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Inklusionsfalle

„Man darf diese Dinge nicht verschweigen.“

BEGEGNUNG 2-2018, Auswärtiges Amt, Berlin, Auslandsschulwesen (ZFA)

Zu schnell, zu radikal, zu ideologisch – die Art, wie Inklusion an Schulen in Deutschland umgesetzt wird, schadet dem Bildungssystem und gefährdet das Wohl vieler Kinder. Dieser Meinung ist der Gymnasiallehrer und Autor Michael Felten. Im Interview mit Johanna Böttges plädiert er für eine ehrlichere Debatte.

Michael Felten arbeitete 36 Jahre als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung und Autor pädagogischer Sachbücher. Für „Zeit Online“ beantwortet er Fragen an den Lehrer in der Serie „Schulfrage“. Sein jüngstes Projekt findet sich unter: www.initiative-unterrichtsqualitaet.de

Herr Felten, was läuft falsch bei der Umsetzung der Inklusion?

Das Ganze geht aus von der UN-Behindertenrechtskonvention, die dafür plädiert, allen Kindern das Recht auf Bildung im allgemeinen Schulsystem zu gewährleisten. In Deutschland ist von Teilen des pädagogischen Diskurses daraus gemacht worden: Alle Kinder mit Beeinträchtigungen haben in Zukunft das Recht, an jeder Schulform unterrichtet zu werden – was letztlich, wenn man es praktisch betrachtet, entweder eine extrem teure Lösung bedeuten würde oder massive Beeinträchtigungen des Lernens für alle Beteiligten. Die UNO hatte aber primär diejenigen Länder im Auge, in denen Kinder mit Behinderung bislang vom öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen sind. Was die UNO überhaupt nicht wollte, war, unser hochentwickeltes Förderschulsystem einzustampfen und dafür zu sorgen, dass sich in Deutschland eine Einheitsschule entwickelt.

Sie sind Lehrer an einem Kölner Gymnasium. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit Inklusion gemacht?

In Metropolen wie Köln gehen etwa 60 Prozent eines Jahrgangs aufs Gymnasium. Das heißt, wir haben schon jetzt, ohne Kinder mit Lernbeeinträchtigung, eine riesige Palette an Leistungsfähigkeiten. Es ist überhaupt nicht möglich, jedem Schüler gerecht zu werden. Da kommen entweder die Schwächeren zu kurz, denen man versucht, am Gymnasium eine Chance zu geben – oder die Leistungsstarken. Es ist schwer vorstellbar, worin der Sinn bestehen soll, auch noch Kinder mit geistigen Entwicklungsstörungen aufzunehmen, die dort überhaupt keine Mitlernperspektive haben.

Sie sprechen von einer „Inklusionsfalle“. Warum?

Weil das Schlagwort „Gemeinsames Lernen“ auf den ersten Blick sehr wohltuend anmutet. Es ist sicher eine grundsätzlich sinnvolle pädagogische Herangehensweise, dass man versucht, keine unnötigen Trennungen zwischen Schülern zu vollziehen. Dass die Kinder möglichst die ganze Vielfalt auch anderer Menschen kennenlernen sollen. Und wenn im allgemeinen Schulgesetz von NRW steht, Eltern haben das Recht, für ihr Kind mit besonderem Förderbedarf eine Regelschule zu wählen, hört sich das gut an. Aber wenn das Kind dann dort im Gegensatz zur Förderschule nur zwei oder drei Stunden pro Woche von einer sonderpädagogischen Kraft betreut wird, fällt dieser wohlklingende Begriff in sich zusammen. Es erlebt die riesigen Leistungsfortschritte von Schülern, die besser zurechtkommen. Damit riskiert man zusätzliche Entwicklungsstörungen für dieses Kind. Für die anderen unter Umständen auch. Und für den Lehrer, der versucht, sich zu zerreißen, eben auch.

Wenn das Gemeinsame Lernen Grenzen hat, inwieweit kann man dann überhaupt noch von Inklusion sprechen?

Die radikale Inklusion nach dem Motto „Wir gehen alle in dieselbe Schule und das tut uns allen am besten“ ist einfach eine Illusion. An Modellschulen hat man sehr fruchtbare Erfahrungen mit be-grenzter Inklusion gemacht, früher Integration genannt. Zu 20 oder 25 „Regelkindern“, wie ich das kurz nenne, kommen 5 wohlausgesuchte Förderkinder, die einen ähnlichen Förderbedarf haben. Neben der normalen Grundschullehrerin hat die Klasse eine Sonderpädagogin, die die ganze Zeit mit dieser kleinen Gruppe und in Verbindung mit den Regelschülern arbeiten kann. Das ist etwas, das funktioniert. Es liegen mittlerweile aber jede Menge Warnungen und Erfahrungsberichte von Lehrern und Leitern solcher Schulen vor, die sagen: Wir haben bis zu dreißig Jahre sehr positive Erfahrungen mit dieser Art von integrierender Bildung gemacht. Aber wenn jetzt an allen Schulen der Sparmodus der Inklusionsschule praktiziert wird – der Sonderschullehrer guckt nur noch sporadisch rein und vielleicht ist ab und zu noch ein Schulbegleiter dabei –, dann können wir unsere Modellschulen schließen.

Für wen kann so ein integrativer Unterricht gelingen und für wen nicht?

Das kommt auf die Schulform an, also das Anforderungslevel eines Gymnasiums, einer Realschule, einer Hauptschule. Und da ist es sicher so, dass Kinder etwa mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an einer Realschule nicht wirklich gut aufgehoben sein können. Denn sie erleben dort nicht das, was man sich unter dem Begriff Gemeinsames Lernen vorstellt. Sie erleben gerade den großen Unterschied. Wir haben es bei dieser überhasteten und schlecht ausgestatteten Inklusion mit einer Logik des Misslingens zu tun. Man findet einen schönen Begriff, „Gemeinsames Lernen“, um das Empfinden von Unterschieden zu reduzieren. Tatsächlich wird dieses dadurch aber verstärkt.

Kennen Sie Positivbeispiele?

In einigen Bundesländern gibt es andere Zugangsweisen. Dazu gehört zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg die Etablierung sogenannter Partner- oder Außenklassen. Das ist eine Förderklasse in einem Schulverband, also etwa einer Real- oder Hauptschule, die eine Regelklasse als Partnerklasse hat. Und die sind in direktem Austausch. Sie machen nicht nur Feste und Außerschulisches zusammen, sondern haben zum Beispiel Sport zusammen. Alles, wo man wirklich Gemeinsamkeit erleben kann.

