sich folgendes Bild: 2006 wurden 14650 Abiturprüfungen abgelegt, zehn Jahre später in 2016 waren es 17350; das ist eine Zunahme um 18%. Die Zahl der davon nicht bestandenen Prüfungen ging von 1100 im Jahr 2006 auf 860 im Jahr 2016, d. h. um 22% zurück.

Sinkende Fähigkeiten der Studienanfänger und –anfängerinnen

Konträr zu den guten Entwicklungen der Parameter des Abiturs in Berlin ist die Entwicklung der Fähigkeiten der Studienanfängerinnen und –anfänger. Dies können wir anhand eines Eingangstestes, den wir alle fünf Jahre flächendeckend im ersten Semester an unserer Hochschule durchführen, und weiter unten anhand von Analysen von Fehlern, die in Klausuren beobachtet werden, belegen.

Alle fünf Jahre ermitteln wir die Kenntnisse aller Studienanfänger und –anfängerinnen der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Anders als an den Berliner Schulen wurden die Rahmenbedingungen dabei nicht verändert: identische Aufgaben, keine Taschenrechnerbenutzung, anonyme Abgabe, Durchführung in der jeweils ersten Mathematik-Lehrveranstaltung des ersten Semester.
Abbildung 5 zeigt für die Jahre 2000, 2005, 2010 und 2015 die Häufigkeitsverteilung der erreichten Punkte.

Waren es z. B. im Jahr 2000 nur ca. 2 % der Teilnehmer, die keinen einzigen der möglichen 27 Punkte erreichten, so waren es im Jahr 2015 über 16 % aller Teilnehmer. Für die Häufigkeitsverteilungen erwartete man die Form einer Gaußschen Glockenkurve. Eine Glockenkurve ist im Jahr 2000 erkennbar, diese verschiebt sich dann in den folgenden Testjahren immer weiter nach links in den schlechten Bereich. 2015 ist schließlich nur noch die rechte Hälfte der „Glocke” erkennbar.

Parallel haben wir denselben Test in einem Berliner Gymnasium (Bertha-von-Suttner-Schule) u. a. am Ende der 10. Klasse durchgeführt. Damit ist auch klar, dass in dem Test nichts Exotisches verlangt wird, sondern Kenntnisse, die am Ende der 10. Klasse vorhanden sein sollten. Auf die vergleichenden Auswertungen soll hier nicht weiter eingegangen werden.

Der Brandbrief Mathematik und die Reaktionen

Die Hochschulen haben bisher im Allgemeinen den Verfall der mathematischen Eingangskenntnisse nur schweigend beobachtet und sich auf Reparaturmaßnahmen wie die Einführung von Brückenkursen beschränkt. Im März 2017 initiierte Frau Dr. Baumann einen Brandbrief [Baumann, 2017], den 150 Personen aus Universitäten, Fachhochschulen und Schulen unterzeichneten. Inzwischen ist die Zahl der Unterzeichner auf 300 angewachsen. Unterschrieben haben nicht nur Mathematiker/innen sondern auch Ingenieurkollegen/innen. Dieser Brandbrief fand ein breites Echo in den Medien. In sehr vielen Reaktionen auf den Brandbrief wurde auch von Seiten der Mathematik-Didaktik anerkannt, dass es in der Mathematik eine Lücke zwischen Schule und Hochschule gibt. Über die Ursachen herrschte dann keine Einigkeit  mehr.

Unterscheidung von allgemeinbildender und studienvorbereitender Mathematik

Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 wurde in Deutschland der Mathematikunterricht an Schulen reformiert. Über die Bildungsstandards hielt die Kompetenzorientierung Einzug in den Schulen. Wissen wurde als totes Wissen bezeichnet, Üben wurde zu Gunsten von Anwendungen, die oft nur pseudo Anwendungen waren, reduziert.

