Archiv für den Monat: Juli 2017

„Entqualifizierung des Lehrerberufs auf hohem Niveau“

„Berliner Pädagogenmangel“ oder „Das letzte Aufgebot“

Jetzt lernen Nachwuchslehrer bei Anfängern

TSP, 17.07.2017, Susanne Vieth-Entus
Eine neue Facette des Lehrermangels in Berlin: Die ersten Seminare für Referendare werden jetzt von Berufseinsteigern geleitet. „In wenigen Ausnahmefällen wurden auch Lehrkräfte [als Fachseminarleiter] beauftragt, die aufgrund ihrer fachlichen Eignung weniger als zwei Jahre im Schuldienst tätig sind“, erläuterte Beate Stoffers, die Sprecherin von Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD). Dies betreffe allerdings nur etwa zehn von derzeit über 700 Fachseminarleitungen.

Eine solide Ausbildung fehlt

Schulen und Pädagogen sind über diese abermalige Absenkung der Ansprüche entsetzt. Denn die besagten Seminare sind eigentlich dazu da, bei den frischen Absolventen des Lehramtsstudiums die große Lücke zwischen Studium und Schulpraxis zu schließen. Zudem sitzen dort hunderte von beruflichen Quereinsteigern, die von Pädagogik, Lernprozessen und Didaktik noch nie etwas gehört haben. Die Folge ist, dass sich in den Seminaren immer mehr Teilnehmer einfinden, die von Schule und Unterricht nur wenig Ahnung haben. (…)

Bei den Neueinstellungen hatte jeder dritte Lehrer im Grundschulbereich kein Lehrerexamen[!].

Der Lehrer und Fachseminarleiter für Geschichte, Robert Rauh, zur Herabsetzung der bisherigen Berufspraxis von Fachseminarleitern: „Wenn diese Voraussetzung [mindestens fünf Jahre Berufspraxis] aufgrund von Personalnot Makulatur wird, dann setzt sich die seit Jahren um sich greifende Entqualifizierung des Lehrerberufes in Berlin fort – jetzt nur auf höherem Niveau. (…)

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

zum Artikel: TSP, 17.07.2017, Susanne Vieth-Entus, Das letzte Aufgebot – Jetzt lernen Nachwuchslehrer bei Anfängern

„Inklusion stellt die Systemfrage!“

Wie man sich von aller schulpolitischen Vernunft verabschieden kann

Von der Realität der Inklusion: Michael Felten zieht in seinem Buch eine schonungslose Bilanz des gemeinsamen Unterrichts an deutschen Schulen.

FAZ, 15. JULI 2017, von Heike Schmoll
LITERATUR UND SACHBUCH

[Das Buch, „Die Inklusionsfalle“,] ist eine schonungslose Abrechnung mit der Praxis des gemeinsamen Unterrichts. Felten, seit fünfunddreißig Jahren Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst und zugleich Lehrbeauftragter in der Lehrerbildung, dürfte dabei vielen seiner Kollegen aus der Seele sprechen. Denn sie sehen täglich, wie weit der Schulalltag mit seinen Aporien des gemeinsamen Unterrichts von den Wohlfühlparolen der ministeriellen Hochglanzbroschüren entfernt ist und das gesamte Bildungssystem „langfristig in eine grandiose Schieflage zu geraten“ droht.

Felten hat die Entwicklung der Inklusion in seinem Heimatland Nordrhein-Westfalen aus der Nähe beobachtet und gesehen, wie Inklusion mit der Brechstange durchgesetzt wird, Lehrer und Schulleiter gemaßregelt wurden, die auf Missstände hinwiesen; Grundschulkollegen, die, versehen mit Bisswunden ihrer Schüler, von der Parallelwelt ihres Schulalltags berichteten, von der niemand ahnt, der es nicht selbst erlebt hat.

Der Autor glaubt nach seinen umfangreichen Recherchen nicht mehr, dass es sich nur um Kinderkrankheiten eines noch nicht etablierten Systems, um Unterfinanzierung oder einen Mangel an geeigneten Lehrern handelt, sondern „um einen Systemfehler“, um „konzeptionelle Irrtümer, womöglich um ideologische Irreführung“. Warum das so ist, deckt Felten Schritt für Schritt in einem der stärksten Kapitel des Buches mit dem Titel „Blick hinter die Kulissen“ auf.

Dort zeigt er nicht nur, dass von einer Schließung der Förderschulen in der UN-Behindertenrechtskonvention nie die Rede war, sondern erinnert auch an die peinliche Abstimmung während einer Nachtsitzung des Deutschen Bundestags am 13.Dezember 2006, als nicht einmal fünfzig Abgeordnete im Saal waren, die das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ nur noch übermüdet abnickten und Vorbehalte der Bundesregierung und der Kultusminister zu den notwendigen sachlichen und räumlichen Voraussetzungen zugunsten einer Verabsolutierung der Inklusion abtaten.