Sinnvoll können auch Partnerschulen sein. Förderschule und Regelschule können in dichterem Kontakt zueinander stehen, nicht nur baulich. Es ist auch denkbar, so wie es in Nordrhein-Westfalen jetzt angestrebt wird, Schwerpunktschulen zu bilden, zum Beispiel im Sek-I-Bereich oder im Grundschulbereich. Das sind Regelschulen, an denen besonders gute Bedingungen bestehen, um Kindern mit besonderem Förderbedarf gerecht zu werden. Dann wäre also nicht mehr jede Grundschule verpflichtet, Förderkinder aufzunehmen, wie von der Vorgängerregierung gedacht. Dort wären aber auch mehrere Sonderpädagogen, die alle Förderbedarfe abdecken, sodass diese Schulen den Kindern die geballte Kompetenz der sonderpädagogischen Fachkräfte zur Verfügung stellen. Das war in den letzten vier oder fünf Jahren nicht der Fall.

Welche Rolle sollten Förderschulen künftig spielen?

Unsere Förderschulen, in denen die Lehrer kleine Gruppen betreuen und die Kinder über längere Zeit kennen, haben bisher sehr gute Arbeit geleistet. Das ist durch die Inklusionseuphorie der letzten Jahre arg in den Hintergrund getreten. Die Förderschule sollte auf jeden Fall erhalten bleiben, weil sie den Kindern mit besonderen Entwicklungsstörungen – entweder in bestimmten Phasen ihrer Schullaufbahn oder in manchen Fällen auch während der ganzen Zeit – die besseren Förderbedingungen bietet.

Die Übergänge zwischen Förderschulen und Regelschulen müssten aber flexibler sein. Man müsste immer entscheiden können:
Wo soll ein Kind jetzt im Moment, für das nächste Quartal oder Halbjahr, beschult werden? Wir müssen dual-inklusiv denken. Diesen Begriff hat Otto Speck, emeritierter Sonderpädagoge der LMU München, geprägt. Es geht darum, für jedes einzelne Kind festzustellen, wo es optimal aufgehoben ist. Das ist für die meisten Kinder die Regelschule. Und für manche Kinder ist es eben, phasenweise oder auch für die ganze Schulzeit, die Förderschule mit ihrer hochspezifischen Expertise.

Die Gruppe der Hochbegabten steht häufig zwischen den Stühlen. Wo sehen Sie künftig deren Platz?

Zwischen den Stühlen stehen auch Kinder, die als Legastheniker anerkannt wurden oder denen man eine Rechenschwäche attestiert hat. Das sind alles Kinder, die bisher Förderung erfuhren und denen jetzt Fördermittel gekürzt werden, wenn für sie kein expliziter Förderbedarf im schwereren Sinne festgestellt wird. Wir müssen jedem Kind stärker gerecht werden. Das bedeutet zum Beispiel für hochbegabte Kinder, dass sie einerseits mit weniger leistungsstarken Kindern zusammenkommen, andererseits aber auch spezielle Anregungs- und Verwirklichungsmöglichkeiten finden. Es ist tragisch, dass wir durch diesen unausgereiften Inklusionssturm in manchen Bundesländern in eine Situation gekommen sind, wo alle Betroffenen ganz schnell sagen: Damit will ich lieber nichts zu tun haben.

Beim Inklusionsgedanken geht es auch um den Umgang mit Heterogenität im weiteren Sinne, zum Beispiel hinsichtlich kultureller oder sozialer Hintergründe. Wie lässt sich damit umgehen?

Es ist eine grundsätzliche Herausforderung für Schule, dass sie versucht, eine Verbindung zwischen Gemeinsamem und Besonderem zu schaffen. Das sieht man in jedem Fachunterricht, bei jeder Klassenunternehmung. Sie haben immer Kerne, die sie gemeinsam gestalten können, aber bei einzelnen Schülern jeweils spezielles Vorwissen, spezielle Interessen, spezielle Abneigungen, spezielle Schwierigkeiten. Das muss man versuchen zu verbinden.

Die Erfahrung zeigt, dass das innerhalb eines sorgfältig gegliederten Schulsystems eigentlich gut möglich war. Das gegliederte Schulsystem ist viel effektiver und sinnvoller, als manche Debatten nahelegen. Man hat auch innerhalb einer Gymnasial-, Haupt- oder Realschulklasse ein Leistungsspektrum. Die sind nicht homogen. Aber man kann in dieser gemäßigten Heterogenität besonders gut lernen.

zum Artikel:  BEGEGNUNG 2-2018, Man darf diese Dinge nicht verschweigen.

Michael Felten betreibt die Webseite, inklusion-als-problem.de und hat das Buch: „Die Inklusionsfalle“ veröffentlicht (siehe nebenstehende Bücherliste).

Zeit für Grundlagenarbeit nicht andauernd für Reformen verplempern

„Sozialarbeiter fehlen“

der Freitag, Ausgabe 36/2018, 06.09.2018, Katharina Schmitz interviewt Heidrun Quandt.

Heidrun Quandt, 60, arbeitet seit vielen Jahren als Grundschullehrerin in Kreuzberg und Neukölln. Sie ist Vorsitzende des Berliner Verbandes für Erziehung und Bildung und sitzt seit 1984 im Neuköllner Personalrat der Lehrer und Erzieher. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Als Lehrerin müsste Heidrun Quandt ihre Grundschule in Neukölln um Erlaubnis für das Gespräch bitten. In ihrer Funktion als Verbandsvorsitzende brauchte sie nicht zu fragen und kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

der Freitag: Frau Quandt, eine Quizfrage. Nennen Sie mir drei unsinnige Bildungsreformen der letzten Jahre.
Heidrun Quandt: Abschaffung der Vorschule und Einführung der SAPH [Schulanfangsphase] sowie die Abschaffung der Hauptschule.

SAPH bezeichnet das gemeinsame Lernen in der ersten und zweiten Klasse. Was fehlt denn ohne die Vorschule?
Die Vorschule in der Kita war eine tolle Vorbereitung für kommende Erstklässler. Die Kinder wurden an den Umgang mit Stiften herangeführt, sie lernten, eine Schere zu benutzen. Gerade für Kinder mit Migrationshintergrund war die Vorschule ideal.

Hinzu kam die Früheinschulung, da saßen dann plötzlich überforderte Fünfjährige in der Schule …
Da ist entwicklungspsychologisch überhaupt nicht nachgedacht worden. Kinder haben in dem Alter zum Beispiel einen ganz normalen Bewegungsdrang. Die können nicht den ganzen Tag in der Schule sitzen. Bei manchen wurde dann schnell mal ADHS diagnostiziert.