Eigenes Wissen muss strukturiert und vernetzt sein, das ist besonders für die Mathematik wichtig. Dem entgegen steht die Häppchen-Mathematik in Schulbüchern, bei denen auf jeder Doppelseite ein neues Thema begonnen wird [Affolter, 2009]. Die Kompetenzorientierung wurde im Brandbrief als Hauptursache genannt. 50 Didaktiker/innen der Mathematik antworten in einem offenen Brief: „Wie kann ein Mathematikunterricht aussehen, der eine mathematische Allgemeinbildung gewährleistet bei gleichzeitiger Sicherung einer Studierfähigkeit für mathematiknahe Berufe?“. Damit wurde ein Konflikt zwischen allgemeinbildender und studienvorbereitender Mathematik konstruiert. Frau Reiss, die deutsche PISA-Chefin, wurde in der Tagesszeitung Der Tagesspiegel zitiert mit: „Es ist ein fundamentales Missverständnis, dass die Schule die Schüler studierfertig abzuliefern hat.“ [Tgsp, 22.3.2017]. Dieses Zitat macht einen Paradigmenwechsel deutlich. Dazu passt, dass in letzter Zeit immer öfter statt von Hochschulreife von Hochschulzugangsberechtigung gesprochen wird. Auch in der Diskussion in den Nachrichten der Deutschen Mathematiker Vereinigung konstruierten Eichler und Körner [Vogt, 2017] einen Unterschied zwischen mathematischer Allgemeinbildung und der Vorbereitung auf ein MINT-Studium. Unabhängig davon, ob man diese Unterscheidung für gerechtfertigt oder nicht hält, lässt sich festhalten, dass die Probleme im elementarmathematischen Bereich eindeutig in der „allgemeinbildenden Mathematik“ angekommen sind. Dazu folgen ein paar Beispiele.

Beispiele

Die nun folgenden Beispiele gehören eindeutig zur allgemeinbildenden Mathematik. Das besondere dieser Beispiele ist, dass sie alle von Ingenieurkollegen in deren Ingenieur-Modulen gesammelt wurden. Sie stammen also nicht aus dem Elfenbeinturm der Mathematik. Damit ist klar, dass die folgenden Inhalte und Fähigkeiten von den Ingenieurstudierenden „gebraucht“ werden.

Kürzen nicht automatisiert

Aus dem 5. Semester des Bachelor-Studiengangs Maschinenbau stammt diese Aufgabe, sie war ohne Unterlagen und ohne Benutzung eines Taschenrechners im Rahmen einer Klausur zu lösen.

Wie lang ist der Weg, den ein Fräser auf einem Viertelkreis (Durchmesser von 800 mm) zurücklegt?

Es muss also der Umfang eines Viertelkreises bei gegebenen Durchmesser d berechnet werden Die Formel lautet U1/4=π d/4. Nach Einsetzen der Werte und Kürzen muss lediglich das Produkt aus 200*π mm=2*3,14*100 mm=628 mm berechnet werden. Doch ohne Kürzen lauern viele Fallstricke bei der schriftlichen Multiplikation von 800*3,14 mm und dem anschließendem schriftlichen Dividieren durch 4. Dahinter steckt ein typisches Problem: Kürzen vor der Berechnung ist eine kaum noch vorhandene Praxis. Das beobachten wir in unseren Mathematik-Klausuren auch immer wieder. Insgesamt nahmen 67 Studierende an der Klausur teil, 35 von Ihnen bearbeiteten die Aufgabe nicht oder hatten eine falsche Lösung, d. h. 52% der Teilnehmenden erzielten kein korrektes Ergebnis! Viele von denen wussten die korrekte Formel, scheiterten dann wegen des fehlenden Kürzens an der eigentlichen Rechnung.

Umrechnen von Einheiten, Umgang mit Zehnerpotenzen

Nachdem ein Kollege in der Labor-Übung Werkstoffbearbeitung im 1. Semester des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau Probleme beim Umrechnen von Einheiten erkannt hatte, ließ er das Thema anhand von Unterlagen üben und erstellte einen Testbogen. Diesen Testbogen benutzte dann einer der Autoren und überprüfte damit unangekündigt die Umrechnungsfähigkeiten bei Studierenden seiner Mathematik I Vorlesung für den Studiengang Maschinenbau.

Die Aufgaben in Abbildung 6 mussten ohne Taschenrechner bearbeitet werden. Das Ergebnis war niederschmetternd: Keiner hatte 8 oder alle 9 Aufgaben richtig, und 34% hatten keine oder nur eine Aufgabe richtig. Im Durschnitt wurden von den 9 Aufgaben nur 2,93 richtig gelöst. Dabei verlangen diese Aufgaben nur Basisfähigkeiten: Kenntnisse der Einheitenpräfixe, das Umgehen mit 10er-Potenzen und ggf. elementare Bruchumformungen.