Bayern, das die schulpolitische Vernunft auch nicht für sich gepachtet hat, ließ sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen und hielt konsequent an seinem Förderschulsystem fest. Dort steht das Wohl der Beteiligten an erster Stelle. Es gab allenfalls Lernen in einer sonderpädagogischen Partnerklasse an der Regelschule mit einem auf wenige Stunden beschränkten gemeinsamen Unterricht mit der Regelklasse. (…)

Nordrhein-Westfalen, dessen rot-grüne Landesregierung während der Abfassung des Buchmanuskripts noch im Amt war, berechnete kurzerhand die gebrauchten Förderlehrer nicht mehr anhand der Anzahl der Förderschüler, sondern nach der Schulgröße oder nach der Zügigkeit. Auf diese Weise wurden behinderte Kinder lange gar nicht gefördert, sondern nahmen als „U-Boote“ meist weniger erfolgreich am Regelunterricht teil. Während die FDP die Missstände laut und deutlich beim Namen nannte, schwieg die CDU im Düsseldorfer Landtag weitgehend und forderte erst Ende 2016 ein Moratorium für die Inklusion. Nun wird sie selbst dafür sorgen müssen, dass es auch dazu kommt.

Inzwischen hat die gescheiterte Inklusion zur Abwahl der rot-grünen nordrhein-westfälischen Landesregierung geführt, was Mecklenburg-Vorpommerns neue SPD-Kultusministerin nicht hinderte, kurz darauf beherzt die landesweite Schließung der Förderschulen zu verkünden und zu behaupten, es sei ganz gleichgültig, wo die Förderlehrer unterrichteten, ob an der Regelschule oder der Förderschule. Ihr von Felten zitierter Vorgänger Mathias Brodkorb (SPD), der angesichts der Inklusion von „Kommunismus für die Schule“ gesprochen hatte, war mit weniger Ignoranz geschlagen.

Eine weitere Mär, die Felten faktenreich entzaubert, ist die angeblich gelungene Inklusion in Südtirol, die behinderten Schülern zwar Kompetenzen bescheinigt, sie aber aus dem regulären Bewertungssystem ausklammert, was zur Folge hat, dass sie auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen haben und die wohlgemeinte Inklusion faktisch zur Exklusion wird. Hinzu kommt, dass den italienischen Schülern gern immer neue Diagnosen attestiert werden (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Lernschwäche), damit den Schulen mehr Lehrer zugewiesen werden.

In seiner Bilanz meint Felten, dass Inklusion wohl noch am ehesten im Primarbereich gelingen könne, wenn die baulichen und technischen Voraussetzungen an der jeweiligen Schule gegeben seien. Jedoch hänge das Entwicklungswohl weniger vom Fördermodell ab als von der vorherrschenden Unterrichtsqualität, der Professionalität der Förderung und der Kollegialität an einer Schule. „Klasseneffekte sind stärker als Struktureffekte.“ Das ist auch in Studien belegt.

Über die Forschungsdefizite im Sekundarbereich indessen weiß man nichts. Trotzdem werden immer neue Inklusionsversuche gestartet, die eine ganze Schülergeneration in einen schulischen Großversuch mit ungewissem Ausgang schickt. Dabei müsste es schon nachdenklich stimmen, wenn sich etwa in einer österreichischen Längsschnittstudie zeigt, dass Förderschüler drei- bis viermal so häufig wie Regelschüler keine wechselseitigen Freundschaften schließen konnten, also trotz der inklusiven Beschulung so viel einsamer waren als an einer Förderschule.

Ein pädagogisch sinnvoll ausgebautes System schulischer Inklusion kostet allein in Deutschland viermal so viel wie das Förderschulsystem. Doch davon wollen die verantwortlichen Politiker lieber nichts hören, denn sie wissen, dass sie die nötigen Mittel niemals haben werden. Stattdessen wurde getrickst, um weitere Förderschulen zu schließen, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die Mindestgrößen für die Aufrechterhaltung eines Standorts schlicht verdoppelt wurden, was den Eltern die Freiheit der Schulwahl nahm. Felten ist kein Inklusionsgegner, aber er wagt es auszusprechen, was viele seiner Kollegen täglich erleben.


mehr zum Buch: siehe Bücherliste


siehe auch:   Illusion Inklusion
Wieder sind die Schulen zum Schauplatz einer Ideologie geworden. Das Opfer: die Förderschulen.

