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Berlins Schulen besser machen als sie sind!

Empfehlungen zur Steigerung der Qualität
von Bildung und Unterricht in Berlin

Abschlussbericht der Expertenkommission
Leitung: Prof. Dr. Olaf Köller, IPN – Leibniz-Institut für die Pädagogik der
Naturwissenschaften und Mathematik, Kiel
Berlin, 7. Oktober 2020 [1]

In dem 100-seitigen „Abschlussbericht der Expertenkommission“ werden sechs Handlungsfelder beschrieben, die für die Berliner Schulpolitik im oben genannten Sinne von Bedeutung sind. Es werden jeweils die theoretischen Hintergründe und Forschungsbefunde beschrieben, dann die Situation in Berlin analysiert. 

Ziel der Kommission war die Erarbeitung wissenschaftlich fundierter Empfehlungen, wie die Lehr- und Lernprozesse auf den unterschiedlichen Bildungsetappen von der Kita bis zur Lehrkräftefortbildung so gestaltet werden können, dass erfolgreiches fachliches und soziales Lernen stattfindet und gleichzeitig Disparitäten im Bildungssystem reduziert werden. Im Zentrum stand dabei die Förderung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen.


Hintergrund für die nachfolgenden Auszüge aus dem Abschlussbericht ist ein Bericht im Tagesspiegel vom 15.01.2021 mit dem Titel:

Die Rettung naht – Ein neues Gremium aus [vier] Schulleitungen und anderen Fachleuten soll Berlin aus der Bildungsmisere holen“.


Das Gremium soll „Berlins Schule neu erfinden. Oder zumindest: besser machen, als sie ist.“ Es soll die „Empfehlungen der Expertenkommission“ umsetzen. Die Tätigkeit „soll erst dann enden, wenn alle Aufgaben abgearbeitet sind.“


Genauer betrachtet werden zwei Handlungsfelder aus dem Abschlussbericht von Manfred Fischer für Schulforum-Berlin [2].

Die Auszüge daraus sind mit einigen Anmerkungen versehen (grau hinterlegt, kursiv):
Handlungsfeld 2: Förderung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen im Unterricht (Grundschule und Sekundarstufen) (S. 33 – 49)
Handlungsfeld 3: Entwicklung und Sicherung der Qualität des Unterrichts (S. 54 – 68)


Handlungsfeld 2: Förderung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen im Unterricht (Grundschule und Sekundarstufen)

Theoretischer Hintergrund und relevante Forschungsbefunde zu sprachlichen und mathematischen Basiskompetenzen

Sprachliche und mathematische Kompetenzen, vor allem Basiskompetenzen (Grundfertigkeiten wie flüssiges Lesen und Schreiben sowie Verstehensgrundlagen der Arithmetik und Geometrie), sind unverzichtbare Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen nicht nur in Deutsch und Mathematik, sondern in fast allen Fächern. Auch ermöglichen sie die Teilhabe an Gesellschaft und Berufswelt. […] Wer die Regelstandards nicht erreicht, wird voraussichtlich Probleme haben, einen erfolgreichen Übergang in anspruchsvollere Berufe und die gymnasiale Oberstufe zu bewältigen. Die Ursachen für geringe sprachliche und mathematische Kompetenzen sind vielfältig. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich darauf aufzuzeigen, welchen Beitrag das Schulsystem leisten kann, um möglichst vielen Schülerinnen und Schülern die in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegten sprachlichen und mathematischen Kompetenzen zu vermitteln. (S. 33)

Früher Schrifterwerb: In Bezug auf den frühen Schrifterwerb gibt es eine lange, kontroverse und insgesamt wenig fruchtbare Diskussion um den richtigen Weg (Stichwort früher: Methodenstreit um ganzheitliche vs. analytische Methoden; Stichwort heute: Lesen durch Schreiben bzw. Schreiben nach Gehör). […]

Auffallend ist, dass die Expertenkommission die Studie der Universität Bonn: „Der Verlauf des Rechtschreib-Lernens – Drei Didaktiken und ihre Auswirkungen auf Orthographie und Motivation in der Grundschule“ weder zitieren noch in der aufgeführten Literatur erwähnen. Auch eine aktuelle Studie: Rechtschreibung in der Grundschule – Eine empirische Untersuchung der Auswirkungen verschiedener Unterrichtsmethoden, Kuhl, Tobias (April 2020) wurde ebenfalls nicht berücksichtigt. Das heißt, es werden die Vorteile eines modernen Fibellehrgangs beim Lesen- und Schreibenlernen nicht erwähnt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! Denn bereits am 31.05.2018 war im Tagesspiegel ein Bericht mit folgender Überschrift zu lesen: Scheeres will „Schreiben nach Gehör“ beibehalten. Wie viele Lehrerinnen und Lehrer und welche Grundschulen in Berlin welche Methode unterrichten, ist nicht bekannt, jedoch die Ergebnisse aus den Vergleichsarbeit am Ende der Jahrgangsstufe 3 (VERA 3).  