Umformen einer einfachen Gleichung

Dieses Beispiel stammt aus dem Labor für Werkstoffbearbeitung. Dort sollte eine Laborgruppe an der Tafel vor der Versuchsdurchführung die Schnittgeschwindigkeit Vc eines Bohrers berechnen. Die Beziehung zwischen der Umdrehungszahl n des Bohrers pro Minute und dem Durchmesser des Bohrers d war wie in der obersten Zeile von Abbildung 7 gegeben. Die Aufgabe war nun, die Gleichung nach Vc aufzulösen. Ein Student der Gruppe formte um, vier sahen zu, alle fünf hatten Abitur und keiner hat den Fehler gefunden.

Beim Übergang zur letzten Zeile zeigt sich eine weitere Schwierigkeit. Ein Bruch muss hier durch eine Zahl geteilt werden. Offensichtlich war der Student unsicher und notierte erst einmal den Doppelbruch. Das Tafelbeispiel hört hier auf. Wie der Doppelbruch vereinfacht worden wäre, ist also Spekulation. Aber in der Schreibweise zeigt sich ein sehr häufig vorkommendes Problem, das oft zu Fehlern führt, denn die Notation ist nicht eindeutig. Die beiden folgenden Ausdrücke (a/b)/c und a/(b/c) liefern im Allgemeinen verschiedene Ergebnisse. So ist z. B. (2/2)/2=1/2 aber 2/(2/2)=2. Der Bruchstrich außerhalb der Klammer ist der sogenannte Hauptbruchstrich, den man auf die Höhe des Gleichheitszeichens positionieren und den man auch länger als die anderen Bruchstriche ziehen sollte. Ein Unbeteiligter, der nicht die Entstehungsgeschichte der letzten Zeile kennt, würde die letzte Zeile also falsch interpretieren.

Geometrische Grundformen unbekannt

Werkzeuge wie Bohrer und Fräser können zylindrische oder keglige Schäfte aufweisen, um mit diesen das Werkzeug mit der Hauptspindel der Maschine zu verbinden. Eine Form der kegligen Schäfte ist der Morsekegel. Im Rahmen der Vorbesprechung einer Übung im Labor für Werkstoffbearbeitung zeigte sich, dass Studenten mit dem Begriff Morsekegel keine geometrische Vorstellung verbinden konnten. Zur Klärung der Begriffe Zylinder und Kegel sollte ein Student die entsprechenden geometrischen Figuren an die Tafel zeichnen. Dabei entstand die Zeichnung aus Abbildung 8. Selbst die stark abstrahierte Darstellung lässt erkennen, dass dieser Student keine Vorstellung eines Zylinders hat und Kegel offensichtlich nur von der Bowlingbahn her kennt. Hier wurde zwar ein Einzelfall beschrieben, doch ist er symptomatisch für die starke Verringerung des Geometrieanteils in der Schulmathematik.

Schlussfolgerungen

Die präsentierten Beispiele zeigen deutlich, dass die Probleme der Studienanfängerinnen und   Studienanfänger sich bereits bei sehr niedrigen Schwierigkeitsstufen ergeben und dass die Mathematikausbildung an Schulen bei Weitem nicht studienvorbereitend ist und selbst für den allgemeinbildenden Bereich nicht ausreicht.

Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 wurde der Mathematikunterricht an Schulen reformiert. Der Fokus lag nun mehr auf der Anwendung von Wissen. Die Vermittlung von Wissen selbst verlor an Bedeutung, das Üben wurde zu Gunsten von Anwendungen stark reduziert. Das Rechnen und auch das Umformen mathematischer Ausdrücke wurden an elektronische Hilfsmittel delegiert. In der Folge gab es noch weniger Anlässe, den elementaren Mittelstufenstoff zu üben. In der Bildungsdiskussion gibt es eine Unterschätzung des Übens und eine Unterschätzung von Kalkül. Dabei hat Kalkül einen Wert an sich, denn Kalkül hat oft algorithmische Aspekte, ist somit ein gutes Training für die Digitalisierung und in der Grundschule sicher sinnvoller als Programmieren. Es gibt eine Unterschätzung von Wissen. Doch Wissen ist wichtige Voraussetzung für Kreativität und für eine solide Internetrecherche. Dagegen werden der Taschenrechner und anwendungsbezogene Fragestellungen überschätzt.