Die Bedeutung emotionaler Kompetenz wurde unterschätzt ….
Richtig. Wir haben ja manchmal Überflieger, die können aber vielleicht ihre Jacke nicht selbstständig zumachen. Obwohl – viele Kinder können das heute nicht mehr.

Die Reform der Früheinschulung wurde dann gekippt …
Eine Evaluation gibt es dazu bis heute nicht. Welche Schwierigkeiten diese früh eingeschulten Kinder immer noch haben. Stichwort ADHS. Ich übernehme oft 5. Klassen und stelle fest, die Kinder können zwar lesen, aber nicht sinnentnehmend. Weil sie mit der Aktion des Lesens schon gefordert sind.

Aber die Hauptschule will doch niemand zurückhaben …?
Heute nennt man das Ganze ISS [Integrierte Sekundar Schule], aber das Klientel hat sich ja nicht geändert, nur die Werkstätten sind weg. Die Zusatzförderung. Der Unterricht in Kleingruppen. Die Sozialarbeiter. [siehe auch: Das zweigliedrige Berliner Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand] Die Abschaffung der Hauptschule war eine reine Sparmaßnahme. Ein Hauptschullehrer war ein ganz anderer Lehrertyp. Sehr praxisorientiert. Die konnten auch mal durchgreifen, was sie auch mussten. Es braucht auch nicht nur Abiturienten. Gerade wenn ich mir anschaue, welchen Fachkräftemangel wir haben.

Das bringt mich zur pluralisierten Gesellschaft, von der immer die Rede ist. Heißt das im Klartext, wir haben heute noch mehr verhaltensauffällige Schüler?
Ja. Aber „verhaltensauffällig“ ist das falsche Wort. Schüler reagieren eigentlich immer dann auffällig, wenn sie entweder über- oder unterfordert sind. Aber diese Mär, wir holen jeden Schüler dort ab, wo er sich befindet, das soll mir mal jemand von der Universität vormachen, wie das gehen soll, also einerseits den potenziellen Gymnasiasten nicht zu hemmen und den weniger leistungsstarken Schüler nicht hängenzulassen.

Sie sprechen von der „Binnendifferenzierung“. Das Inklusionsgesetz ist eine weitere Herausforderung. Wie soll das alles funktionieren, wenn Lehrer fehlen, Schulplätze, Räume …
… und es keine Sonderpädagogen mehr gibt, weil wir sie nicht ausgebildet haben.

Das Fach Sonderpädagogik ist in Berlin ins Fach Grundschulpädagogik integriert worden, richtig?
Richtig. Bei der neuen Ausbildung zum Grundschullehrer muss man Deutsch, Mathematik und ein sonderpädagogisches Fach studieren. Die Ausbildung erfolgt aber nicht voll wissenschaftlich. Mathematik kann man zum Beispiel durch ein weiteres sonderpädagogisches Fach ersetzen.

Wer arbeitet denn jetzt an den Förderschulen?
Wir.

Es heißt, Förderschulen werden wieder ausgebaut …
Schön! Nachdem man sie erst geschlossen hat. Mit dem Inklusionsgesetz hat der Schulwunsch der Eltern Vorrang. Alles, was wir Grundschullehrer machen, ist jetzt zusätzlich, auch die Bürokratie. Ob die Kinder davon profitieren, bezweifele ich, zumal wir ja keine Diagnostik mehr in der ersten und zweiten Klasse haben. Es klingt jetzt brutal, aber stellen Sie sich einen Krebspatienten vor und sagen Sie ihm, die Therapie kann erst nach zwei Jahren erfolgen, weil ich es dann erst darf.

Alle Welt spricht von der Digitalisierung der Bildung, ist das noch die drängendste Aufgabe?
Ich habe kein Smartphone, ich habe ein Telefon, nicht mehr und nicht weniger. Aber: Medienkompetenz ist wichtig. Und warum gibt es in Berlin kein Fach Informatik ab der fünften Klasse?

Es heißt oft, die Lehrer seien das Problem, sind sie digitale Verweigerer? Viele wollen nicht mal eine E-Mail-Adresse rausrücken.
Ich auch nicht. Da würde ich dann nachts vom neuen Vertretungsplan des Schulleiters Kenntnis nehmen müssen.

Der Schulleiter ist heute so eine Mischung zwischen Bauleiter und Personalmanager. Kann sie oder er sich noch um das Profil seiner Schule kümmern?
Eigentlich nicht. Zudem: Wir sind ja Schulen in „erweiterter Verantwortung“. Die kommt dann immer zum Tragen, wenn die Politik nicht entscheiden will. Zum Beispiel bei der Teilzeit, da sollen sich die Kollegen besser untereinander prügeln, wie die Aufgaben verteilt werden sollen. Das Gleiche gilt fürs Curriculum. Jede Schule macht jetzt ihr eigenes. Da können Sie auch das Gummiband nehmen.

Hauptsache, es passt irgendwie in den Rahmenlehrplan?
Genau. Die Lehrer und Lehrerinnen der Sekundarstufe I können auf nichts Verbindliches aufbauen.

Da wird an einer Schule immer noch Schreiben nach Gehör gelernt, die nächste weiß es schon besser. Dazu kommen die vielen überregionalen Bildungstests …
Vera war von Anfang an Unsinn. Haben wir Lehrer aber 100.000-mal gesagt. [„Vera3“ und „Vera 8“ bezeichnen Vergleichsarbeiten der Dritt- und Achtklässler]

Ist das die Nervosität vor dem nächsten Pisaschock …?
Das regt die Kollegen so auf. Sie ackern und ackern, kriegen aber die Wertschätzung nicht und ihre Schüler auch nicht. In Mathe zum Beispiel: Wir wollen die Kinder doch irgendwo hinführen. Einmaleins, die vier Grundrechenarten, Dezimalrechnen, Winkel, Figuren, eine Fläche berechnen …

… und das ist schon ziemlich viel?
Genau. Wenn Sie das können, sind Sie der King an der Oberschule, mindestens das erste Jahr. Deshalb ist so wichtig, was wir an der Grundschule machen. Grundlagenarbeit. Dafür brauche ich Zeit. Die kann ich nicht andauernd mit Reformen verplempern.

Was hat es mit der berühmten intrinsischen Motivation auf sich?
Das ist die Motivation, die von innen kommt. Die haben viele Kinder heutzutage nicht mehr.
Vokabeln lernen muss man, auch mit null Motivation?
Natürlich, man muss auch mal Dinge machen, die man gar nicht spannend findet. Oft sind aber auch die Eltern schuld.