Unter der Überschrift „Berlins Drittklässler können nicht schreiben“ ist im Tagesspiegel vom 13.02.2018 nachzulesen: 2017 sind in Berlin rund 24.000 Drittklässler in Deutsch und Mathematik geprüft worden – und die Resultate waren miserabel. Wie 2015 erreicht knapp die Hälfte nicht einmal die Minimalanforderungen bei der Rechtschreibung: Sie liegen somit auf der untersten der fünf Kompetenzstufen. Ein weiteres Viertel schafft nur den „Mindeststandard“. Bildungsversuche wie „Lesen durch Schreiben“ hätten dazu geführt, dass die Berliner Schüler nicht mehr in der Lage seien, am Ende der dritten Klasse einfachste Sätze zu schreiben.

Geeignete didaktisch-methodische Konzepte zum frühen Schrifterwerb zeichnen sich durch einen strukturierten Zugang zur Schrift aus, die die Schülerinnen und Schüler bei ihrer selbständigen Aneignung der Schrift systematisch unterstützen und das Lesen und Schreiben von Beginn an in einen sinnstiftenden Kontext stellen, ohne dabei das regelmäßige Üben aus dem Auge zu verlieren. […] Strukturvorgaben zu Lernprozess und Lerngegenstand geben Sicherheit. (S. 35)

Sachstand zu Lesekompetenzen als Beispielbereich sprachlicher Kompetenzen

Für den Lernstand im Bereich Lesen ergeben sich für Berlin im Vergleich mit ausgewählten [Bundes-] Ländern folgende Ergebnisse:

  • Ähnliche Ergebnisse [wie beim Lesen] zeigen sich für das Zuhören und die Orthographie, so dass es sich nicht um punktuelle Ergebnisse handelt, sondern um systematische.
  • Beim IQB-Bildungstrend 2016 verfehlen 20% (-2,2% gegenüber 2011) der Viertklässlerinnen und Viertklässler den Mindeststandard (Bayern 7,9%, Hamburg 14,2%).
  • Gleichzeitig erreichen 57% (+3,3% gegenüber 2011) den Regelstandard (Bayern 73,9%, Hamburg 65%).
  • Die Leistungsstreuung ist in Berlin mit 110 Punkten so groß wie in keinem anderen Land (Bayern 93, Hamburg 104).
  • Die Lesekompetenz der 1. Zuwanderungsgeneration beträgt 425 Punkte (Bayern 483, Hamburg 453).
  • Beim IQB-Bildungstrend 2015 verfehlen 30,8% der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler den Mindeststandard (Bayern 19,8%, Hamburg 25,8%), was signifikant über dem Bundesdurchschnitt von 23,4% liegt.
  • Gleichzeitig erreichen 42,7% den Mindeststandard (Bayern 53,9%, Hamburg 48,7%), was signifikant unter dem Bundesdurchschnitt von 48,4% liegt.
  • Bei VERA 8 verfehlen 2019 an Integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen 51% den Mindeststandard (Baden-Württemberg 30%), 24% erreichen den Mindeststandard (Baden-Württemberg 32%), 16% den Regelstandard (Baden-Württemberg 25%). Hinzu kommt der deutlich negative Trend: Im Jahr 2013 lag der Anteil auf Kompetenzstufe I noch bei 23%.
  • In den Berliner Gymnasien zeigen sich in VERA gegenüber Baden-Württemberg im Spitzenbereich geringere Anteile (Kompetenzstufe V: 12% in Berlin vs. 25% in Baden-Württemberg). Allerdings zeigt sich in Berlin auch im Spitzenbereich ein negativer Trend; so nahm der Anteil auf der Stufe V im Zeitraum 2013 – 2019 von 19% auf 12% ab.

Erläuterungen von Mindeststandard, Regelstandard, Kompetenzstufen

Als durchschnittliche Erwartung an die Leistungsstände von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 4 gilt der Regelstandard (Kompetenzstufe III). Über die dort beschriebenen Kompetenzen sollen Schüler/-innen am Ende der Jahrgangstufe 4 durchschnittlich verfügen. Unterhalb des Regelstandards werden zwei weitere Kompetenzstufen definiert. Der Mindeststandard (Kompetenzstufe II) beschreibt ein Minimum an Kompetenzen, über die alle Schüler/-innen am Ende der Jahrgangsstufe 4 verfügen sollten. Die Gruppe der Schüler/-innen unter Mindeststandard (Kompetenzstufe I) erreicht diese Mindestanforderungen nicht. Diesen Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kenntnisse, um den erfolgreichen Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule zu bewältigen. Ihnen sollte bei der Kompetenzentwicklung besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Diese Zahlen lassen insgesamt zwei Schlussfolgerungen zu: Zum einen ist der Anteil der sehr schwach lesenden Schülerinnen und Schüler in Berlin sehr hoch; zum anderen erreichen Länder mit einer vergleichbaren Zusammensetzung der Schülerschaft im Mittel höhere Leistungsniveaus ihrer Schülerinnen und Schüler. (S. 41)

Zu diesen Schlussfolgerungen konnte man bereits 2008 kommen, denn: Bei den „Sprachlichen Kompetenzen“ im Ländervergleich 2008/2009  –  Befunde des ersten Ländervergleichs zur Überprüfung der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss  –  liegen in den Ländern Hamburg, Berlin und Bremen die erzielten Leseleistungen, Zuhörleistungen und die orthografische Kompetenz erheblich erkennbar unter dem deutschen Mittelwert. Erneut zeigt sich in den Stadtstaaten Berlin und Bremen eine besonders große Leistungsstreuung innerhalb der Schülerschaft. Der Leistungsabstand im englischsprachigen Leseverstehen zwischen den leistungsschwächsten 5 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Berlin und dem leistungsstärkeren Thüringen entspricht dem Kompetenzzuwachs, der innerhalb eines Schuljahres erreicht wird. Die insgesamt höchsten Leistungen werden dabei im Freistaat Bayern erzielt.

