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Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.

Tablets für alle – Kindergarten und Schule gerettet!?

Karin Prien ist seit Jahren Bildungspolitikerin und aktuell bis Jahresende auch Präsidentin der Kultusministerkonfernz. Vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin kam die Studie „Bildungstrend 2021“ heraus, die den Viertklässlern noch gravierendere Defizite in Deutsch und Mathematik bescheinigte als je zuvor.

Rund 27% der Schülerinnen und Schüler in Berlin erreichen im Bereich Lesen und Zuhören – in Orthografie sind dies 46% und in Mathematik 34,5% – nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. Ihnen fehlen basale Grundkenntnisse!

Die Erkenntnis der Präsidentin nach bereits sieben PISA-Runden: „Nach Pisa ist viel zu wenig passiert“. Eine Lösung für die Schülerinnen und Schüler sieht sie in den digitalen Medien. Nachfolgend die Entgegnung eines Berliner Lehrers.


Sehr geehrte Frau Präsidentin Prien!

Mit großem Interesse habe ich Ihr Interview im Tagesspiegel vom 30. Oktober gelesen. Die Frage „Braucht jedes Schulkind ein Tablet“ beantworteten Sie mit „Ja, jedes Kind braucht ein Endgerät“, um dann auf Finanzierungsfragen einzugehen.
Über diese (teure) Aussage ohne pädagogische Begründung, ohne wissenschaftliches Fundament war und bin ich doch sehr überrascht, insbesondere wegen Ihrer prominenten und einflussreichen Position und Ihrer ausführlichen Hinweise zuvor, dass Eltern mit ihren Kindern viel sprechen und ihnen vorlesen sollen, persönliche Bindungen und Vorbilder demnach der Kern sind, „basal“ und „unverzichtbar“, wie Sie betonen. Später beklagen Sie die Skepsis von Lehrern gegenüber Lernstandserhebungen und die mangelnde Akzeptanz von Förderprogrammen, deren Nutzen wissenschaftlich erwiesen sei, und fordern deren Verwendung verbindlich.
Ich kenne keine einzige seriöse Studie, die für Kinder oder Jugendliche in der Pubertät einen (nachhaltigen) positiven Effekt von Tablets in Bezug auf Allgemeinbildung in der bzw. durch die Schule oder auf die Primär- oder wenigstens Sekundärtugenden nachweist, schon gar nicht bei Kindern im Grundschul- oder Kindergartenalter, auf die sich das Interview fokussiert. Die Corona-Jahre haben doch unterstrichen, dass der Computer eben nicht die Lösung fürs Erlernen unserer Kulturtechniken ist – im Gegenteil! Die durchschnittlichen Bildschirmzeiten von Kindern und Jugendlichen legen nahe, dass hier wohl kein Nachholbedarf besteht.
Mitnichten bin ich ein Feind digitaler Medien, nutze sie im Unterricht, aber sie bleiben eben vermittelndes Element, sind nicht Selbstzweck – und ganz sicher nicht die eierlegende Wollmilchsau der Bildung in der Schule.
Ein pauschales Ja der Präsidentin der Kultusministerkonferenz zu Endgeräten in der (Grund-) Schule oder gar bereits im Kindergarten vermittelt aber gerade den Eindruck, durch Tablets für jedes Schulkind (prompt) Erfolge erzielen zu können. Sie sagen zu Beginn des Interviews selbst: „In der Bildungspolitik gibt es keine kurzfristigen Erfolge, sondern es helfen nur langfristige Strategien.“
Wie lauten die Strategien und deren wissenschaftliche Begründungen durch unabhängige Forscher?

Mit freundlichen Grüßen,
Thilo Steinkrauß


Thilo Steinkrauß ist Fachbereichsleiter für Mathematik am Herder-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg
www.herder-gymnasium.eu

Siehe dazu auch den Beitrag:
Überwachungstechnologie in der Schule als KMK-„Bildungskonzept“ – Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

Die „Bildungs“-Stiftungen als Türöffner

Perfektes Zusammenspiel

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Geht es um die „Digitale Schule“, dann hebt der ehemalige Schulleiter Jacob Chammon, der die Deutsch-Skandinavische Gemeinschaftsschule in Berlin geleitet hat, eifrig die Hand, um Gehör zu finden. [1] Seit 1. April 2020 ist er als geschäftsführender Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung tätig. Betrachtet man die Strategie der in diesem Forum zusammengefassten Stiftungen – darunter die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Wübben Stiftung [2] – und die mit ihnen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer [3], entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel: Die Stiftungen wirken wie ein Türöffner“. [4] So gibt das Forum „Empfehlungen, erarbeitet praktische Lösungen und leistet Orientierungshilfe für schulische Veränderungsprozesse.“ [5] Zu jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit melden sich deren „Experten“ zu Wort, um ihre „revolutionierenden digitalen Bildungskonzepte“ voranzubringen. Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Administrativer Druck gefordert

Eine der „Orientierungshilfen“ zur Einführung „digitaler Tools“ führt sogar so weit, dass von den „Bildungsexperten“ gefordert wird, „mehr administrativen Druck auf die Schulen“ auszuüben. [6] Deutlich wird: Es geht darum, das „digitale Bildungskonzept“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion. Dazu äußert sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, mit einem exemplarischen Beispiel für das Vorgehen der Bildungsstiftungen: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“ [7] Von den Akteuren wird vordergründig angegeben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen und den Lehrkräften wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Dies soll, so wird beschworen, mit Hilfe der verschiedensten „digitalen Tools“ möglich sein. [8]

Werbewirksame Produktbeschreibungen

Fakt zu den vielen Erfolgsversprechen der „segensreichen [!] Wirkung“ der „digitalen Tools“ ist: Es gibt keine kontrollierten Studien über die Lernwirksamkeit der digitalen Lernwerkzeuge. Auch fehlen Studien zu der Belastbarkeit, d.h. zur Glaubwürdigkeit der Aussagen zu den Lehr- und Lernprodukten. Die Erfolgsversprechen basieren auf Aussagen einzelner Akteure und Lobbyisten oder entspringen der werbewirksamen Produktbeschreibung der Hersteller. [9] Deutlich wird: Das Vorgehen der Akteure und die „Empfehlungen“ dienen der Verschleierung, z.B. von ideologischen oder ökonomischen Interessen.

Individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem

Unberücksichtigt bleibt, dass die durch die „digitalen Tools“ vielfältig gesammelten Daten nicht nur bei Schulen, sondern – so gewollt – bei den Startups und Unternehmen landen. Vorgegeben wird, damit den individuellen Lernprozess der Schülerinnen und Schüler zu optimieren. Dazu bedarf es personenbezogener Daten, mehr Daten und noch mehr Daten – dem „Schmierstoff“ dieses digitalen Bildungsmodells. Das Geschäftsmodell lautet: „Individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem“. [10]

Dieses „Geschäft“ mit unseren Schülerinnen und Schülern scheint dem ehemaligen Berliner Bildungssenator, Jürgen Zöllner, heute aktiv in der Wübben Stiftung, keine Kopfschmerzen zu bereiten, wenn er schreibt: „Datenschutz ist zum Kult geworden, der zum Selbstzweck mutiert“. Weiter führt er aus, dass „innovative Schulen mit ebensolchen Lehrkräften […] mit absurden bürokratischen und datenschutzrechtlichen Steinen, die ihnen in den Weg gelegt werden“ zu kämpfen hätten. [11] Heißt innovatives Vorgehen die Aussetzung eines Grundrechtes, der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft?