Lehre sollte heute noch mehr als früher Wert auf Struktur legen. Denn die Struktur des Faches, die logische Einbettung und der rote Faden des Faches fördern das Verständnis. Die Studierenden neigen dazu, fallbasierend zu arbeiten. Sie suchen oft nach der Lösung genau dieses(!) einen Problems. Gegoogeltes Wissen ist aber unstrukturiert. Umso wichtiger wird in der Lehre die strukturelle Vernetzung von Wissen.

Dank

Wir danken unserem Kollegen Prof. Dr.-Ing. Ralf Förster, Beuth Hochschule für Technik Berlin, für die Beispiele und die vielen anregenden Diskussionen.

Referenzen

Affolter, Walter u. a. (2009). Das Mathematikbuch 9, Klett-Verlag, Ausgabe A ab 2009, ISBN 978-3-12-700391-8
Baumann (1017). Mathematikunterricht und Kompetenzorientierung – ein offener Brief . https://www.tagesspiegel.de/downloads/19549926/2/offener-brief.pdf (2018 10 12)
KMK. Abiturnoten im Ländervergleich. https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/abiturnoten.html (2018 10 12)
Sen BJW (2012). Die fünfte Prüfungskomponente im Abitur, Eine Handreichung, 3. überarbeitete Fassung, Hrsg Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft
Stellungnahme zu „Mathematikunterricht und Kompetenzorientierung – ein offener Brief“. https://www.tagesspiegel.de/downloads/19590132/1/mathematiker-distanzieren-sich-vom-mathematiker-brandbrief.pdf (2018 10 12)
Tgsp (1.7.2010). Der Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/berlin/schule/abschlussnoten-berliner-abiturienten-holen-bayerische-schueler-ein/1873312.html  (2018 10 12)
Tgsp (22.3.2017). Der Tagesspiegel. „Mathematik häppchenweise“ , S. 22 https://www.tagesspiegel.de/wissen/brandbrief-gegen-bildungsstandards-der-aufstand-der-mathelehrer/19550928.html  (2018 10 12)
Thoren, Katharina; Viole, Bianca; Harych, Peter; Brunner, Martin (2013). Abitur Berlin 2013 Ergebnisbericht, Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e. V.
Vogt, Thomas (2017). Hausaufgaben für alle? In: Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 25(2), p. 90-105

Quelle:  Schwenk, Angela und Kalus, Norbert. KOMPETENZORIENTIERUNG IN DER DISKUSSION: BERLINER ABITUR-NOTEN, ELEMENTARMATHEMATISCHE FÄHIGKEITEN. In: Tagungsband der 13. Regionaltagung der Ingenieurpädagogischen Wissenschaftsgesellschaft, Hochschule Bochum 2018 – Diversität und Kulturelle Vielfalt – differenzieren, individualisieren – oder integrieren? In Druck.

Vorabveröffentlichung der Studie durch Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Studie als PDF-Datei: 2018_IPW-DFV_Schwenk_final


siehe auch:

Vergleich des Abiturniveaus: Berlin – Bayern

Berlins Mathe-Abiturienten haben es leichter

Tagesspiegel, 20.08.2018, Susanne Vieth-Entus
Der HU-Student, Severin Wenzeck, hat in seiner Masterarbeit das Aufgabenniveau des Abiturs in Mathematik untersucht. Das Ergebnis:
Die Prüfungen für die Berliner Leistungskurse sind einfacher als das bayerische Abi für jedermann.

„Weniger abgeprüfte Themeninhalte“

An einem heißen Tag im Juli 2018 steht Wenzeck vor seinen Dozenten in einem Raum des Campus Adlershof der Humboldt-Universität und referiert, was er herausgefunden hat, nachdem er dutzende Leistungskursaufgaben mit den bayerischen Abituraufgaben aus den Jahren 2011 bis 2017 durchgerechnet und verglichen hat. „Man muss konstatieren, dass die Crème de la Crème der Berliner Mathematikabiturienten einfachere Prüfungen zu bewerkstelligen hat als der bayerische Durchschnittsschüler. Weniger absolut zu bearbeitende Aufgaben, weniger auftretende Funktionstypen, weniger abgeprüfte Themeninhalte, teilweise keinerlei Begründungsaufgaben oder Aufgaben in fremden Sachkontexten“, fasst der künftige Lehrer seine Befunde gegenüber dem Tagesspiegel zusammen. Zudem könnten die Berliner Schüler individuell das für sie einfachere Abitur auswählen und somit unangenehme Funktionstypen umgehen.