Sachstand zu mathematischen Kompetenzen

Diese Befundlage [wie bei den sprachlichen Kompetenzen beschrieben] zeigt sich auch im Fach Mathematik:

  • Laut IQB-Bildungstrend 2016 erreichen 27,6% der Viertklässlerinnen und Viertklässler [in Berlin] nicht die mathematischen Mindeststandards, dies ist nach Bremen (35,4%) der höchste Wert. In Hamburg sind es 21,2%, in NRW 19,2%, bundesweit 15,4%.
  • Gleichzeitig erreichen 46,8% der Schülerinnen und Schüler in Berlin die Regelstandards, in Hamburg sind es 57,7%, in NRW 57,5%, bundesweit 62,2%.
  • Laut IQB-Bildungstrend 2018 erreichen 33,9% der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler [in Berlin] nicht die mathematischen Mindeststandards, dies ist nach Bremen (40,6%) der höchste Wert im Ländervergleich. In Hamburg sind es 28,8%, in NRW 27,7%, bundesweit 24,3%.
  • Gleichzeitig erreichen 38,5% der Schülerinnen und Schüler in Berlin die Regelstandards, in Hamburg sind es 41,9%, in NRW 41,6%, bundesweit 44,8%.
  • Bei VERA 3 verfehlen im Jahr 2016 im Bereich Zahlen und Operation 37% der Drittklässlerinnen und Drittklässler die Mindeststandards, insgesamt 65% verfehlen die Regelstandards.
  • In den Berliner Prüfungen zur Berufsbildungsreife lag die Durchschnittsnote in Mathematik in 2018 bei 4,2 (in 2017 bei 3,8) und der Lösungsanteil unter 50%. Auch bei der Prüfungsarbeit zum Mittleren Schulabschluss erreichten im Fach Mathematik in 2018 mehr als 40% der Schülerinnen und Schüler der Integrierten Sekundarschulen und der Gemeinschaftsschulen nur die Note mangelhaft oder ungenügend. Selbst an den Gymnasien lag der Lösungsanteil bei diesen Prüfungsarbeiten lediglich bei durchschnittlich 76%. Allerdings kann man trotz mangelhafter Note in Mathematik die Abschlüsse bestehen, und sogar die Zugangsberechtigung für die gymnasiale Oberstufe erlangen. Dies ist dann möglich, wenn zwei Kernfächer im erhöhten Niveau mit mindestens ausreichend bestanden werden. (S.42)

Empfehlungen: Klarer Fokus auf die Sicherung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen

Schülerinnen und Schüler

Die Empfehlungen verfolgen das zentrale Ziel, den Anteil der Berliner Schülerinnen und Schüler, die in Deutsch und/oder Mathematik die Mindest- bzw. Regelstandards verfehlen, deutlich zu senken. Dies deckt sich mit den Zielsetzungen des Berliner Qualitätspakets für Schulen, das die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie im Januar 2019 beschlossen hat. […]

Für die Grundschule sollte für den IQB-Bildungstrend 2026 das Ziel vorgegeben werden, den Anteil derjenigen Schülerinnen und Schüler, die im Primarbereich Mindeststandards im Lesen und in Mathematik verfehlen, beim Lesen von 20 % in 2016 auf 15 % zu senken, in Mathematik von 27,6 % in 2019 auf 20% in 2026.

Für die Sekundarstufe I sollten die IQB Bildungstrends 2024 und 2027 einen Orientierungsrahmen geben. Hier sollte die Zielvorgabe sein, den Anteil derjenigen Schülerinnen und Schüler, die Mindeststandards verfehlen, im Lesen von 30,8% in 2019 auf 25%, in Mathematik von 33,9 % in 2019 auf 25% zu verringern. Auch für die Übergänge in die weiteren Schulen sollten entsprechende Zielvorgaben festgelegt werden. (S. 45)

Für Deutsch wird empfohlen, die Maßnahmen zur sprachlichen Förderung zunächst auf die basale Lese- und Schreibkompetenz zu fokussieren, also Lese- und Schreibflüssigkeit sowie Lese- und Schreibstrategien, die die Schülerinnen und Schüler zu selbständigem Lernen an und mit Texten befähigen, von Klassestufe 7 an auch komplexe Lese- und Schreibstrategieprogramme und komplexe Anforderungen der Sekundarstufe II, wie sie in den Regelstandards beschrieben werden. Als Förderprogramme für die Basiskompetenzen stehen zum Beispiel bereit:

  • Für die Förderung der Leseflüssigkeit eignen sich Lautleseverfahren, wie sie Rosebrock et al. (2011) beschreiben.
  • Für die Förderung von Lesestrategien eignen sich Programme wie „Wir werden Textdetektive“ von Gold et al. (2004); weitere Informationen auf der Homepage (http://www.textdetektive.de).
  • Für die gemeinsame Förderung von Lese- und Schreibfähigkeiten eignet sich das in Schleswig-Holstein entwickelte Programm „Lesen macht stark – Grundschule“ (https://nzl.lernnetz.de/index.php/lesen-grundschule.html).
  • Eine kommentierte Übersicht über geeignete Förderkonzepte und -materialien und ihre jeweilige Forschungsbasierung bietet die Tooldokumentation von BiSS-Transfer (https://biss-sprachbildung.de/angebote-fuer-die-praxis/tool-dokumentation/). (S. 46)

Für Mathematik wird empfohlen, die Maßnahmen zur mathematischen Förderung jeweils auf diejenigen Verstehensgrundlagen zu fokussieren, die in den nachfolgenden Klassenstufen für das erfolgreiche Weiterlernen ausschlaggebend sind. Für die Klassenstufen 1-6 sollten daher insbesondere die arithmetischen Verstehensgrundlagen fokussiert werden. Geeignete diagnosegeleitete Förderprogramme, die über reine Lernstandsanalysen wie ILeA durch systematische forschungsbasierte Förderung hinausgehen, sind z.B.

  • Klassenstufe 2: ZebrA-Programm zur Ablösung vom zählenden Rechnen (Häsel-Weide et al., 2013), ähnlich auch die in Berlin produzierte Diagnose- und Förderkartei „Auf dem Weg zum denkenden Rechnen“. [siehe auch „pikas.dzlm“]
  • Klassenstufen 3-6: Mathe sicher können NZ für das Stellenwertverständnis und Operationsverständnis bei natürlichen Zahlen.
  • Klassenstufen 6/7: Mathe sicher können für Zahl- und Operationsverständnis bei Brüchen und Dezimalzahlen sowie MSK SR für Proportionales Denken, Prozentrechnung, Textaufgaben (mathe-sicher-koennen).

Für die Klassenstufen 8-11 stehen forschungsbasierte diagnosegeleitete Förderprogramme für Verstehensgrundlagen mit entsprechenden Unterrichtsmaterialien leider noch nicht zur Verfügung. Sie sollten in Kooperation mit einschlägigen Mathematikdidaktikerinnen und -didaktikern zügig entwickelt, evaluiert und implementiert werden, insbesondere zu

  • geometrischen und statistischen Basiskompetenzen für Lernende, die einen Bildungsabschluss Berufsbildungsreife und den Mittleren Schulabschluss anstreben.
  • algebraische Verstehensgrundlagen zu Variablen, Termen, Gleichungen und Funktionen und zugehörige algebraische Fertigkeiten für Lernende, die einen Übergang in die gymnasiale Oberstufe anstreben. (S. 46f)

Schulen und Lehrkräfte

Vorrangig Schulen mit hohen Anteilen von Risikogruppen (d.h. Lernende mit Leistungen unterhalb der Mindeststandards) werden systematisch durch Fortbildungs- und Schulberatungsangebote dabei unterstützt, binnen vier Jahren basale sprachliche und mathematische Förderkonzepte für alle Jahrgangsstufen ausgehend von Klassestufe 1 bzw. Klassenstufe 7 zu etablieren, um in sechs Jahren [!] Veränderungen zu ermöglichen. Dazu werden forschungsbasierte Unterrichts- und Fördermaterialien und darauf abgestimmte fachbezogene Fortbildungskonzepte entwickelt und bedarfsgerecht für die Schulen mit den höchsten Bedarfen angeboten. […] Dabei unterstützen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einschlägiger Expertise in fachbezogener Unterrichtsentwicklung und Professionalisierung. (S. 47)

Langfristig angelegte Professionalisierung aller quereinsteigenden und fachfremden Lehrkräfte in Mathematik

Angesichts der hohen Anteile an quereinsteigenden und fachfremden Lehrkräften, die in Berlin Mathematik unterrichten wird empfohlen, in der Fachfortbildung auf zentrale Aspekte der Unterrichtsqualität zu fokussieren, also kognitive Aktivierung, Verstehensorientierung und Lernendenunterstützung als Kernprinzipien des Mathematikunterrichts aller Schulformen und Schulstufen zu etablieren[…]. Es sollte ein Zeitpunkt festgelegt werden, ab welchem Jahr kein Mathematikunterricht mehr erteilt werden darf, ohne vorher mindestens 300 Stunden mathematikdidaktischer Professionalisierung (inklusive Ausbildung) absolviert zu haben. […] Die Qualifizierung sollte forschungsbasiert erfolgen, nach Möglichkeit in Zusammenarbeit des neuen Berliner Landesinstituts mit der mathematikdidaktischen Fortbildungsforschung an den Universitäten. (S. 49)

Handlungsfeld 3: Entwicklung und Sicherung der Qualität des Unterrichts Konzept und Effekte schulischer Qualitätsentwicklung