Dazu die Beauftragten für den Datenschutz und Informationsfreiheit Maja Smoltczyk (Berlin) und Dieter Kugelmann (Rheinland-Pfalz): „[W]enn Datenschützer:innen fordern, dass die Digitalisierung der Schulen datenschutzgerecht erfolgen muss, dient dies nicht der Verhinderung von Digitalisierung, […] es geht darum, für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte einen geschützten Raum zu schaffen, in dem ihre Daten sicher sind, nicht missbraucht und irgendwann gegen sie verwendet werden“. [12] Auch ist einzubeziehen, dass die Schaffung einer den gesamten Bildungsweg durchziehenden, personenbezogenen, unkontrollierbaren Datensammlung erhebliche pädagogische und ethische Konsequenzen mit sich bringt. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die damit einhergehenden Risiken kaum abschätzbar.

Design der Tools

Den Schulleitungen, Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern ist zu empfehlen, bei der Digitalisierungsstrategie ihrer Schule zu berücksichtigen, dass hinter jeder Lernsoftware, „hinter jeder digitalen Lernplattform, jeder App, jeder Schulverwaltungssoftware, eine bestimmte, zu einem programmierbaren Design verdichtete Idee von Schule, von Lernen oder Lernzuwachs, von SchülerInnen oder Lehrkräften“ steht. […] D.h. bei der „Nutzung eines Tools lassen sich die NutzerInnen automatisch auf eine bestimmte Sichtweise auf […] Bildung ein“ ohne zu wissen „wie Bildung und Lernen in der konkreten Software verstanden werden“ und ob diese mit den eigenen „Werten und Ideen von Lernen und Bildung zusammenpasst“. [13]

Ohne Kommentar

Als Fazit ist anzumerken, dass bei der Nutzung digitaler Lerntools durch die Schülerinnen und Schüler von den „Bildungsexperten“ die Vereinzelung beim Lernen, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen, ja auch die Aussetzung eines Grundrechts kommentarlos hingenommen wird. Der Hype, der um die „Digitale Schule“ gemacht wird, ist gerade auch Schülerinnen und Schülern von sogenannten „Tabletklassen“ bewusst, die fordern:

Weniger bringt mehr!

[1] TSP, 22.09.2021, Amory Burchard, Digitale Schule „nach Corona“ – Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht (Titel in der Onlineausgabe)

[2] Es sind dies derzeit neun Stiftungen: Die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, die Stiftung Mercator und die Wübben Stiftung.

[3] Weitere Informationen:  Förschler, Annina (2018): Das „Who is Who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, 2018, S. 31-52. 

[4] Christian Füller (2016): Perfektes Zusammenspiel. In: GEW Landesverband Hamburg, Bildungspolitik, E&W 06/2016.   

[5] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/lehrkraefte-plus-1-1

[6] Tagesspiegel, 22.09.2021, Amory Burchard, Digitale Schule „nach Corona“ – Bildungsexperten warnen vor Rückkehr zum klassischen Frontalunterricht (Titel in der Onlineausgabe)

[7] Die Bertelsmann-Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“

[8] Trendstudie „KI@Bildung“ (2021): „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“, S. 4. Die Studie war im Auftrag der Deutschen Telekom-Stiftung durchgeführt worden, veröffentlicht am 1.7.2021.

[9] Siehe dazu die Besprechung der Studien für Schulforum-Berlin: „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ der Robert Bosch Stiftung (2018) sowie KI@Bildung – Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz – Schlussbericht – der Deutschen Telekom Stiftung (2021)

[10] Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt (2018): Die digitale Bildungsrevolution, S. 24.

[11] Jürgen Zöllner, Impaktmagazin Spezial, Bildungspolitik in Zeiten der Pandemie ein Aufruf zum Aufbruch. Zöllner gehört dem Kuratorium der Wübben Stiftung an, formiert unter dem Dach des „Forum Bildung Digitalisierung“.

[12] Tagesspiegel, 5.2.2021, Dieter Kugelmann, Maja Smoltczyk, Datenschutz ist kein Supergrundrecht – Aber er ist ein Grundrecht. Onlineversion: Die billige Suche nach Sündenböcken löst keine Probleme„Schluss mit den Attacken auf den Datenschutz“

[13] Siegrid Hartong u.a. (2021): Unblack the Box, Anregungen für eine (selbst)bewusste Auseinandersetzung mit digitaler Bildung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 201 – 212.

Künstliche Intelligenz in der Schule?

Überwachungstechnologie in der Schule als
„Bildungskonzept“

„Skepsis gegenüber Versprechen von Künstlicher Intelligenz in der Bildung: Eine aktuelle Studie untersucht Risiken und Chancen der KI beim Lernen und Fördern.“

Besprechung der Trendstudie „KI@Bildung“ für Schulforum-Berlin[1]
Autor: Manfred Fischer


Mit der Überschrift „Kritischer Blick auf KI in der Schule“ machte „Der Tagesspiegel“ am 2.7.2021 in einem Beitrag[2] aufmerksam auf die am 1.7.2021 veröffentlichte Trendstudie „KI@Bildung“[3] mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“. Die Studie war im Auftrag der Deutschen Telekom-Stiftung vom mmb Institut Gesellschaft für Medien und Kompetenzforschung in Essen durchgeführt worden.[4]

Neben der Online-Expertenbefragung[5] (40 Teilnehmer) wurde noch ein zweieinhalbstündiger Experten-Workshop mit dem Titel: „KI@Schule – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ veranstaltet. An diesem Workshop haben 20 Expertinnen und Experten – deren Auswahl mit der Deutschen Telekom Stiftung abgestimmt wurde[6] – teilgenommen. Von diesen zwanzig ausgesuchten Teilnehmern kamen sieben von der „Deutschen Telekom“ oder deren Stiftung.

Für diejenigen Teilnehmer aus der Online-Expertenbefragung, die mehr zum Thema „Künstliche Intelligenz und Schule“ erfahren wollten, wird ein Beitrag der „Initiative D21“[7] empfohlen.

Der Titel der Trendstudie „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“ lässt aufhorchen: Mitglieder aus dem „Akteurs-Netzwerk der Digitalisierungsagenda von Bildung“[8] stellen ihr „digitales Bildungskonzept“[9] für die zahlreichen Herausforderungen an unseren Schulen als „revolutionierend“ für die „Bildung“ dar. Zu dem Netzwerk zählen u.a. die „Deutsche Telekom“, die „Deutsche Telekom-Stiftung“ sowie die „Initiative D21“. Ein vertiefter Blick in die Studie ist angesagt!

Das „digitale Evangelium“

Bereits im ersten Absatz der Studie unter der Überschrift „Management Summary“ wird die Richtung und Absicht der Studie mit folgender Aussage deutlich: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. […]

Educational Data Mining (EDM) ermöglicht, die im Zuge des „technologiebasierten“ Lernens anfallenden Unmengen an Daten – sei es zum Lernverhalten einzelner Schüler, dem Lernfortschritt der gesamten Klasse oder der Akzeptanz des Unterrichtskonzepts – zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen, um sie für weitere Analysen und Prognosen zu nutzen (ausführlich M. Ebner und S. Schön (Hrsg.): Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien.)