Was machen die Eltern falsch?
Es geht nur darum, was das Kind will, nicht was das Kind müsste, damit es vielleicht irgendwann ein gutes Leben hat.

Sind die Eltern überfordert? Sie hinterfragen schließlich auch so manches, wissen aber, der Lehrer oder die Lehrerin ihres Kindes kann nichts dafür?
Ach, Lehrer werden immer gerne kritisiert. Mich wundert eher, dass die Eltern nicht mehr auf die Straße gehen und protestieren.

Wäre Lehrerin heute noch Ihr Traumberuf?
Vor zehn Jahren hätte ich noch sofort „Ja“ gesagt. Heute sehe ich das differenzierter. Ich bin heute Lehrer, Psychotherapeut, Kontakt für das Jugendamt und so weiter. Trotzdem. Ich bin immer noch gerne Lehrerin.

Sie arbeiten an einer Neuköllner Grundschule, da denkt man schnell an „Brennpunktschule“.
Ja, klar, Ich ärgere mich sehr über den Begriff. Der Stempel kommt oft durch einen Bericht der Schulinspektion. Für mich sind das Flüchtlinge vom Unterricht.

Was sind das für Leute? Melden die sich freiwillig?
Oh ja! Schulaufsicht, Lehrer, Eltern. Die beobachten dann: „Was!? Die sitzen nicht an Gruppentischen!?“ Kreuzchen. Oder wenn Differenzierung auf nur einem Arbeitsblatt stattfindet: Kreuzchen.

Eltern bekommen Angst, wenn sie über „Gewalt“ lesen …
Tja. Geht eine Schule offensiv damit um, nimmt die Schulinspektion das auf. Da ist es einfacher, wegzugucken. Auch für die Eltern.

Eltern schicken ihr Kind dann doch lieber in eine biodeutsche Schule. Fahrtzeit: eine Stunde.
Deshalb ärgert mich der Begriff Brennpunktschule so. Gehen Sie mal nach Zehlendorf. Da regelt das einfach der Rechtsanwalt, wenn was ist. Ich weiß nicht, welche Schule gefährlicher ist.

Und wer Obdachlose anzündet …
Das weiß man nicht. Die Definition Brennpunktschule ist jedenfalls unmöglich. Und, bitte: Es braucht mehr Sozialarbeiter!

Braucht es Noten?
Eltern mit Migrationshintergrund können mehr mit Noten anfangen. Die meisten Kinder wollen auch Noten. Denen muss man manchmal schon sagen, dass sie letztlich fürs Leben lernen. Mein Vater sagte immer, „was du im Kopf hast, kann dir niemand nehmen“.

War Ihr Vater auch Lehrer?
Nee. Aber meine drei Kinder sind oder werden Lehrer. Mein Mann war Schulleiter.

Eine Lehrerfamilie, wie schön.
Ich konnte die Kinder nicht davon abhalten, ja.

Dieses Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung von Heidrun Quandt.
zum Artikel: der Freitag, Ausgabe 36/2018, 06.09.2018, Katharina Schmitz, „Sozialarbeiter fehlen“


Siehe auch:
Brenn, Lehrkraft
Klassenzimmer: Wie stoppt man die Langeweile? Auf die Persönlichkeit der Unterrichtenden kommt es an, von Alan Posener | der Freitag, Ausgabe 36/2018

Der Lehrer als Coach
Optimierung: Schülerinnen und Schüler sind heute die Ich-AGs ihres Wissens. Sie lernen vor allem das, was sie für den Arbeitsmarkt gebrauchen können, von Roberto Simanowski | der Freitag, Ausgabe 36/2018

„Inklusion stellt die Systemfrage!“

Wie man sich von aller schulpolitischen Vernunft verabschieden kann

Von der Realität der Inklusion: Michael Felten zieht in seinem Buch eine schonungslose Bilanz des gemeinsamen Unterrichts an deutschen Schulen.

FAZ, 15. JULI 2017, von Heike Schmoll
LITERATUR UND SACHBUCH

[Das Buch, „Die Inklusionsfalle“,] ist eine schonungslose Abrechnung mit der Praxis des gemeinsamen Unterrichts. Felten, seit fünfunddreißig Jahren Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst und zugleich Lehrbeauftragter in der Lehrerbildung, dürfte dabei vielen seiner Kollegen aus der Seele sprechen. Denn sie sehen täglich, wie weit der Schulalltag mit seinen Aporien des gemeinsamen Unterrichts von den Wohlfühlparolen der ministeriellen Hochglanzbroschüren entfernt ist und das gesamte Bildungssystem „langfristig in eine grandiose Schieflage zu geraten“ droht.

Felten hat die Entwicklung der Inklusion in seinem Heimatland Nordrhein-Westfalen aus der Nähe beobachtet und gesehen, wie Inklusion mit der Brechstange durchgesetzt wird, Lehrer und Schulleiter gemaßregelt wurden, die auf Missstände hinwiesen; Grundschulkollegen, die, versehen mit Bisswunden ihrer Schüler, von der Parallelwelt ihres Schulalltags berichteten, von der niemand ahnt, der es nicht selbst erlebt hat.

Der Autor glaubt nach seinen umfangreichen Recherchen nicht mehr, dass es sich nur um Kinderkrankheiten eines noch nicht etablierten Systems, um Unterfinanzierung oder einen Mangel an geeigneten Lehrern handelt, sondern „um einen Systemfehler“, um „konzeptionelle Irrtümer, womöglich um ideologische Irreführung“. Warum das so ist, deckt Felten Schritt für Schritt in einem der stärksten Kapitel des Buches mit dem Titel „Blick hinter die Kulissen“ auf.

Dort zeigt er nicht nur, dass von einer Schließung der Förderschulen in der UN-Behindertenrechtskonvention nie die Rede war, sondern erinnert auch an die peinliche Abstimmung während einer Nachtsitzung des Deutschen Bundestags am 13.Dezember 2006, als nicht einmal fünfzig Abgeordnete im Saal waren, die das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ nur noch übermüdet abnickten und Vorbehalte der Bundesregierung und der Kultusminister zu den notwendigen sachlichen und räumlichen Voraussetzungen zugunsten einer Verabsolutierung der Inklusion abtaten.