    aus: Prüfungsvorgaben für das Abitur 2018/19, Berlin

In Berlin ist Mathe im Abitur nicht Pflicht

Dies bedeutet, dass die 30 Prozent eines Jahrgangs, die in Bayern das Abitur ablegen, schwierigere Aufgaben zu lösen haben als die zehn Prozent eines Jahrgangs, die in Berlin Mathematik als Leistungsfach wählen: In Berlin macht nämlich zwar die Hälfte eines Jahrgangs Abitur (2016: 47,6 Prozent). Von dieser Hälfte aber wählen nur 20 Prozent den Leistungskurs Mathematik, wie aus der Statistik der Senatsverwaltung für Bildung „Blickpunkt Schule“ hervorgeht – unterm Strich also nur jeder zehnte Berliner Schüler eines Gesamtjahrgangs.

Die anderen Berliner Abiturienten müssen Mathe zwar belegen, aber eine Abiturprüfung in diesem Fach ist nicht Pflicht. Stattdessen gibt es als Mittelweg noch die Möglichkeit, Mathematik als drittes oder viertes Prüfungsfach zu nehmen, das dann nur auf dem Grundkursniveau geprüft wird, somit erst recht hinter dem bayerischen Abitur zurückbleibt.

Der Schwierigkeitsgrad ist streng monoton fallend“

„Das Grundkursabitur ist in Berlin deutlich einfacher als das Abitur in Bayern“, diagnostiziert denn auch Wenzecks Gutachter Andreas Filler, Professor am Institut für Mathematik der Humboldt-Universität und dort auch stellvertretender Direktor für Studium und Lehre. Daraus sowie aus der Tatsache, dass das schriftliche Abitur in Mathematik nicht für alle Berliner Schüler obligatorisch sei, ergibt sich für Filler die Feststellung, „dass insgesamt deutlich höhere Anforderungen an die mathematischen Kenntnisse und Fähigkeiten bayerischer Schüler gestellt werden“.

Die Feststellungen bestätigen das, was Berliner Mathematiklehrer immer wieder beanstanden: den geringen Anspruch des Berliner Abiturs. Zuletzt hatte es 2016 Empörung gegeben, als die Aufgaben noch einfacher ausgefallen waren als sonst – auch im Mittleren Schulabschluss. Allen voran hatte damals der Fachbereichsleiter für Mathematik im Charlottenburger Herder-Gymnasium, Thilo Steinkrauß, protestiert: Der Schwierigkeitsgrad sei „streng monoton fallend“, monierte er und sprach von „wachsweichen“ Prüfungsaufgaben im Grundkurs- und im Leistungskursabitur.

„Deutlich bessere Chancen, auf Lücke zu lernen“

„In Berlin fehlen im Abitur vor allem Winkelfunktionen, die laut Rahmenlehrplan jedoch vorgesehen sind und somit behandelt werden sollten“, sagt Wenzeck. Für ihn ein weiteres Beispiel für den geringeren Anspruch. Man habe insgesamt im Berliner Abitur „deutlich bessere Chancen, auf Lücke zu lernen als im bayerischen“. Der abgefragte Umfang, die Vorhersagbarkeit, welche Aufgaben gegeben werden, die wenigen Funktionstypen ergäben „gravierende Unterschiede zwischen den beiden Bundesländern“ – und das, obwohl die Berliner Leistungskursschüler fünf Mathematikstunden pro Woche habe, die Bayern aber nur vier.

Ebenso wie Filler hat auch die andere Gutachterin, Luise Fehlinger, viel Lob für den 26-jährigen Studenten aus Bayern. Die HU-Mathematikerin konstatiert anhand seiner Befunde, dass das bayerische Abitur bezüglich der Themenvielfalt „immer deutlich über dem Berliner Abitur“ liege. Insbesondere der Bereich mathematische Begründungen und Nachweise stehe in Bayern im Fokus, wohingegen Berlin dies „fast vollständig vernachlässigt“. Fehlinger findet das „äußerst bedenklich“, da ja genau hier das Wesen der Mathematik liege.