Learning Analytics hat die Interpretation der gesammelten Daten zum Ziel. Beim „technologiebasierten“ Lernen geht es darum, den individuellen Lernprozess zu optimieren. Dies geschieht nicht nur durch eine umfassende Abbildung des bisherigen Lernverhaltens, vielmehr sollen aus dem vorhandenen Datenbestand zugleich Erkenntnisse und Prognosen für die Zukunft abgeleitet werden. (ausführlich M. Ebner und S. Schön (Hrsg.))

Neben der Makro-Ebene (Schul-Organisation) und der Meso-Ebene (Unterrichtsgeschehen) eröffnen vor allem „auf der Mikro-Ebene `intelligente´ Lernanwendungen – also für den Lernprozess selbst – vielfältige neue Möglichkeiten, indem individualisiertere Lernformen und Assistenzsysteme sowie automatisierte Leistungsbewertungen, Lernempfehlungen und Prognosen realisiert werden können.“ (S. 4)

Diese zusammenfassende Aussage wird von den weltweit agierenden Medien- und IT-Unternehmen im Bildungsbereich und deren konzernnahen Stiftungen immer wieder vorgetragen. So fordert Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung eine, „Pädagogische Revolution“ um die digitalen Medien in den Schulen unterzubringen. Für die Unternehmen ist es ein milliardenschweres Geschäft![10]

Im „Diskurs“ mit sich selbst

Bereits im nächsten Absatz der Studie werden die „Erfolgsversprechen“ scheinbar relativiert. Erkenntnisse aus Forschungsbefunden aus Pädagogik, Neurowissenschaft, Lernpsychologie werden mit „Zweifel“ an den KI-gestützten Lerntechnologien beschrieben und herabsetzend als „Kritik“ dargestellt.

Die Verfasser schreiben:
„Aus Sicht der empirischen Bildungsforschung sowie der Lerntheorie werden jedoch auch immer wieder Zweifel an den Verheißungen KI-gestützter Lerntechnologien vorgebracht. Kritik macht sich u.a. an den zugrundeliegenden didaktischen Konzepten vermeintlich „intelligenter“ Lernanwendungen fest; auch sind die behaupteten lernfördernden Effekte KI-gestützter Anwendungen bislang zu wenig untersucht, und es fehlt generell an Evaluationen der verschiedenen Anwendungspotenziale (z.B. im Bereich des Automated Assessments und Gradings). Nicht zuletzt sind datenschutzrechtliche und ethische Fragestellungen gerade im Bereich der schulischen Bildung von vorrangiger Bedeutung.“ (S. 4)

Die zusammengefassten und unvollständig dargestellten Forschungsbefunde bleiben von den Autoren unberücksichtigt, denn für sie war bei der Auswahl der Lehr-/Lern-Produkte mit „Künstlicher Intelligenz“ ausschließlich die „Übertragbarkeit und Anwendbarkeit im deutschen Schul- und Bildungssystem“ von Bedeutung, d.h. der praktische Einsatz in unseren Schulen. Neben der Anwendung war auch der „Innovationsgrad“, d.h. der Markterfolg der „neuen“ Produkte für sie von Relevanz.[11] (S. 21, Hervorhebungen durch Schulforum-Berlin)

Unter der Überschrift: „Fragestellung“ wird an einem Beispiel erläutert, was die „Schülerinnen und Schüler“ in verschiedenen „KI-Szenarien“ zu erwarten haben:

Was jedem Zuschauer bei Fußball-TV-Übertragungen und Spielanalysen aus der „Sportschau“ bekannt ist, sind „ausführliche statistische Auswertungen“ des Spielverlaufs. Permanent erfasst und getrackt werden z.B. der „Ballbesitz“, „Antrittsgeschwindigkeit“ und „Laufstrecken“, „Passgenauigkeit“, „Schusswinkel“ und „Torschüsse“ sowie „Atemfrequenz und Fitness“. Das permanente Erfassen, Auswerten und Festhalten dieser Daten gelingt keinem Trainerteam. Möglich wird dies jedoch mit Hilfe von „Videoüberwachung, Wearables (körpernahen Sensoren) und automatischer Gesichtserkennung.“ (S. 7)

Die Berichterstatter der Trendstudie folgern daraus: „Was Startups […] für Fußball und andere Sportarten erfolgreich realisieren, findet selbstverständlich auch Eingang in den Bildungs- und Schulbereich, denn wieso sollte, was im Sport-Coaching funktioniert, nicht auch schulische Lernprozesse befördern?“ (S. 7) Soll hier schulische Bildung auf Quantifizierbares reduziert werden?

Überwachungstechnologie in der Schule

Wie das „Vermessen“ (z.B. Körpertemperatur, Gehirnströme, Puls- und Herzfrequenz, Augen- und Körperbewegungen etc.) der Schülerinnen und Schüler einer chinesischen Schulklasse bereits praktiziert wird[12], wird durch einen in der Studie angegebenen Videofilm[13] deutlich. (S. 7)

Screenshot aus Videofilm https://www.youtube.com/watch?v=JMLsHI8aV0g

Aus den gesammelten Daten sollen „Rückschlüsse auf Aufmerksamkeit, Verständnisprobleme und Konzentrationsstörungen“ gezogen werden, außerdem geht es auch darum, „künftige Leistungen oder Prüfungserfolge zu prognostizieren. […] [D]iese automatisch generierten Daten fließen ein in komplexe statistische Auswertungen und bilden die Grundlage für intelligente, selbstlernende Algorithmen („Machine Learning“) […]. Dies, so wird beschworen, ermögliche „eine Vielzahl von Anwendungen und Services rund um schulische Lernprozesse.“ (S. 7f)

Ziel der Marktanalyse, so die Verfasser der Studie, war es, „einen ersten systematischen Überblick über die im engeren Sinn „intelligenten“, d.h. KI-unterstützten Angebote zu geben, die überdies bereits als Produkte im Markt vorfindbar sind. […] Datengrundlage waren Deutsch- und Englischsprachige Webseiten und Texte.“ (S. 19)

In der Studie werden von den insgesamt 99 recherchierten und erfassten Anwendungen „fünf typische Beispiele für die Einsatzfelder steckbriefartig vorgestellt“. (S. 21)

Dies sind auf der
– Mikroebene („intelligente“ Lernanwendungen): Squirrel AI Learning von Squirrel, China und Bettermarks, Lernsystem für Mathematik aus Deutschland
– Mesoebene (Unterrichtsgeschehen): Knowledge Analysis Technology (KAT) von Pearson, USA und die Plattform für den Sprachunterricht, iFLYTEK, IT-Unternehmen, Spracherkennungssoftware, China
– Makroebene (Schul-Organisation): Watson Education Classroom von IBM, USA

Wirksamkeit und Belastbarkeit der Ed-Tech[14]-Produkte

Die Verfasser der Studie bemerken zu ihrer Arbeit: „Eine differenzierte Produktanalyse ist nicht intendiert.“ (Hervorhebung durch die Verfasser, S. 21) D.h., eine genaue und vertiefte Analyse der digitalen Ed-Tech-Produkte ist von den Verfassern der Studie nicht vorgenommen worden. Dieses „oberflächliche“ Betrachten der digitalen Produkte wird auch in der Beschreibung der fünf ausgewählten Applikationen deutlich.