Konzept und Effekte schulischer Qualitätsentwicklung

Obwohl Befunde internationaler Studien häufig nicht direkt auf die deutsche Situation übertragbar sind, lassen sich daraus doch wertvolle Hinweise für die Ausgestaltung der Qualitätssicherung und -entwicklung in den deutschen Ländern ableiten. (Hattie, 2009) [Diese] bestätigen grundsätzlich, dass die Ausweitung von Entscheidungsspielräumen der Schulen, gekoppelt mit einer Rechenschaftslegung, zur Verbesserung schulischer Leistungen von Schülerinnen und Schülern beiträgt. Eine besondere Bedeutung für die Lernergebnisse haben eine kontinuierliche professionelle Entwicklung des Unterrichts im Kollegium und eine Schulleitung, die eine unterrichtsbezogene (instruktionale) Führung praktiziert [Prinzip: Führung durch Vorgaben, störungsfreies Lernklima, System klarer Regeln, Entwicklung positiver Lernkultur]. Eine wesentliche Voraussetzung für einen Durchschlag der Steuerungsbemühungen auf die Lernleistungen ist die konsequente Ausrichtung der Instrumente und Maßnahmen auf die Gestaltung des Unterrichts im Sinne einer Schaffung optimaler Opportunities to Learn (Lerngelegenheiten) für alle Schülerinnen und Schüler (Hattie, 2009; Kyriakides & Creemers, 2012). (S. 54)

Maßgeblich sind dabei nicht die Oberflächenstrukturen von Unterricht, z.B. die Frage, ob Stationenlernen oder Klassengespräche den Unterricht bestimmen, sondern die sogenannten Tiefenstrukturen. Mit Tiefenstrukturen sind unmittelbar lernrelevante Merkmale von Unterricht gemeint, die auf ein anspruchsvolles fachliches Lernen, auf eine nachhaltige Motivierung sowie auf die Maximierung der aktiven Lernzeit zielen. Kognitive Aktivierung, Lernunterstützung/Motivierung sowie Klassenführung werden demnach als die drei zentralen Basisdimensionen des Unterrichts bezeichnet. Die Fachdidaktiken differenzieren diese Kriterien fachspezifisch aus. (S. 55)

Auf die „zentralen Basisdimensionen des Unterrichts“ wird von der Expertenkommission zwar hingewiesen, aber nicht weiter inhaltlich ausgeführt.

Gute Klassenführung beinhaltet, klare Regeln für erwünschtes Verhalten von Schüler*innen einzuführen, insbesondere für deren aktive Beteiligung und Aufmerksamkeit, dieses Verhalten durch eine gute Organisation der Lernaktivitäten, durch Routinen und Rituale zu stützen sowie Störungen rechtzeitig zu erkennen und präventiv zu vermeiden. Dadurch wird Unterrichtszeit tatsächlich zu Lehr- und Lernzeit, so dass den Schüler*innen mehr Lerngelegenheiten eröffnet werden bzw. sie diese intensiver nutzen können. Aktive Lernzeit ist einer der stärksten Prädiktoren für Lernzuwächse.

Konstruktive Unterstützung umschließt zum einen sozioemotionale Aspekte wie eine positive Beziehung zwischen Schüler*innen und ihren Lehrkräften sowie einen wertschätzenden Umgang der Schüler*innen und Lehrkräfte miteinander. Damit sollen vor allem die psychosoziale Entwicklung und motivationale Merkmale wie das Interesse gefördert werden.

Die kognitive Aktivierung der Schüler*innen ist als hoch einzuschätzen, wenn der Unterricht auf Verstehen und schlussfolgerndes Denken ausgerichtet ist, wenn die Lernenden mit herausfordernden Inhalten konfrontiert werden, zugleich aber an ihr Vorwissen und ihre Erfahrungswelt angeknüpft wird. Anspruchsvolle Aufgaben und diskursive Auseinandersetzungen können beispielsweise kognitive Konflikte auslösen, die zu einer tiefen kognitiven Verarbeitung, zur Re-Organisation und Erweiterung des Wissens führen. Ein kognitiv aktivierender Mathematikunterricht sollte mathematische Konzepte gut strukturiert und mit geeigneten Repräsentationsformaten einführen, sie systematisch verknüpfen, in verschiedenen Kontexten anwenden und üben und dabei unterschiedliche Lösungswege zulassen. [3]

[Die] Kriterien der Unterrichtsqualität, wie in vielen anderen Bundesländern auch, [entsprechen] nur teilweise den Befunden der Unterrichtsforschung. So fehlt die explizite Bezugnahme auf die Basisdimensionen der Unterrichtsqualität […]. (S.56)

Empfehlungen zur Qualitätsentwicklung des Unterrichts

[A]us den Befunden des IQB Bildungstrends 2018 zu Tiefenstrukturen des Unterrichts lässt sich ein erheblicher Handlungsbedarf hinsichtlich der Qualitätsentwicklung von Unterricht ableiten. Laut Bildungstrend 2018 ist in keinem anderen Land das wahrgenommene Ausmaß an Unterrichtsstörungen höher als im Land Berlin. Fehlerkultur, kognitive Aktivierung und Strukturiertheit des Unterrichts werden von den befragten Schülerinnen und Schülern in Berlin negativer beurteilt als in den meisten anderen Ländern. Auch für die fachdidaktisch relevanten Tiefenstrukturen können angesichts der Kompetenzverteilung ähnliche Handlungsbedarfe für die Unterrichtsqualität vermutet werden. […] (S. 64)