Heike Schmoll schreibt in der FAZ vom 23.05.2017:
(…) Zwischen der politischen Propaganda der Länder und der Schulrealität klaffen Welten. Zwar schickt nahezu täglich ein Kultusministerium eine Erfolgsmeldung über neue Zahlen förderbedürftiger Schüler an Regelschulen. (…) Über die Qualität der Förderung ist damit aber noch nichts gesagt, ganz im Gegenteil. Zugleich wächst die Unzufriedenheit der Eltern behinderter Kinder über die Einschränkung des Elternwahlrechts. (…) Die Kultusministerien reden im Pädagogenjargon von zieldifferenter Förderung, mehreren Niveaustufen und meinen, das Dilemma lasse sich durch Aus- und Weiterbildung der Lehrer lösen. Aber das ist ein Trugschluss. Wie so oft delegieren sie die Verantwortung an die Lehrer. (…) Einer zunehmend heterogenen Schülerschaft steht deshalb eine immer stärker entprofessionalisierte Lehrerschaft gegenüber. Der pädagogische Großversuch der Inklusion, der auf wachsende Ernüchterung bei den Praktikern gestoßen ist, kann auf diese Weise nur scheitern. Was wohlgemeint daherkommt, widerspricht viel zu oft dem Kindeswohl. Die fortschreitende Auflösung von Behinderungs- und Förderkategorien führt zu einer fatalen Selbst- und Fremdtäuschung. Denn die fehlende individuelle Diagnose endet genau bei jener Benachteiligung, die sie eigentlich vermeiden will. Deshalb ist es nötig, genügend Förderschulen zu erhalten und nur diejenigen Förderbedürftigen in die Regelschule zu integrieren, die davon profitieren. (…) Die Schulzeit muss sich an ihrem Ertrag für die jeweilige Bildungsbiographie messen lassen und nicht an den Ideologien bestimmter Ministerien oder Inklusionstheoretiker.

zum Artikel:  FAZ, 23.05.2017, POLITIK, Heike Schmoll, Illusion Inklusion

Online bis der Arzt kommt – Gefahren der Digitalisierung

Generation „Always on“ muss lernen, abzuschalten und dies auszuhalten

Über 500.000 Schulabgänger in Deutschland beginnen in wenigen Wochen ihre Ausbildung. Für viele ist der neue Lebensabschnitt eine große Veränderung – Tagesablauf, Wohnverhältnisse, das soziale Umfeld und ihr Freizeitverhalten verändern sich, und auch das digitale Leben der Generation Smartphone teilt sich erstmals in Berufliches und Privates.

Zum Ersten gehören neue Regeln, neue Anstrengungen und sie müssen ihren Medienkonsum umstellen. In den meisten Jobs dürfen sie das Smartphone, das sie seit Jahren auf Schritt und Tritt begleitet hat, nicht privat nutzen, oftmals erst gar nicht mit an den Arbeitsplatz nehmen. Dort würden die Azubis sonst wie gewohnt immer wieder ihr Handy zücken, um etwa bei Whatsapp oder in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram auf dem Laufenden zu bleiben.

Vielen fällt diese Umstellung schwer. Tagsüber haben sie Sorge, etwas zu verpassen. Dafür gibt es sogar schon einen Begriff: „Fomo“ ‒ Fear of missing out. Nach Feierabend sammeln sich unzählige Mails und Chatnachrichten zu einer digitalen To-Do-Liste, die kaum zu bewältigen ist. Statt den Feierabend für einen gesunden Ausgleich zu nutzen, finden sich viele wieder vor einem Bildschirm ein. Das Abschalten fällt vielen schwer.

Seit Jahren verzeichnen die Krankenkassen einen Anstieg psychisch bedingter Fehlzeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Bei Auszubildenden fällt dieser jedoch noch stärker aus als im Durchschnitt der Beschäftigten. Nach Angaben des am 28. Juni 2017 veröffentlichten Gesundheitsreports der Techniker Krankenkasse sind die Fehlzeiten aufgrund von Depressionen, Anpassungs- und Belastungsstörungen etc. bei Auszubildenden zwischen 16 und 25 Jahren seit dem Jahr 2000 um 108 Prozent gestiegen.

Die Ursachen psychischer Beschwerden sind vielfältig: Es gibt zwar eine bessere medizinische Versorgung, aber unser Lebensstil, wie wir arbeiten, wie wir mit Stress umgehen und wie und ob wir für Ausgleich sorgen, spielt eine große Rolle.

Eine Ursache für den hohen Stresslevel der Berufseinsteiger sehen die Experten auch im Medienkonsum. Dr. Volker Busch, Neurologe: „Viele verbringen ihren Feierabend gern mit digitalen Medien. Aber der Versuch, sie gleichzeitig oder wechselweise zu nutzen und so ständig abgelenkt und unterbrochen zu sein, kostet das Gehirn Kraft und geht auf Kosten der Regeneration.“ Die ständige Verbindung ins Internet bewirke eine Verstopfung der menschlichen Schaltzentrale mit Informationen. „Erst die konzentrierte Tiefe auf eine Angelegenheit, das Versinken in einem Buch, einem Gespräch oder das Genießen der Natur entspannt das Gehirn effektiv. Unser Gehirn braucht solche Ruhephasen, auch wenn manche erst wieder lernen müssen, diese auszuhalten.“

aus:  https://www.tk.de/tk/pressemitteilungen/bundesweite-pressemitteilungen/954302
Gesundheitsreport 2017, Gesundheit von Auszubildenden
TSP, 29.06.2017, Sarah Kramer, Wer ständig sein Smartphone checkt, baut Stress auf