Bayern, das die schulpolitische Vernunft auch nicht für sich gepachtet hat, ließ sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen und hielt konsequent an seinem Förderschulsystem fest. Dort steht das Wohl der Beteiligten an erster Stelle. Es gab allenfalls Lernen in einer sonderpädagogischen Partnerklasse an der Regelschule mit einem auf wenige Stunden beschränkten gemeinsamen Unterricht mit der Regelklasse. (…)

Nordrhein-Westfalen, dessen rot-grüne Landesregierung während der Abfassung des Buchmanuskripts noch im Amt war, berechnete kurzerhand die gebrauchten Förderlehrer nicht mehr anhand der Anzahl der Förderschüler, sondern nach der Schulgröße oder nach der Zügigkeit. Auf diese Weise wurden behinderte Kinder lange gar nicht gefördert, sondern nahmen als „U-Boote“ meist weniger erfolgreich am Regelunterricht teil. Während die FDP die Missstände laut und deutlich beim Namen nannte, schwieg die CDU im Düsseldorfer Landtag weitgehend und forderte erst Ende 2016 ein Moratorium für die Inklusion. Nun wird sie selbst dafür sorgen müssen, dass es auch dazu kommt.

Inzwischen hat die gescheiterte Inklusion zur Abwahl der rot-grünen nordrhein-westfälischen Landesregierung geführt, was Mecklenburg-Vorpommerns neue SPD-Kultusministerin nicht hinderte, kurz darauf beherzt die landesweite Schließung der Förderschulen zu verkünden und zu behaupten, es sei ganz gleichgültig, wo die Förderlehrer unterrichteten, ob an der Regelschule oder der Förderschule. Ihr von Felten zitierter Vorgänger Mathias Brodkorb (SPD), der angesichts der Inklusion von „Kommunismus für die Schule“ gesprochen hatte, war mit weniger Ignoranz geschlagen.

Eine weitere Mär, die Felten faktenreich entzaubert, ist die angeblich gelungene Inklusion in Südtirol, die behinderten Schülern zwar Kompetenzen bescheinigt, sie aber aus dem regulären Bewertungssystem ausklammert, was zur Folge hat, dass sie auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen haben und die wohlgemeinte Inklusion faktisch zur Exklusion wird. Hinzu kommt, dass den italienischen Schülern gern immer neue Diagnosen attestiert werden (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Lernschwäche), damit den Schulen mehr Lehrer zugewiesen werden.

In seiner Bilanz meint Felten, dass Inklusion wohl noch am ehesten im Primarbereich gelingen könne, wenn die baulichen und technischen Voraussetzungen an der jeweiligen Schule gegeben seien. Jedoch hänge das Entwicklungswohl weniger vom Fördermodell ab als von der vorherrschenden Unterrichtsqualität, der Professionalität der Förderung und der Kollegialität an einer Schule. „Klasseneffekte sind stärker als Struktureffekte.“ Das ist auch in Studien belegt.

Über die Forschungsdefizite im Sekundarbereich indessen weiß man nichts. Trotzdem werden immer neue Inklusionsversuche gestartet, die eine ganze Schülergeneration in einen schulischen Großversuch mit ungewissem Ausgang schickt. Dabei müsste es schon nachdenklich stimmen, wenn sich etwa in einer österreichischen Längsschnittstudie zeigt, dass Förderschüler drei- bis viermal so häufig wie Regelschüler keine wechselseitigen Freundschaften schließen konnten, also trotz der inklusiven Beschulung so viel einsamer waren als an einer Förderschule.

Ein pädagogisch sinnvoll ausgebautes System schulischer Inklusion kostet allein in Deutschland viermal so viel wie das Förderschulsystem. Doch davon wollen die verantwortlichen Politiker lieber nichts hören, denn sie wissen, dass sie die nötigen Mittel niemals haben werden. Stattdessen wurde getrickst, um weitere Förderschulen zu schließen, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die Mindestgrößen für die Aufrechterhaltung eines Standorts schlicht verdoppelt wurden, was den Eltern die Freiheit der Schulwahl nahm. Felten ist kein Inklusionsgegner, aber er wagt es auszusprechen, was viele seiner Kollegen täglich erleben.


mehr zum Buch: siehe Bücherliste


siehe auch:   Illusion Inklusion
Wieder sind die Schulen zum Schauplatz einer Ideologie geworden. Das Opfer: die Förderschulen.

Heike Schmoll schreibt in der FAZ vom 23.05.2017:
(…) Zwischen der politischen Propaganda der Länder und der Schulrealität klaffen Welten. Zwar schickt nahezu täglich ein Kultusministerium eine Erfolgsmeldung über neue Zahlen förderbedürftiger Schüler an Regelschulen. (…) Über die Qualität der Förderung ist damit aber noch nichts gesagt, ganz im Gegenteil. Zugleich wächst die Unzufriedenheit der Eltern behinderter Kinder über die Einschränkung des Elternwahlrechts. (…) Die Kultusministerien reden im Pädagogenjargon von zieldifferenter Förderung, mehreren Niveaustufen und meinen, das Dilemma lasse sich durch Aus- und Weiterbildung der Lehrer lösen. Aber das ist ein Trugschluss. Wie so oft delegieren sie die Verantwortung an die Lehrer. (…) Einer zunehmend heterogenen Schülerschaft steht deshalb eine immer stärker entprofessionalisierte Lehrerschaft gegenüber. Der pädagogische Großversuch der Inklusion, der auf wachsende Ernüchterung bei den Praktikern gestoßen ist, kann auf diese Weise nur scheitern. Was wohlgemeint daherkommt, widerspricht viel zu oft dem Kindeswohl. Die fortschreitende Auflösung von Behinderungs- und Förderkategorien führt zu einer fatalen Selbst- und Fremdtäuschung. Denn die fehlende individuelle Diagnose endet genau bei jener Benachteiligung, die sie eigentlich vermeiden will. Deshalb ist es nötig, genügend Förderschulen zu erhalten und nur diejenigen Förderbedürftigen in die Regelschule zu integrieren, die davon profitieren. (…) Die Schulzeit muss sich an ihrem Ertrag für die jeweilige Bildungsbiographie messen lassen und nicht an den Ideologien bestimmter Ministerien oder Inklusionstheoretiker.

zum Artikel:  FAZ, 23.05.2017, POLITIK, Heike Schmoll, Illusion Inklusion

Lehrer stellen Inklusion vernichtendes Zeugnis aus

Die Inklusion wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht:

Die meisten Lehrer fühlen sich laut einer neuen Umfrage schlecht vorbereitet und überfordert. Sie haben einen deutlichen Appell an die Politik. So berichtet Heike Schmoll in der FAZ am 30.05.2017 in ihrem Artikel „Lehrer kritisieren schlechte Bedingungen für Inklusion“.