[S]chulpolitische Maßnahmen [bleiben] wirkungslos, wenn Prinzipien der forschungsbasierten Entwicklung von Konzepten, der Fokussierung von Ressourcen auf die fachdidaktische Qualität des Unterrichts, des Alignments [Ausrichtung] von Programmen, der Abstimmung an Schnittstellen und der kontinuierlichen Evaluation und Qualitätssicherung keine hinreichende Beachtung finden. […] Eines dieser Leitprinzipien, auf das sich alle Akteure verständigen müssen, ist die Fokussierung auf Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler und eine daran orientierte Abstimmung der Instrumente. (S. 65)

[A]us Sicht der Kommission [ist es] unverzichtbar, dass die Evaluation der Leistungsfähigkeit größerer Einrichtungen (z.B. LISUM, ProSchul, Schulinspektion) oder Maßnahmen (z.B. Quereinstieg) nicht (allein) in den Händen der Verantwortlichen liegt, sondern unabhängig geschieht. Im Zentrum der Beurteilung sollten die Lernerträge der Schülerinnen und Schüler bzw. die Qualität des Lernangebots stehen. (S. 67)

Links

[1] Empfehlungen zur Steigerung der Qualität von Bildung und Unterricht in Berlin – Abschlussbericht der Expertenkommission  https://www.ipn.uni-kiel.de/en/the-ipn/news/Abschlussbericht.6.10.final.pdf. Literaturangaben im Text sind im Abschlussbericht aufgelistet.
[2] Schulforum-Berlin:  https://schulforum-berlin.de/impressum/
[3] Eine ausführliche Darstellung unter: „Mathematikunterricht im internationalen Vergleich. Ergebnisse aus der TALIS-Videostudie Deutschland (2020).“ Siehe auch: Vortrag von Prof. Dr. Olaf Köller, IPN Kiel, SINUS Frühjahrestagung, Kiel, 16. März 2012

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Lesen sie auch:

Position zur Berliner Schulpolitik

Es muss etwas geschehen …

Tagesspiegel, 09.09.2019, von Martin Dorr, Dr. Thomas Gey, Dr. Eva-Maria Kabisch, Annaliese Kirchberg, Christine Sauerbaum-Thieme, Thomas Thieme, Brigitte Thies-Böttcher, Rolf Völzke, Rainer Werner

Zur offensichtlichen Schulmisere in Berlin ist in diesen Tagen und Wochen bereits viel Richtiges gesagt und öffentlich diskutiert worden. Da wollen auch wir als Experten aus der Praxis nicht schweigen. […] Uns eint – trotz unterschiedlicher Positionen im Einzelnen – die Sorge, ja Fassungslosigkeit über den desaströsen Zustand der Berliner Schule und damit über das Versagen der Bildungspolitik über Jahre hinweg mit vorhersehbaren fatalen Ergebnissen. Die lange Liste der Versäumnisse, der falschen Entscheidungen und aktionistischen Ablenkungsmanöver hat jetzt ein Ausmaß erreicht, das wir als erfahrene Schulexperten, die seit langem vielfach auf die sich abzeichnenden Probleme hingewiesen haben, einfach nicht mehr hinnehmen können. Wir haben unsere Verantwortung nicht mit dem Ruhestand oder an der Schultür abgegeben – sie bleibt. […] Im Fokus müssen wieder die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte stehen, nicht zuerst ein ideologisch fixierter Glaube an bestimmte pädagogische Rezepte, die Befriedigung von Interessenvertretungen, die Sorge um den politischen Machterhalt oder gar um den eigenen Posten.

Lesen sie weiter: Position zur Berliner Schulpolitik – Es muss etwas geschehen….

„Schulische Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen“

„Franz, du schaffst das!“

Entscheidend für den Bildungserfolg sind glaubwürdige Lehrerinnen und Lehrer, die fördern, fordern und ermutigen. Das geht im Reform-Aktivismus unter.

Von Carl Bossard

Prof. Dr. Carl Bossard war Direktor der Kantonschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug.

„Franz, du schaffst das!“ Mit dieser Erwartungshaltung hätten ihn die Lehrer gestärkt. So erinnert sich der Unternehmer Franz Käppeli an seine Schulzeit. (1) Der Gründer der Labor medica AG wird in eine arme Bauernfamilie geboren. Als elftes von zwölf Kindern wächst er in Muri im Freiamt auf. Sein Studium an der ETH Zürich berappt er selber. Der promovierte Biochemiker Käppeli baut eines der führenden medizinischen Laboratorien der Schweiz auf, verdient ein Vermögen und stiftet gegen 15 Millionen Franken als Beitrag an die Renovation des Klosters Muri – dies mit der einzigen Begründung, seine Lehrer hätten ihm viel zugetraut und ihn ermutigt.