Als Quellen für die Produktbeschreibung und -analyse werden die „Website des Unternehmens“ genannt, ein „Link zum Produktangebot“ sowie [Zeitungs-]„Berichte über Software und Unternehmen“ angegeben. (siehe Beispiele S. 22ff)

Es gibt in der Studie keine Angaben über die Wirksamkeit (Effektstärke) sowie die Belastbarkeit (Vertrauenswürdigkeit/Glaubwürdigkeit) der fünf beschriebenen digitalen Produkte und Lernwerkzeuge. Es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien (randomised controlled trials, RCTs) über die Wirksamkeit/Lernwirksamkeit der ausgewählten Produkte.

Diese Feststellung wird in der Studie unter der Überschrift „Potentiale, Herausforderungen und Risiken“ bestätigt. Die Verfasser schreiben: Für die Forschungsveröffentlichungen liegen „jedoch noch keine Untersuchungen in großem Stil“ vor. „Insbesondere Data Mining-/ Machine Learning-basierte Verfahren müssen ihre Effektivität noch in großen Feldstudien beweisen.“ (S. 29)

Ein Blick auf „Squirrel AI Learning“

Die Verfasser der Studie verweisen auf „einige wenige KI-basierte Bildungstechnologien, die gut erforscht sind [!] und einen Effektivitätsgewinn [!] in Bezug auf Lernergebnisse zeigen.“ Hier wird z.B. auf „Berichte aus China von Squirrel Al“ hingewiesen. (S. 29) Als Basis für diese Aussage gelten nachfolgende Quellen für die Produktbeschreibung[15]:

Quellen
– Squirrel: Nr. 45 in der Rechercheliste
– Webeite des Unternehmens: http://squirrelai.com
– Berichte über Software und Unternehmen:
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/schoenes-neues-lernen
http://secinfinity.net/china-begann-mit-kunstlicher-intelli-genz-statt-mit-lehrern-zu-unterrichten/
https://www.heise.de/hintergrund/4-4616136.html (S. 22)

Der CEO von Squirrel hat auf einer internationalen Startup- und Investorenkonferenz sein Produkt wie folgt beworben: „Angetrieben durch KI-Technologie wird die Lernmaschine eingesetzt, um viele Probleme in Chinas traditioneller Bildungsindustrie zu lösen, wie die ungleiche Verteilung von Bildungsressourcen und die geringe Lerneffizienz der Schüler. Die KI-Bildung wird sich schließlich zu einer personalisierten Bildung entwickeln und jedem Schüler eine eigene Lernlösung und einen KI Experten als Lehrer zur Verfügung stellen.“[16] (S. 22f)

Screenshot aus Website http://squirrelai.com

Alex Beard schreibt dazu: „Squirrel-Gründer Derek Li ist überzeugt, dass sie [die Unternehmen] das Bildungswesen, wie wir es kennen, grundlegend verändern werden. Überall auf der Welt schießen Unternehmen mit einem ähnlichen Ansatz aus dem Boden. Und nicht nur das: Immer mehr Geld fließt in den Bereich. Im Silicon Valley in den USA arbeiten Unternehmen wie „Knewton“[17] oder „ALTSchool“[18] [Altitude Learning] daran, das Lernen über Tablet-Computer zu personalisieren. In Indien hat sich „Byju’s“, eine Learning-App, die sechs Milliarden Dollar wert sein soll, die Unterstützung von Facebook und des chinesischen Internetgiganten Tencent gesichert.“[19]

Empfehlungen aus der Studie

Die Verfasser halten resümierend fest: Durch den starken Wettbewerb „mit chinesischen und amerikanischen Lerntechnologie-Anbietern [sollte] nicht nur stärker in Forschung und (Produkt-) Entwicklung investiert werden, sondern vor allen Dingen auch die praktische Erprobung und „Erdung“ dieser Technologien im Schulalltag ermöglicht […] werden.“ (S. 37)

Die „Strategie“ für das Vorgehen und das Unterbringen der „digitalen Bildungskonzepte mit künstlicher Intelligenz“ in der Schule wird aus der abschließenden Zusammenfassung deutlich:

„Es geht mithin um das ´Ineinander` bildungstechnologischer und didaktischer Prozesse und eine immer stärkere Verschränkung von autonomen [KI-gestützten Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics], technologiebasierten Lernphasen einerseits und sozialen Lernprozessen im Unterricht andererseits.“ (S. 39) Verschleiernd wird von den Autoren noch der Hinweis auf die „sozialen Lernprozesse im Unterricht“ angehängt.

Fazit:

Ziel von Bildungspolitik kann nicht sein, privatwirtschaftlichen EdTech-Unternehmen zu ermöglichen, ihr gewinnbringendes „digitales Bildungskonzept“ an unseren Schulen umzusetzen[20] – ganz ohne demokratische Kontrolle[21] und öffentliche Diskussion, aber mit vielen Erfolgsversprechen! Dieses Vorgehen der Akteure dient der Verschleierung, z.B. von ideologischen oder ökonomischen Interessen, und schafft bewusst Verwirrung.[22]

Entscheidend bei der Auswahl von Lehr- und Lernmitteln – egal ob digital oder analog – kann nur sein, was die Wissenschaft als essenziell für das Lernen erforscht hat, wie auf dieser Grundlage Schule und Unterricht zu gestalten sind und wofür der Begriff „Bildung“ in unserer Gesellschaft steht.[23]

In der Gesamtschau der Trendstudie wird deutlich, dass deren Verfasser „Chinesische Verhältnisse“ und „künstliche Intelligenz“ für eine Alternative im Klassenzimmer halten![24] Es ist offensichtlich, dass der Einsatz von “künstlicher Intelligenz“ im Unterricht von den Autoren als mögliche „Steuerung der Lehr- Lernprozesse“ gesehen wird: Big Brother is teaching you! Das Vorgehen wird zu einem „innovativen Ansatz“,[25] ohne wissenschaftliche Belege, hochstilisiert! Die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, die Vereinzelung beim Lernen, der Verlust von Sozialkompetenzen wird kommentarlos hingenommen. Die Beziehung und Empathie im Lernprozess wird durch „Überwachungstechnologie“ und „Ranking“ ersetzt.

Gerade bei als „innovativ“, „revolutionär“ oder „alternativlos“ beschriebenen digitalen und technologiebasierten Ansätzen im Bildungsbereich müssen die zuständigen Ministerien, Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern und gerade auch die Schülerinnen und Schüler sich die Frage stellen:

Wer steckt dahinter, welche Netzwerke sind hier aktiv, was sind deren Absichten, wer sind die Profiteure – kurz:
Wem nutzt es?