Die Forsa-Umfrage, die vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben wurde, hat das Thema:

Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland – Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen.

Im Rahmen der Untersuchung wurden bundesweit insgesamt 2.050 Lehrer an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland befragt. 747 der befragten Lehrer unterrichten derzeit selbst in inklusiven Klassen.

Aus der Untersuchung die wichtigsten Ergebnisse der repräsentativen Lehrerbefragung:

  • Vergleicht man die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung mit der 2015 erstmals durchgeführten Befragung zum Thema Inklusion an Schulen in Deutschland, so fällt zunächst das geringe Maß an Veränderung in den Einstellungen der Lehrkräfte zur Inklusion und den damit gemachten Erfahrungen im Schulalltag auf.
  • Wie bereits 2015 ist die Lehrerschaft in Deutschland in der Grundsatzfrage, ob eine gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung an Regelschulen sinnvoll ist, unverändert gespalten: Eine knappe Mehrheit von 54 Prozent hält dies grundsätzlich für sinnvoll, eine starke Minderheit von 42 Prozent spricht sich hingegen grundsätzlich für eine Unterrichtung von Kindern mit Behinderung an Förderschulen aus.
  • Die Akzeptanz der Inklusion an Schulen unter der Lehrerschaft [ist] auch zwei Jahre nach der ersten Erhebung zu diesem Thema nicht gestiegen, sondern die Grundhaltung unverändert von einem hohen Maß an Skepsis geprägt.
  • Als Argumente gegen die Inklusion werden – ebenfalls wie 2015 – sowohl grundsätzliche (pädagogische) Argumente als auch solche, die sich auf die Ausstattung der Schulen und die Qualifizierung des Personals beziehen, vorgebracht. Im Hinblick auf die praktische Ausgestaltung der Inklusion an den Schulen fallen die gemachten Erfahrungen der Lehrer ähnlich negativ aus wie bereits vor zwei Jahren. Während unverändert fast alle Lehrer der Auffassung sind, dass es in inklusiven Klassen eine Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagoge geben sollte (und zwar immer und nicht nur zeitweilig), gibt nur eine Minderheit der Lehrkräfte an, dass dies in ihrem Bundesland auch tatsächlich schulrechtlich vorgesehen ist.
  • Auch das Fortbildungsangebot, um sich auf die Arbeit mit inklusiven Schulklassen vorzubereiten, wird von den Lehrkräften als mangelhaft beurteilt.
  • Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedenken gegen einen inklusiven Unterricht und der unverändert unzureichenden Rahmenbedingungen spricht sich auch in der aktuellen Erhebung eine deutliche Mehrheit der Lehrer dafür aus, die bisherigen Förder- und Sonderschulen alle zu erhalten (und damit sogar mehr als noch 2015). (S. 34)
  • Die Erfahrungen der Lehrer, an deren Schulen es bereits inklusive Lerngruppen gibt, [sind] unverändert negativ. So hat sich die Schülerzahl pro inklusiver Klasse gegenüber 2015 so gut wie nicht verändert. Auch berichtet nach wie vor eine Mehrheit von über 60 Prozent der Lehrer an betroffenen Schulen davon, dass die Größe von inklusiven Klassen im Vergleich zu nicht inklusiven Klassen nicht verringert wurde. Ebenfalls wie vor zwei Jahren hatte die Mehrheit der betroffenen Lehrkräfte nach Auskunft der Lehrer an Schulen mit inklusiven Lerngruppen nur wenige Wochen oder sogar weniger Zeit, um sich auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten. (S. 35)
  • Sehr großen Unterstützungsbedarf sehen die befragten Lehrkräfte vor allem bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (92 %), bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen (86 %) und bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (76 %). Mehr als 60 Prozent sehen (auch) größeren Unterstützungsbedarf bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Sprache (65 %) und bei Kindern mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen (60 %). Die Hälfte sieht größeren Unterstützungsbedarf bei der Unterrichtung kranker Schüler, jeweils 40 Prozent sehen dies bei den Förderschwerpunkten Sehen oder Hören. (S. 32)
  • In mehr als 50 Prozent der Schulen mit inklusiven Klassen haben die Lehrkräfte keinerlei sonderpädagogische Kenntnisse, und in fast 80 Prozent der Fälle war Inklusion nicht Teil der Lehrerausbildung. Bei all diesen Indikatoren zur Vorbereitung der Lehrkräfte auf inklusiven Unterricht hat sich im Vergleich zur Erhebung 2015 so gut wie nichts verändert.
  • Inklusive Klassen werden in zwei Drittel der betroffenen Schulen unverändert von nur einer Person unterrichtet. (S. 35)
  • Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Lehrkräfte insgesamt die personelle Ausstattung, die von ihrer jeweiligen Landesregierung für den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung zur Verfügung gestellt wird, mit der Durchschnittsnote 4,9 („mangelhaft“) bewerten. (S. 36)

Zu den Untersuchungsergebnissen: Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland – Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen.

siehe auch:  FAZ, 29.05.2017, Heike Schmoll, Lehrer stellen Inklusion vernichtendes Zeugnis aus

„700 Seiten Kritik an Praxis der Inklusion“

Inklusion vor der Wende

Lange Zeit waren die kritischen Stimmen zur Integration behinderter Schüler kaum zu hören, nun stellt sich der Praxisschock ein.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 18. 05. 2017, von Hansgünter Lang
Der Autor ist Jurist und war jahrelang Staatssekretär im saarländischen Kultusministerium.

Die Protagonisten [der inklusiven Schule] brauchten nur das Wort „UN-Behindertenrechtskonvention“ auszusprechen – und unbequeme Fragen zu Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit dieses bildungspolitischen Großprojekts wurden gar nicht erst gestellt.