Tiefenwirkung statt Oberflächen-Reformen

Lehren ist wirken. „Teacher, know thy impact!“ – „Wisse, was du bewirken kannst!“ Auf diese einprägsame Kurzformel bringt der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie die Kernbotschaft seiner grossen empirischen Unterrichtsstudie: Entscheidend für den Bildungserfolg ist, dass die Lehrenden die eigene pädagogische Wirkungsweise kennen und sie immer wieder kritisch hinterfragen. (2)

Beim Bauernbuben Franz Käppeli wirkten die Lehrerinnen und Lehrer. Sie bewirkten viel und sie wirkten nachhaltig oder eben „tief“. Nicht umsonst unterscheidet die Wirksamkeitsforschung zwischen den „tiefen Strukturen“ des Unterrichts und Oberflächenmerkmalen. So wirken die Glaubwürdigkeit der Lehrperson und ein dem Lernen förderliches Klima beispielsweise viel stärker als webbasiertes Lernen oder die vielgelobte Freiarbeit. Letztere erweist sich als erschreckend ineffektiv.

Wer die Reformkaskade der letzten Jahre und Jahrzehnte überblickt, erkennt viel Oberflächliches: klassenübergreifendes, altersdurchmischtes Lernen, Lernumgebungen mit Stationenlernen, weiter die dominante Methode des selbstgesteuerten oder selbstorientierten Lernens und das forcierte Arbeiten in Gruppen und Projekten. 

Vieles wurde in schnellem Takt reformiert: einheitliche Schulstrukturen, nationale Bildungsziele, Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, [kompetenzorientierte Lehrpläne] und kompetenzorientierter Unterricht, dazu neue Fächerkombinationen und zwei Fremdsprachen in der Primarschule. Doch viel scheint nicht genug zu sein. Vielmehr geht es zügig weiter. Im Moment priorisiert die Politik vor allem zwei Bereiche: Digitalisierung und Ökonomisierung der Bildung. 

Bildungsvollzugsbeamte

Im PISA-Zeitalter regiert die Logik der Ökonomie. Sie bringt auch den Wechsel von der Input- zur Output-Steuerung. Kompetenzstandards normieren die Ziele von Lern- und Ausbildungswegen. Die erwarteten und als relevant bezifferten Bildungseffekte werden in ein testfähiges Format transformiert. Mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung sind sie erfassbar und kontrollierbar. So wird Bildung geplant und gesteuert, limitiert und formatiert. Ankreuztests und andere Messmethoden prüfen die Erreichung der geplanten Effekte. 

Wichtig aber wäre die Frage: Suchen wir tatsächlich in der Bildung primär nach Messbarem? Wenn ja, wäre es sinnvoll, dies dann in bestimmten Wertungen und Rankings abzubilden. Oder sollten wir nicht vielmehr zuerst fragen, was uns wertvoll und wichtig ist und dann erst messen? Diese entscheidende Frage wird nicht gestellt. Dafür wird umso intensiver getestet und gemessen.

Noch nie war im Schweizer Bildungswesen so viel von Kontrolle und Rechenschaft die Rede wie heute. In diesen Zusammenhang gehört auch das sogenannte Bildungsmonitoring, das permanente Untersuchen, Überprüfen und Überwachen. Darum werden bereits fünfjährige Kindergartenkinder auf Buchstaben getestet und auf Zahlenkenntnisse überprüft. Die Ergebnisse stehen feinsäuberlich auf einem kleingerasterten Blatt. Es umfasst sage und schreibe 40 Punkte. Die Kindergärtnerin muss sie mit den Eltern im Detail besprechen, orientiert am Output, fixiert auf das Ziel des Lernweges. Bildungsprozesse werden bürokratisch überwacht. Lehrerinnen und Lehrer mutieren so zu Bildungsvollzugsbeamten und Kinder zu Vollzogenen, wie es der sensible Dichter Peter Bichsel wahrnimmt. (3)

Reformen ohne Wirkung 

All diesen pädagogischen Reformen gemeinsam ist das Versprechen, dass es besser wird als bis anhin – irgendwann und irgendwie und natürlich zum Wohl der Kinder und Jugendlichen. Doch was von diesen Reformen wirkt wirklich? Man weiss es schlicht nicht. Eine Wirkung sei empirisch nicht nachzuweisen, gesteht der Bildungsökonom Stefan C. Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, freimütig. (4) Ob die Reformkaskade wissenschaftlich zu rechtfertigen ist? Danach fragt niemand. 

Doch warum konzentriert sich die offizielle Bildungspolitik primär auf Strukturen und Oberflächenphänomene? Warum ist kaum von den Tiefenmerkmalen der Bildungsprozesse die Rede und warum so wenig vom pädagogischen Wirken der Lehrerinnen und Lehrer, von der Interaktion zwischen ihnen und den Schülern? In genau diesen Bereichen liegt ja der Schlüssel zur Schulqualität. 

Effektives Lernen ist das Resultat identifizierbarer Lehraktivitäten, allgemeiner gesagt: erfolgreichen Lehrens (5) und engagierten Unterrichtens. Erfolge stellen sich dort ein, wo Lehrpersonen vital präsent und mit humaner Energie am Weiterkommen ihrer Schüler interessiert sind. Das lässt sich auch datenbasiert belegen. Alle Einflussgrössen, in denen sich die personale Dimension des Unterrichts widerspiegelt – etwa das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische, das kognitiv Anregende – erzielen hohe Wirkwerte auf die Lernleistung der Kinder und Jugendlichen.