In diesem Sinne nimmt Marc Mattiesson, Lehrer am Städtischen Gymnasium Wermelskirchen, Stellung zum manipulativen Vorgehen der Akteure: Wir Lehrerinnen und Lehrer sind aufgerufen die „neoliberalen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen unserer Arbeit mitzudenken. Nur so können wir verhindern, dass unser soziales Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler instrumentalisiert wird. Voraussetzung dafür bleibt, dass wir insbesondere in Krisenzeiten wohlklingende Begriffe, forcierte Entwicklungen und uns als alternativlos präsentierte einfache Lösungen kritisch in den Blick nehmen. Sozialer Spaltung im Bildungssystem werden wir erst wieder etwas entgegenzusetzen haben, wenn Etikettenschwindel nicht mehr Schule machen kann.“[26]

Künstliche Intelligenz in der Schule? als PDF-Datei

Literatur zur Vertiefung:

Förschler, Annina (2018): Das „Who is Who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, 2018, S. 31-52.

Krautz, Jochen (2020): Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. Keine digitale Transformation von Schule. GBW-Flugschriften Nr. 1, Köln 2020

Lankau, Ralf (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. GBW-Flugschriften Nr. 2, Köln 2020


Anmerkungen:

[1] Das Schulforum-Berlin ist eine nichtkommerzielle und unabhängige Website unter Mitwirkung von Lehrkräften verschiedener Berliner Schulen. Schulforum-Berlin
[2] Tagesspiegel, 2.7.2021, Katharina Schneider, Lernhilfen und Leistungsanalysen – Kritischer Blick auf KI in der Schule
[3] KI@Bildung: Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz – Schlussbericht –
[4] Das „mmb Institut – Gesellschaft für Medien und Kompetenzforschung mbH“ versteht sich als Denkwerkstatt und Impulsgeber für die Innovation von Bildung und Lernen. Sie schreiben auf ihrer Website: „Die Digitalisierung der Bildung eröffnet vielfältige Chancen für neue Bildungsprodukte, Technologien und Unternehmen. Unerlässlich sind jedoch belastbare Informationen zu Marktpotenzialen und Markteintrittshürden, zu Trends und Zielgruppen.“
[5] Aus dem Einführungstext der Befragung: „Um die aktuelle Situation besser einschätzen zu können, möchten wir gerne Ihre Sichtweise und Meinung zu diesem Thema kennenlernen. Dabei geht es einerseits um Ihre Bewertung der didaktischen Potenziale und Herausforderungen, andererseits aber auch um die Frage, welche Rolle KI in der Schulorganisation spielen könnte. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich etwa 10 Minuten Zeit nehmen könnten, um die folgenden Fragen zu dieser Thematik zu bewerten.“
[6] Eine Teilnehmerin war vom „Schulministerium NRW, Referat 412: Lehren und Lernen in der Digitalen Welt, Medienberatung, Lernmittel“. (S. 58)
[7] Zu den Aktivitäten der „Initiative D21“ schreibt Förschler: „2013 brachten die Bertelsmann Stiftung mit drei Gesprächsrunden im Rahmen ihres „Education Innovation Circle“ sowie die Initiative D21 mit ihrer seit 2013 jährlich erscheinenden Studie „D21-Digital-Index“ zum „Lagebild der digitalen Gesellschaft“ (unter anderem in Kooperation mit Google und Texas Instruments) weitere Dynamik in den Diskurs um digitale Bildung.“ Aus: Förschler, Annina (2018): Das „Who is Who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, 2018, S. 39. Anzumerken ist: Die „Telekom“ nimmt auch einen Sitz im Gesamtvorstand der „Initiative D21“ ein.
[8] ebd.: Förschler stellt die politischen Aktivitäten sowie die Verbindungen und Aktivitäten (neuer) intermediärer Akteure (NROs, NGOs, Wissenschaftliche Institute, Stiftungen, Vereine, For-Profit-Unternehmen) in Richtung Datafizierung und Digitalisierung von Bildung dar.
[9] ebd.: „[E]s ist kritisch anzumerken, dass die Bezeichnung „digitale Bildung“ irreführend ist und eher als positiv konnotiertes, euphemistisches Synonym für die Einführung digitaler Lehr- und Lernmittel sowie das Forcieren digitaler Kompetenzen im Diskurs genutzt wird.“ (Fußnote S. 32)
[10] Wiederholt und in aggressiver Form versuchen dies auch Vertreter der Bertelsmann-Stiftung für den weltweit agierenden Bertelsmann Konzern. So fordert Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, eine „Pädagogische Revolution“ um die digitalen Medien in den Schulen unterzubringen. Die „Bildungskonzepte“ der Akteure als Experiment an den Schülerinnen und Schülern. Siehe auch: „Perfektes Zusammenspiel“ – Die Bertelsmann Stiftung wirbt intensiv für die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen. Das passt perfekt in die Strategie des gleichnamigen Konzerns: Das Bildungsgeschäft ist seine neue „Cash-Kuh“, Christian Füller.
[11] Eine vergleichbare verwirrende Vorgehensweise in der Studienpräsentation wird auch bei der Studie: „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden.“ der Robert Bosch Stiftung (2018) deutlich.
[12] Siehe: Schulen in China – Totale Überwachung mit Künstlicher Intelligenz | Schulforum-Berlin
[13] Siehe: Überwachungstechnologie in der Schule
[14] EdTech = Education Technology, globaler Sektor digitaler Bildungstechnologien, der sich nicht nur auf Unterrichtssoftware, sondern ebenso auf Plattformen, Schulverwaltung und/oder Steuerungsaufgaben bezieht. Siehe Sigrid Hartung, http://denk-doch-mal.de/wp/sigrid-hartong-algorithmisierung-von-bildung/
[15] Für die anderen Produktbeschreibungen ist die Vorgehensweise analog.
[16] Derek Li, der Gründer von Squirrel AI Learning, beschloss, seine Lehrkräfte durch einen unermüdlichen, perfekten, virtuellen Lehrer zu ergänzen: „Stellen Sie sich einen Kursleiter vor, der alles weiß – auch über Sie.“ Aus: der Freitag, Schönes neues Lernen–Können Computer das Klassenzimmer ersetzen? Weltweit arbeiten Firmen daran – Überwachung der Schüler inklusive, von Alex Beard, Ausgabe 21/2020
[17] „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. `Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler´, sagt Ferreira [Co-Founder & CEO von Knewton] stolz. Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt.“ Dräger, Jörg/Müller-Eiselt, Ralph (2018): Die digitale Bildungsrevolution. München, S. 24f.
[18] Bei der ALTSchool-Open-Plattform „lässt sich nicht überprüfen, wie die Algorithmen der künstlichen Intelligenz die Playlists der Schüler*innen erstellen und steuern. Ebenso bleibt offen, wie genau die Playlists die Entscheidungen und den Lernfortschritt der Lernenden unterstützen. Die Verwendung wandmontierter Kameras zur Aufzeichnung sämtlicher Aktivitäten im Klassenzimmer wirft zudem datenschutzrechtliche und ethische Fragen auf. Beispielsweise steht die Frage im Raum, inwieweit eine solche digitale Überwachung soziale Ungleichheiten verstärken könnte.“ Aus: Holmes, W., Anastopoulou S., Schaumburg, H. & Mavrikis, M. (2018): Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden, Stuttgart, Robert Bosch Stiftung, S. 66
[19] Aus: der Freitag, Schönes neues Lernen–Können Computer das Klassenzimmer ersetzen? Weltweit arbeiten Firmen daran – Überwachung der Schüler inklusive, von Alex Beard, Ausgabe 21/2020
[20] Schul-Digital-Pakt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“ – Ihr Geschäft ist die Digitalisierung
[21] Die Bertelsmann-Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“ Weiter Informationen unter: „Bildung“ ist ihr Geschäft! | Schulforum-Berlin
[22] Siehe Kommentar zum Forschungsbericht „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ der Robert Bosch Stiftung in der FAZ vom 30.08.2018, Dr. Hannah Bethke, Berlin, „Digital unterstütztes Lernen:  Hundertzwanzig Seiten Verblödungslektüre.“
[23] Krautz, Jochen (2021): Worum es geht – und worum nicht. In: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 153-167.
[24] Man erinnere sich an die eingangs zitierte Aussage in der Studie: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. (S. 4)
[25] Für die Verfasser der Studie war für die Auswahl der Applikationen „neben der Übertragbarkeit und Anwendbarkeit im deutschen Schul- und Bildungssystem auch der Innovationsgrad“ von Bedeutung. (S. 21)
[26] Streitschrift veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW), Marc Mattiesson: „Die Geister die wir rufen…“ – Bildungspolitik und soziale Spaltung, S.13