Doch jetzt bahnt sich im öffentlichen Diskurs eine Wende an. Sie beruht auf einem Praxisschock, der gleich von zwei Seiten kommt. Die Eltern der behinderten Kinder erleben, wie eine Förderschule nach der anderen aufgelöst wird. Gleichzeitig hat sich der Blick der Öffentlichkeit dafür geschärft, wie schwierig Inklusion in den meisten Fällen ist: schließlich gilt es den Lernbehinderten, geistig Behinderten und Verhaltensauffälligen gerecht zu werden. Die Sensibilisierung hat etwas damit zu tun, dass die Lehrkräfte der Regelschulen neuerdings vor eine weitere Aufgabe gestellt sind. Sie müssen jetzt auch noch zahlreiche Flüchtlings- und Migrantenkinder ohne Deutschkenntnisse unterrichten und erziehen. Jetzt hört man den überforderten Lehrkräften endlich zu, wenn sie fragen: „Was sollen wir eigentlich noch alles leisten?“ […]

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bekräftigt unter Hinweis auf das „Wohl des einzelnen Kindes und seine Förderung“, dass bei inklusiver Unterrichtung „die Förderung allerdings den bisher erreichten Standard der Förderschulpädagogik nicht unterschreiten darf“. Doch sind Kultusminister auf diesem Ohr taub. Sie wissen, dass sie das erforderliche pädagogische Personal aus finanziellen Gründen nicht bereitstellen können – heute nicht und übermorgen nicht. Lieber reden sie von einer Verbesserung der Lehrerbildung und von Lehrerfortbildung für Regelschullehrer. So soll jeder Lehrer befähigt werden, Unmögliches zu leisten. Wer – wie der Verfasser dieser Zeilen – 33 Jahre in einem Kultusministerium gearbeitet hat, ist mit den Reflexen von Kultusministern vertraut. Wenn sich bei ambitionierten Großprojekten die pädagogische Innovation aus strukturell-immanenten Gründen oder wegen Fehlens der erforderlichen Rahmenbedingungen an der Wirklichkeit stößt, dann soll es die „Verbesserung der Lehrerbildung“ richten – ein realitätsfernes Lösungsversprechen.

Denn der Kern des Problems ist die fehlende Zeit für den einzelnen behinderten Schüler. Die Förderung Lernbehinderter und geistig Behinderter ist zeitintensiv. Gleiches gilt für die Verhaltensauffälligen mit ihren inneren Nöten, auf die der Lehrer geduldig eingehen muss. Selbst ein Lehrer mit förmlicher Doppelqualifikation als Grundschullehrer und Förderschullehrer ist damit in der Regelschule überfordert. […]

Doch wie soll das an der Regelschule bei einem lernbehinderten, geistig behinderten oder verhaltensauffälligen Kind mit einer personellen „Zusatzausstattung“ gelingen, die allenfalls symbolischen Charakter hat? Ohne Qualitätssicherung der inklusiven Schule wird die Aktivierung des Teilhaberechts für das behinderte Kind zur Diskriminierung.

Wie haben es die Wortführer der inklusiven Schule geschafft, dass diese Verhältnisse lange Zeit im öffentlichen Diskurs ignoriert wurden? Man hantiert zum Beispiel mit mehr als fragwürdigen ländervergleichenden Statistiken, um sich erfolgreiche Inklusionspraxis zu bescheinigen. Doch wird der „Erfolg“ ausschließlich an der Steigerung der Fallzahlen und an der Inklusionsquote festgemacht. Die traurige pädagogische Wirklichkeit, die sich in vielen Fällen dahinter verbirgt, kommt in solchen Rankings nicht vor. Auch scheint den Akteuren an Transparenz nicht gelegen zu sein. […]

Nach Artikel 24 Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention dürfen Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Das bedeutet jedoch kein Verbot von Förderschulen. Ein solches Auslegungsergebnis folgt weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte noch aus der Zielsetzung der Konvention. Das ist, soweit ersichtlich, auf juristischer Seite bisher nicht infrage gestellt worden. […]

Mit diesem Streitgegenstand wäre gleichzeitig die Grundsatzfrage thematisiert, nämlich die Legitimität differenzierter Strukturen im Bildungswesen. Um diese Grundsatzfrage geht es auch dort, wo sie als originelle Anregung zur Schulentwicklung daher kommt. So wird bekanntlich von interessierter Seite gefordert, auch geistig Behinderten Zugang zum Gymnasium zu ermöglichen. […]

Es wäre ein Fehler, solche Vorstellungen als Stück aus dem Tollhaus abzutun. Denn die inklusive Schule soll bekanntlich den „förderlichen Umgang mit Heterogenität“ ermöglichen. Liegt da nicht „eine Schule für alle“ ganz nahe? Der Versuch, die Frage der Organisation sonderpädagogischer Förderung für weit darüber hinaus reichende Zwecke zu instrumentalisieren, ist nicht zu übersehen.


700 Seiten Kritik an Praxis der Inklusion

Saarbrücker Zeitung, 9.5.2017, von Ute Kirch
Der Ex-Bildungsstaatssekretär Hansgünter Lang hat eine umfassende Dissertation über die Inklusion im Saarland geschrieben. Bei der Umsetzung sieht er gravierende Probleme. [Lang, Hansgünter, Das Bildungsangebot für Behinderte, 2017, 16 Tab., 696 S.]

Seine Aussagen sind:

„Die Erziehungswissenschaft ist einhellig der Auffassung, dass bei lernbehinderten, geistig behinderten und verhaltensauffälligen Schülern – und das sind über 90 Prozent der Schüler, um die es hier geht – durchgehend zwei Pädagogen in der Regelklasse unterrichten müssen“. Und zwar „an jedem Unterrichtstag und Stunde für Stunde“. Doch die Politik richte sich nicht danach.

„Der Regelschullehrer ist die meiste Zeit auf sich gestellt und damit systematisch überfordert“.

„Ob die Integration ein Erfolg ist, wurde an den Fallzahlen abgelesen, die Frage nach der pädagogischen Qualität und Wirksamkeit wurde nicht gestellt“.

„Die UN-Behindertenkonvention enthält keine Aussagen zur Gliederung des Schulwesens und auch kein Verbot von Förderschulen“. Er widerspricht somit Aussagen von Förderschul-Gegnern, die behaupten, die Konvention lehne Doppelstrukturen ab. „Ein solches Verbot wäre, da die UN-Behindertenrechtskonvention nur den Rang eines einfachen Gesetzes hat, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.“

„Viele Eltern sind beeindruckt von den Versprechungen, die man ihnen und ihren Kindern bei Unterrichtung an Regelschulen macht. Aber über die tatsächlichen Verhältnisse und Zustände der Inklusion sind sie offenbar nicht in vollem Umfang unterrichtet“. Hansgünter Lang befürchtet, dass durch die sinkende Zahl der Förderschulen die verbleibenden Schulen für viele Schüler nicht mehr in zumutbarer Entfernung erreichbar sind, denn: „Förderschulen werden systematisch ausgetrocknet“.

Weiter führt er aus: „Die Inklusion behinderter Kinder wird instrumentalisiert, um das politische Ziel nach ‚einer Schule für alle‘ durchzusetzen“.