„Der mathematische Gehalt sinkt“

Insofern prüfe das Berliner Abitur eigentlich nicht Mathematik-Kenntnisse sondern Rechenfähigkeit. In diesem Punkt liege eine weitere Ursache für die unterschiedliche Schwierigkeit der beiden Abiture: Rechenaufgaben, wie sie in Berlin überwiegend zum Einsatz kämen, ließen sich besser trainieren, Begründungen und Nachweise, wie sie in Bayern stark vertreten seien, benötigten ein umfangreiches Verständnis. „Der mathematische Gehalt sinkt, schon weil der Kern von Mathematik, nämlich das Begründen und  Beweisen, explizit als Prüfungsinhalt ausgeschlossen wird“, diagnostiziert auch Mathematiklehrer Steinkrauß. […]

zum Artikel: TSP, 20.08.2018, Susanne Vieth-Entus, Berlins Mathe-Abiturienten haben es leichter

Hervorhebungen im Fettdruck und Beiträge im Einzug durch Schulforum-Berlin.

„Für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit: Kompetenzorientierung als Inkompetenz“

Kompetent in Kompetenz?

1. Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz“ – am 7./8. Juli 2017 in Frankfurt-Main

Die Kompetenzorientierung, so fürchten die Verantwortlichen, wird auch an den Universitäten, wie schon an den Schulen, mit einem weitgehenden Verzicht auf die Vermittlung umfassender Wissensbestände und mit der Einführung der völlig umstrittenen reformpädagogischen “Neuen Lernkultur” einhergehen – und dies alles, ohne dass jene Konzepte je empirisch abgesichert worden wären.

Die Veranstaltung wird von Professoren der Goethe-Universität, die in der Medizin, den Rechts- und den Naturwissenschaften Lehrverantwortung tragen, organisiert – im Angesicht der von der KMK und HRK geplanten Einführung der strikten Kompetenzorientierung in die universitären Curricula.

Der Tagungsort ist das Universitätsklinikum in Frankfurt-Main. Der Eintritt ist frei und für jeden Interessierten möglich.  Den Veranstaltern ist es gelungen, renommierte Vortragende aus unterschiedlichen Fachbereichen deutscher und österreichischer Universitäten und aus der Politik zu gewinnen.

zum Programm

Wissen und Können in Schule und Universität nachhaltig vermitteln

Klüger lernen

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Bildungsprozesse oder anders gefragt: Was ist nachhaltiges Wissen und wie muss es vermittelt oder erlernt werden?

Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Humbold-Universität Berlin, 10.10.2015

(…) Lernen ist zum globalen Problem avanciert, und zwar nicht nur im Hinblick auf die sich immer schneller ablösenden Lerninhalte, sondern auch auf Probleme des Lernens selbst, hinsichtlich seiner Methoden, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formen. Junge Menschen müssen sich auf Anforderungen vorbereiten, die noch niemand genau kennt.

In der Schule gehören daher solides Grundwissen und entsprechendes Können zu den Prämissen nachhaltiger Bildung. Dahinter verbirgt sich vor allem das Rüstzeug, ein Leben lang weiter zu lernen und den jeweiligen Lernbedarf rechtzeitig und selbständig zu erkennen. Es gibt dafür den vergleichsweise nüchternen Terminus „Kulturtechniken“.

An der Universität geht es um die Fähigkeit, wissenschaftlich an die Welt heranzugehen und zugleich das Wissen und Können zu mehren, das in der Schule den „Lernstoff“ bildet, also die Wissenschaft voranzutreiben. (…)

Denn Wissen kann man quantifizieren, Bildung jedoch bedeutet, Wissen zu qualifizieren. Wissen ist der Rohstoff für Bildung – nachhaltig lässt er sich einsetzen, wenn man es ordnet und verknüpft, aber auch kritisch prüft und auswählt, methodisch herleitet, an Sinn und Einsicht knüpft. Eingebettet in ein Kontinuum von Menschlichkeit und Kultur wird dann aus Bildung ein nachhaltiges Projekt.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Beilage der HU zum Start des Wintersemesters 2015/2016, 10.10.2015, Jan-Hendrik Olbertz, HU-Präsident, Klüger Lernen

Hervorhebung im Fettdruck durch Schulforum-Berlin