Individuelles Lernen

Ein Kulturbruch zu Lasten der Schüler

CICERO-online, 03.05.2021, ein Gastbeitrag von Rainer Werner

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

Die Grünen favorisieren die Methode des individuellen Lernens. Was gut ist für die Kinder des Bildungsbürgertums, erweist sich für Kinder aus sozial benachteiligten Familien als schädlich.  

Wer als Lehrer schon einmal in einer heterogen zusammengesetzten Klasse – etwa in einer Gesamtschule – unterrichtet hat, dem wird folgende Situation vertraut vorkommen: Die Lehrkraft erläutert im Geschichtsunterricht der 8. Klasse die Gewaltenteilung, die in der Französischen Revolution das absolute Herrschaftssystem der Könige zerbrochen hat. Schnell wird deutlich werden, dass die leistungsstarken Schüler das Prinzip der Trennung der staatlichen Gewalten im Nu verstehen, während es den leistungsschwachen Schülern schwerfällt, den Sinn dieser demokratischen Herrschaftsform zu begreifen.

Die Lehrkraft wird den Umweg über ein lebensnahes Beispiel – etwa aus dem schulischen Leben – nehmen müssen, um Gewaltenteilung auch für die Schüler mit geringem Abstraktionsvermögen sinnlich erfahrbar und dadurch begreiflich zu machen. Mit den guten Schülern hätte sie schon längst im Stoff voranschreiten und noch weit schwierigere Sachverhalte diskutieren können. Die meisten Lehrkräfte werden jedoch, dem sozialen Anspruch der Gesellschaft und ihrem pädagogischen Gewissen gehorchend, so lange auf die Verständnisprobleme der leistungsschwachen Schüler eingehen, bis sie das Gefühl haben, dass sie das Geforderte annähernd verstanden haben.

In der Regel bleiben während dieser „Förderphase“ die guten Schüler ohne Aufgabe, im besten Fall wird ihnen die Lehrkraft raten, im Geschichtsbuch schon einmal das nächste Kapitel zu lesen. Eine nachhaltige Förderung der leistungsstarken Schüler kann man das nicht nennen.

Ausweg individualisiertes Lernen

Die Grünen sind an elf Landesregierungen beteiligt, stellen aber in keinem der Länder den Kultusminister. Dennoch haben sie es geschafft, der Schulpolitik der Länder eine grüne Handschrift zu verpassen. Sie konnten ihre Lieblingsschulform, die Gemeinschaftsschule, in den jeweiligen Schulgesetzen verankern. In dieser Schule werden Schüler unterschiedlicher Begabung, sozialer und ethnischer Herkunft gemeinsam unterrichtet. Die Heterogenität im Klassenzimmer ist gewollt, weil sie nach Meinung der Grünen die gesellschaftliche Wirklichkeit ideal abbildet.

Um mit den großen Unterschieden bei Begabung, Vorwissen und Lernmotivation umgehen zu können, muss das Lernen individualisiert werden. Jeder Schüler erhält einen auf ihn abgestimmten persönlichen Lernplan und das dazugehörige Unterrichtsmaterial, das er eigenständig abarbeitet. Die Kunst der Lehrkräfte besteht darin, die Lernpläne passgenau nach Intelligenz und Auffassungsgabe der Schüler zu erstellen.

Wie die praktischen Erfahrungen zeigen, geht die Lernentwicklung innerhalb einer Klasse schon nach wenigen Tagen stark auseinander. Die Begabungsvielfalt schlägt sich in unterschiedlichen Lerntempi nieder. Die Situation ist vergleichbar mit einem 5000-Meter-Lauf, bei dem professionelle Läufer gemeinsam mit Hobby-Läufern antreten. Schon nach wenigen Runden werden die ersten Amateure von den Profis überrundet.

Das individuelle Lernen trägt den unterschiedlichen Lerntempi dadurch Rechnung, dass die Lernerfolgskontrollen zu unterschiedlichen Zeiten angesetzt werden. Die lernstarken Schüler schreiben sie zuerst, die langsameren Lerner folgen im zeitlichen Abstand zur Spitzengruppe. Die Lehrer fungieren beim individuellen Lernen als „Lernbegleiter“. Ihre Aufgabe ist es, die Schüler fachlich zu unterstützen und mental zu ermuntern. Dabei gilt die Prämisse, dass die Schüler die Lösung der im Lernmaterial gestellten Aufgaben zuerst selbst finden sollen, bevor sie die Hilfe des Lehrers in Anspruch nehmen.

Selektion durch die Hintertür?

Da diese Lernform recht jung ist, gibt es noch keine belastbaren wissenschaftlichen Studien über ihre Effektivität. Es gibt allerdings Erfahrungsberichte von Eltern. Darin wird vor allem die Besorgnis ausgedrückt, dass die langsamen Lerner sich gegenüber den schnellen zurückgesetzt fühlen. Von einem „Rattenrennen“ und einer neuen Form von Stigmatisierung ist die Rede, die die alte, durch „Selektion“ nach Begabungen erzeugte, abgelöst habe. 

Wissenschaftliche Kritiker bemängeln vor allem, dass die starke Spreizung der Begabungen und das unterschiedliche Lerntempo kein Unterrichtsgespräch mehr zulasse. Die Klasse kommt nämlich, wenn das „Rennen“ erst einmal begonnen hat, nie mehr an einen gemeinsamen Punkt, wo sich eine Zusammenfassung der Lernergebnisse oder eine Problematisierung der Gegenstände anbieten würde.

Die Befürworter des individuellen Lernens betonen, dass diese Lernform die einzige Methode sei, die ein gemeinsames Lernen von Kindern völlig unterschiedlicher Begabung zulasse. Sie sei der Differenzierung nach Fachleistungskursen, wie sie die Gesamtschule praktiziert, vorzuziehen, weil die individuellen Lernpläne noch zielgenauer als die Fachleistungskurse auf das Persönlichkeitsbild der Schüler abgestimmt werden könnten. 