Zum Artikel:   https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/700-seiten-kritik-an-praxis-der-inklusion_aid-1925628

Hansgünter Lang arbeitete 24 Jahre in der Abteilung Allgemeinbildende Schulen des Saarlandes, wo er als Leiter des Schulrechtsreferates u.a. für Normgebung zuständig war. Von 1977 bis zu seiner Ernennung zum Staatssekretär im Jahr 1999 gehörte Hansgünter Lang als Vertreter des Saarlandes dem Unterausschuss Schulrecht der Kultusministerkonferenz an. Dort war er mehrfach Berichterstatter zu Rechtsfragen des Bildungsangebots für Behinderte.

Nicht „Eine Schule für alle“, sondern „Für jedes Kind die beste“

„Es entsteht eine explosive Mischung“

Dass Inklusion in Deutschland nicht funktioniert, hat nach Meinung des Pädagogen Michael Felten viele Gründe – unter anderem die „neuen Kinder“, deren Eltern wenig Zeit haben.

Hannoversche Allgemeine, 4.3.2017, Interview: Jutta Rinas

Michael Felten, geboren 1951, lebt im Rheinland und arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Gymnasiallehrer in Köln. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung, berät Schulen (www.elternlehrer-fragen.de) und ist Autor des Buches „Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert“, siehe Bücherliste.

Jutta Rinas: Herr Felten, seit acht Jahren haben behinderte Menschen in Deutschland ein Recht auf umfassende Teilhabe. Befürworter der Inklusion beklagen, dass seitdem viel zu wenig passiert ist. Sie dagegen wähnen uns schon jetzt in der Inklusionsfalle. Was meinen Sie damit?

Michael Felten: Ich möchte vorab betonen, dass ich es wichtig finde, Kinder möglichst stark gemeinsam zu beschulen. In Frankreich etwa waren bislang 20.000 behinderte Kinder generell vom Schulsystem ausgeschlossen. Das finde ich schlecht. In Deutschland krankt Inklusion jedoch an zwei Dauerbaustellen. Sie ist in der Regel stark unterfinanziert – und Lehrer werden im Unterricht nicht einmal ansatzweise ausreichend von Sonderpädagogen unterstützt. Es ist deshalb an der Zeit, der Inklusionspropaganda aus den Hochglanzbroschüren etwas Realität entgegenzusetzen.

Ihre radikale These lautet: Inklusion ruiniert das ganze Bildungssystem. Wieso?
Dazu muss man wissen, dass die Situation heute zum Beispiel an Grundschulen auch ohne Inklusion viel komplizierter als früher ist.

Warum?
Weil die Pädagogen heute auf eine viel schwierigere Klientel treffen. Wir verwenden dafür den Begriff der neuen Kinder. Das sind Kinder, deren Eltern aus beruflichen oder privaten Gründen viel zu wenig Zeit für sie haben. Diese Kinder kennen wenig von der Welt außerhalb von Internet und Fernsehen. Oder es sind Kinder, die für ihre Eltern eine Art Lebensprojekt sind. Sie erfüllen ihnen jeden Wunsch, räumen jeden Stein aus dem Weg.

Was macht beide Gruppen so problematisch?
Beide brauchen besonders intensive pädagogische Unterstützung. Die vernachlässigten Kinder müssen individuell gefördert, oft überhaupt erst einmal schulfähig gemacht werden. Die überbehüteten haben großen sozialen Nachholbedarf, weil sie nie gelernt haben, dass sich nicht immer alles um sie dreht. Wenn dazu dann noch Kinder mit schweren sozial-emotionalen Störungen oder Lernschwierigkeiten kommen, um die man sich früher in kleinen Förderschulklassen intensiv gekümmert hätte, entsteht im Unterricht schnell eine explosive Mischung.

Sie sind selbst Lehrer, bekommen in ihrem Blog viel Post von Lehrern. Sagen sie mal ein Beispiel.
Nehmen Sie eine Lehrerin aus dem Rheinland, die eine erste Klasse unterrichtet. Die meisten Kinder freuen sich auf den Unterricht. Zwei der 27 Kinder sind aber hochgradig verhaltensauffällig, haben täglich Ausraster. Ein normaler Unterricht, bei dem man den Regelkindern gerecht wird, ist gar nicht möglich. Und nicht nur das …

Was noch?
Die Lehrerin muss nicht nur damit umgehen, dass sie und die Mitschüler ständig beleidigt und körperlich attackiert werden. Neben dem normalen Arbeitspensum muss sie umfangreiche Berichte anfertigen, immer wieder Gespräche mit den Eltern führen, mit Sozialpädagogen, mit Behörden. Am Ende bleibt vielleicht nur, die Förderkinder in anderen Lerngruppen unterzubringen oder die Unterrichtszeit für sie zu verkürzen. Damit wird sie auch ihnen nicht gerecht.

Das klingt wie eine extreme Ausnahmesituation …
Ist es aber nicht. Mittlerweile kann die Schule in Nordrhein-Westfalen auch schwierigste Schüler oft nicht mehr selbst an eine Förderschule verweisen, wo man dem Kind meist viel besser helfen könnte. Das können in den ersten beiden Schuljahren höchstens die Eltern beantragen. Die Landesregierung setzt wohl darauf, dass viele Eltern denken, gemeinsames Lernen sei für jedes Kind das Beste. Und man muss befürchten, dass demnächst sogar das Elternwahlrecht abgeschafft wird. Damit bündeln sich alle Probleme in der Regelklasse.

Wie viel Geld würde man brauchen, um ein gut funktionierendes, inklusives Schulsystem zu etablieren?
Die Grünen haben 2009 ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das kam zu dem Ergebnis, dass man für ein angemessen ausgestattetes Inklusionssystem 49 Milliarden Euro bräuchte. Zieht man das Geld ab, das man durch die Schließung der Förderschulen einsparte, bliebe immer noch ein Neuaufwand von 35 Milliarden. Diese Summe würde niemand bezahlen können. Über dieses Gutachten wird deshalb kaum noch geredet.

Ihr Fazit ist die Weiterentwicklung des dual-inklusiven Schulmodells und ergänzende Förderschulen. Fordert die UN-Behindertenrechtskonvention aber nicht gerade die Schließung aller Förderschulen?
Nein, das ist ein großes Missverständnis. Die Behindertenrechtskonvention fordert nicht eine verpflichtende Schule für alle, sondern für jedes Kind den besten Ort zum Lernen. Und das kann, wie weltweit immer noch häufig üblich, auch eine Spezialschule oder Separatklasse sein.

„So viel hochqualitative Integration wie sinnvoll und möglich – anspruchsvoller getrennter Unterricht überall da, wo nötig!“