Einzelkämpfer erwünscht

Dass die Schüler nach einer kurzen Einführung durch die Lehrkraft mit dem Lernstoff allein gelassen werden, wie es das Dogma vom individualisierten Lernen verlangt, ist die große Schwäche dieser Methode. Jeder, der anderen schon einmal etwas vermittelt hat – ob Kindern oder Erwachsenen –, weiß:  Auch das Denken will angeleitet sein. Das ist ja gerade der große Vorzug des vom Lehrer gelenkten Unterrichtsgesprächs, dass er in jeder Phase des gemeinsamen Lernprozesses die Impulse so setzen kann, dass die Schüler auf die richtige Fährte gelenkt werden.

Die schöne Metapher, dass „jemandem ein Licht aufgeht“, veranschaulicht diesen Erkenntnisprozess. Wie sollen solche Gedankenblitze entstehen, wenn ein Kind allein vor sich hinbrütet und immer gesagt bekommt, es dürfe die Lehrkraft nur zu Hilfe rufen, wenn es unbedingt nötig sei?  Eltern berichten, dass die Kinder den Lehrer in seiner traditionellen Rolle vermissen: als Erklärer, Ratgeber, Helfer, Inspirator, Vorbild.

Im herkömmlichen Unterricht haben diejenigen Lehrer den größten Erfolg, die für ihren Lernstoff „brennen“, die ihn mit Leidenschaft vermitteln und durch ihr „Feuer“ die Kinder dafür begeistern. Wie aber soll das Feuer zünden, wenn die Lehrkraft zum „Lernbegleiter“ degradiert wird, der nur noch für unvermeidbare Nachfragen der Schüler zur Verfügung steht?

Das individualisierte Lernen beschädigt eine wichtige Kulturform: das Gespräch. Erfahrene Lehrer wissen, dass die effektivste Sozialform des Unterrichts – aller moderner Unterrichtsmethoden zum Trotz – immer noch das Gespräch darstellt. Es ist nicht nur eine ideale Methode, individuelle Einsichten, die jeder einzelne Schüler auf seine spezielle Art gewonnen hat, mit anderen Schülern auszutauschen. Es hat auch eine erzieherische Funktion, weil es eine wichtige Grundlage unserer Demokratie stärkt: den vernunftgeleiteten Diskurs.

Eltern an die Front

Umfragen unter Eltern haben ergeben, dass die Kinder an Gemeinschaftsschulen sehr stark auf die Hilfestellung ihrer Eltern angewiesen sind. Sie müssen zu Hause das erklären, was die Lehrkraft im Unterricht nicht geleistet hat. Die Eltern fühlen sich in eine Rolle gedrängt, die nicht die ihre ist. Schlechtes Gewissen bei Misserfolgen des Kindes in der Schule und Konflikte zwischen Eltern und Kind sind die unvermeidliche Folge.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass eine Bildungspolitik, die den Lernerfolg der Kinder „vom Geldbeutel der Eltern“ entkoppeln will, durch eine problematische Lernmethode genau diese Abhängigkeit wieder verfestigt. Den Kindern aus dem Bildungsbürgertum wird nämlich zu Hause die Hilfe zuteilwerden, auf die viele Kinder aus der Unterschicht oder aus dem Migrantenmilieu verzichten müssen. 

Das Homeschooling während der Corona-Lockdowns war ein Großversuch in individualisiertem Lernen. Er hat gezeigt, dass Kinder aus bildungsaffinen Elternhäusern gut damit zurechtkommen, während viele Kinder aus sozial unterprivilegierten Milieus abgehängt werden. Schuld daran ist weniger das unterschiedliche digitale Equipment als der Grad an Unterstützung durch die Eltern. 

Lernmethode für die guten Schüler 

Ein Aspekt wird von den Befürwortern des individualisierten Lernens gerne übersehen. Von dieser Lernform profitieren in erster Linie die leistungsstarken Schüler, weil sie sich selbst gut organisieren und disziplinieren können. Der Nestor der (west-)deutschen Didaktik Hermann Giesecke warnte schon vor Jahren vor der Illusion, lernschwache Kinder könnten von heterogenen Lerngruppen profitieren, wenn man nur das Lernen differenzierte: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“

Und dieser „direkt angeleitete“ Unterricht, das vom Lehrer gelenkte Gespräch, ist nur in relativ homogenen Lerngruppen zu leisten. Wer das eine – „gemeinsames  Lernen“ – will, muss das andere – das gegliederte Schulsystem mit seinen homogenen Klassen – verteidigen.

Die Klasse als Heimat

Das individualisierte Lernen macht Kinder zu Einzelkämpfern. Es geht vor allem das verloren, was ein Klassenverband für die Schüler immer auch bedeutet: Ort der Gemeinschaft, des Schutzes und der Kameradschaft zu sein.

Bis heute hat die Klasse die Funktion, dass sich die Kinder aneinander messen können, dass sie sich gegenseitig anspornen, einander aber auch solidarisch helfen, wenn es nötig ist. Warum eine Politik, die Bildung gerne durch die „soziale Brille“ betrachtet, ausgerechnet die soziale Funktion einer Schulklasse geringachtet, gehört zu den vielen Ungereimtheiten, mit denen diese Lernmethode behaftet ist.

Das individualisierte Lernen erweist sich letztlich als isoliertes, im Wortsinn unsoziales Lernen: „Irgendwie paradox: Auf Unterrichtsebene wird Vereinzelung propagiert, während man auf Schulstrukturebene, länger gemeinsam lernen‘ skandiert“, so der Lehrer und Autor Michael Felten. 

Die Schwächung, ja Auflösung des Klassenverbandes kommt einem sozialen Kulturbruch gleich. Die Schulromane „Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner, „Die Feuerzangenbowle“ von Heinrich Spoerl und die Schulgeschichten aus den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann wären ohne die Schulklasse als Organisationsform nicht geschrieben worden.

Die Klasse ist für die Schüler nicht nur Lernort, sie ist auch Ort der sozialen Auseinandersetzung, der Selbstbehauptung und Rollenerprobung. Und sie ist Schutzraum vor den Zumutungen rabiater Lehrer, schulischer Dramen oder persönlicher Krisen. Welchem Erwachsenen hat sich „seine“ Schulklasse nicht ins Gedächtnis eingegraben? Wem ist „seine“ Klasse nicht als der Ort vor Augen, in dem man Jahre seines jungen Lebens an der Seite von Freunden und Kameraden zugebracht hat?

Diesen Ort preiszugeben, ist eine pädagogische Ursünde, weil sie den Kindern einen wichtigen Schonraum raubt und sie als Einzelwesen auf sich selbst zurückwirft.

Ermutigung

Allen Lehrern dieser Republik lege ich die „gedruckte Erlaubnis“ des Pädagogen Jochen Grell ans Herz: „Du darfst direkt unterrichten, auch die ganze Klasse auf einmal. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du Schüler belehren willst. Die Schule ist ja erfunden worden, damit man nicht jedes Kind einzeln unterrichten muss.“

zum Artikel: Ein Kulturbruch zu Lasten der Schüler

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Digitalisierung und Individualisierung: Eine unheilige Allianz, die Bildung verhindert

Schon vor der Corona-Krise machte sich in den Schulen der Trend breit, dem Problem der Heterogenität der Schülerschaft durch sog. „Individualisierung“ begegnen zu wollen. Man löst die Klassengemeinschaft faktisch auf und versorgt jede Schülerin, jeden Schüler mit differenzierten Arbeitsaufträgen, die sie „selbstgesteuert“ bearbeiten sollen.

Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz, Bergische Universität Wuppertal, ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

Die durch die Corona-Krise beschleunigte Digitalisierung scheint das nun noch einfacher zu machen: Nun kann jeder „individuell“ und „selbstgesteuert“ an seinem Gerät arbeiten, ob zuhause oder in der Schule. Beides untergräbt aber die Aufgabe der Schule und gefährdet den verfassungsgemäßen Bildungsauftrag. Warum ist das so?

Dazu 7 knappe Thesen:

1. Stärkung der Lehrperson statt „Lernbegleitung“.

Heterogenität ist nichts Neues, sondern selbstverständlich. Sie wird nicht durch Auflösen der Lerngruppen und Absenken der Ansprüche gelöst, sondern durch Stärken der Klassengemeinschaft und indem man Schwächere an höhere Levels heranführt. Das aber braucht eine Lehrperson, die die Klasse erzieherisch und fachlich führt. Also das genaue Gegenteil des Trends zum „Lernbegleiter“ (vgl. beispielhaft und konkret Rudolph/Leinemann 2021).

2. „Selbststeuerung“ ist nicht Selbstständigkeit.

Wer nur Arbeitsaufträge von Lernsoftware oder Arbeitsblättern ausführt, entwickelt nicht Selbstständigkeit. Vielmehr steuert er sich nur selbst gemäß den Vorgaben von außen. Er lernt sich anzupassen, nicht aber selbstständig zu denken und zu argumentieren. Dazu braucht es ein lebendiges und interessiertes menschliches Gegenüber – also Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schüler. Anpassung aber widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen, der auf Mündigkeit zielt.

3. „Individualisierung“ ergibt nicht Individualität.

Daher bildet äußere „Individualisierung“ gerade nicht Individualität, sondern fördert Konformität. Um ein individuelles Selbst zu werden, brauchen junge Menschen sozialen Kontakt, Austausch, Widerspruch und gemeinsam zu bewältigende Herausforderungen. Doch: Die Bildung von Individualität ist pädagogisch herausfordernd, weil Lehrpersonen den Kindern und Jugendlichen als ganze Menschen gegenübertreten müssen, nicht nur als Verwalter von Lernprozessen.

4. Digitalisierung ist Frontalunterricht der üblen Sorte.

Gerne grenzen sich Befürworter von „digitalem“ und „selbstgesteuertem Lernen“ vom „Frontalunterricht“ ab. Tatsächlich ist digitales oder analoges „selbstgesteuertes Lernen“ Frontalunterricht in übler Reinform, wie er sonst kaum noch vorkommt. Das Arbeitsblatt und der Algorithmus antworten mir nicht, diskutieren nicht, nehmen mich nicht wahr, haben kein Sachverständnis, wissen nicht, was Bildung ist, kennen keine Didaktik und haben keine pädagogische Empathie. Sie regieren über die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hinweg – oder besser: in sie hinein.

5. Digitalisierung beruht auf Lobbyarbeit.

Die angeblich „alternativlose“ Digitalisierung der Schulen hat keine pädagogischen Gründe, sondern banale ökonomische. Sie beruht auf massiver Lobbyarbeit von IT-Industrie und deren Adepten. In der Krisenlage rund um Corona haben Politik, Medien, Eltern und viele Pädagoginnen und Pädagogen die inszenierte Hysterie noch verstärkt. Doch wird Digitalisierung keine pädagogischen Probleme lösen, Unterricht wird dadurch nicht automatisch besser. Vielmehr braucht die sinnvolle Integration der Digitalisierung in die Aufgaben der Schule sehr genaues und klares pädagogisches, didaktisches und fachdidaktisches Denken (vgl. Krautz 2020).

6. Neoliberalismus und Reformpädagogik feiern Hochzeit.

Warum aber ist das dann alles so beliebt und scheint so modern? Hier verbinden sich zwei ältere Diskurslinien: Reformpädagogischem Denken entstammt die Meinung oder auch nur das unbewusste Gefühl, dass die Kinder sich doch lieber „frei entfalten“ sollen. Lehren sei irgendwie freiheitswidrig, die Gehalte und Anforderungen unserer Kultur würden die kindliche „Natürlichkeit“ negativ beeinflussen. Neoliberalem Denken entstammt die Idee, Lernende seien „Unternehmer ihrer selbst“ und würden in den „Lernlandschaften“, die aussehen wie Großraumbüros, die „Skills“ und „Kompetenzen“ erwerben, die sie als flexible und anpassungsfähige Arbeitskräfte bräuchten. Beides ist sachlich falsch und antipädagogisch gedacht. Beides lässt die Heranwachsenden faktisch im Stich: Einmal werden sie sich selbst überlassen, einmal den Anpassungsimperativen der neoliberalen Ökonomie (vgl. Krautz 2017).

7. Pädagogische Verantwortung ernst nehmen.

Was ist der Ausblick? Pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und wieder zu lehren, zu lernen, zu erziehen und zu bilden. Das ist anstrengend, gewiss. Aber wenn wir uns diesen Fragen wieder mit gemeinsamer Kraft zuwenden würden, statt mit haltlosen Konzepten an Kindern und Jugendlichen zu experimentieren, könnten wir diesen und uns selbst das absehbare und bittere Scheitern ersparen.

Zur Vertiefung

Burchardt, Matthias: Zwischen Arbeitsblatt und Bildschirm. Neue Lernkultur oder Kaspar-Hauser-Pädagogik? In: Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz, H. 1/2018, S.6-12, https://www.philologenverband.de/fileadmin/user_upload/Das_Gymnasium/Gymnasium_in_Rh-Pf_1-2018__JR__Endgueltig.pdf.

Gruschka, Andreas: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Opladen2015, www.bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2015/06/gruschka_bildundgs_rat.pdf.

Krautz, Jochen: Neoliberaler Ökologismus. „Markt“ und „Natur“ als Steuerungsparadigmen der „Neuen Lernkultur“. In: Burchardt, Matthias/Molzberger, Rita (Hrsg.): Bildung im Widerstand. Festschrift für Ursula Frost. Würzburg 2017, S. 121-146.

Krautz, Jochen: Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. Keine digitale Transformation von Schule. GBW-Flugschriften Nr. 1. Köln 2020, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/10/krautz_flugschrift_digitalisierung.pdf.

Lankau, Ralf: Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen. GBW-Flugschriften Nr. 2. Köln2020, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/09/lankau_flugschrift_web.pdf.

Türcke, Christoph: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet. München 2016.

Rudolph, Michael/Leinemann, Susanne: Wahnsinn Schule. Was sich dringend ändern muss. Berlin 2021.

Winterhoff, Michael: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloh 2019.

Der Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin. Texthervorhebung in den grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.

Beitrag als PDF-Datei: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2021/03/Krautz-Digitalisierung-und-Individualisierung.pdf