Bildung lebt von Interaktion

Die Basisdimensionen von Unterrichtsqualität liegen darum in den Tiefenstrukturen: Wie gut gelingt es der Lehrerin, den Unterricht störungsfrei und strukturiert zu steuern? Wie weit gelingt es dem Lehrer, dass sich alle Schülerinnen und Schüler aktiv mit den Lerninhalten auseinandersetzen, intensiv üben und die Lernzeit effektiv nutzen? Und auf welche Weise helfen Lehrerinnen und Lehrer ihren Kindern, wenn Verständnisprobleme auftreten? Wie konstruktiv geben sie Feedback und wie sehr ist das Zwischenmenschliche von Respekt und Wertschätzung geprägt? 

Der Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode allein und auch nie das Medium allein. Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen; in diesem Dazwischen entsteht Wirkung. Und dazu zählt auch der heitere Zwischenruf, zählt die verstehende Zuwendung, zählen Anerkennung und Anregung, aber auch Widerstand und Widerrede.

„Franz, du schaffst das!“: Für Franz Käppelis Lernweg waren die Lehrer der zentrale Faktor – nicht Strukturen und nicht Oberflächenmerkmale. Der erfolgreiche Unternehmer hatte Pädagogen, die an ihn glaubten und ihn ermutigten.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin. Der Beitrag erschien zuerst auf der Website des „journal21„.

(1) Erich Aschwanden (2013), Das Millionen-Geschenk ohne Hintergedanken, in: NZZ, 13.07.2013
(2) John Hattie (2012), Visible Learning for Teachers. London, New York: Routledge, S. IX
(3) Peter Bichsel (2015), Kinderarbeit im Bildungsvollzug, in: Ders., Über das Wetter reden. Kolumnen 2012–2015. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33f
(4) Martin Beglinger, „Das ist vernichtend“, in: NZZ, 31.08.2018, S.53
(5) Helmut Heid (2007), Was vermag die Standardisierung wünschenswerter Lernoutputs zur Qualitätsverbesserung des Bildungswesens beizutragen?, in: Dietrich Benner (Hrsg.), Bildungsstandards. Kontroversen – Beispiele – Perspektiven. Paderborn: Verlag Schöningh, S. 37

Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien – Verschleierung und Verwirrung als „roter Faden“.

Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden.
Holmes, W., Anastopoulou S., Schaumburg, H. & Mavrikis, M. (2018).
Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.


Besprechung des Forschungsberichts von Manfred Fischer für Schulforum-Berlin. [1]

Richtungshinweise des Auftraggebers oder: Wo soll es hingehen?

Die stellvertretende Vorsitzende der Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung GmbH, Uta-Micaela Dürig schreibt im Vorwort des Reports:
„Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien ist in Deutschland noch wenig verbreitet. Wir [die Robert Bosch Stiftung] haben daher die Autorinnen und Autoren des Reports beauftragt, aktuelle internationale Erkenntnisse zu diesem Thema zusammenzustellen. Der vorliegende Report zeigt auf, dass digitale Medien ein großes Potenzial bergen, personalisiertes Lernen effektiv umzusetzen.“ (S. 4f)

Schon sehr bald formulieren die Autorinnen und Autoren einen Gegensatz zum Vorwort:
„Ein belastbarer Nachweis ihrer Wirksamkeit [der personalisierten digitalen Lernwerkzeuge] in der Breite steht noch aus. Daher ist es schlichtweg unmöglich zu prognostizieren, welches Lernwerkzeug in der Praxis am besten funktionieren wird.“ (S. 12)

Diese Erkenntnis hindert die Bildungsexperten jedoch nicht, gleich darauf im Sinne der Robert Bosch Stiftung zu konstatieren:
„Wie unser Bericht zeigt, ist personalisiertes Lernen mit digitalen Medien zweifellos ein vielversprechender Ansatz, den zu verfolgen sich lohnen dürfte. Auch gibt es mittlerweile eine Reihe außergewöhnlicher digitaler Lernwerkzeuge“, um im nächsten Satz einzuschränken: „Die Befunde verdeutlichen jedoch ebenso, dass personalisiertes Lernen mit digitalen Medien kein Wundermittel darstellt.“ (S. 12, Hervorhebung im Fettdruck durch die Autoren)

Derart widersprüchliche Aussagen finden sich im gesamten Forschungsbericht und werden auf der letzten Seite als „abschließende Bemerkung“ wiederholt.
Von den erwähnten „außergewöhnlichen digitalen Werkzeugen“ haben die Bildungsforscher 18 ausgesucht und vorgestellt. Sie halten vorab zur Wirkung der untersuchten digitalen Lernwerkzeuge folgendes fest:

„Effektstärken ermöglichen es, von der allzu einfachen Frage „Hat es funktioniert?“ zu der viel wichtigeren Frage „Wie gut hat es funktioniert?“ zu gelangen. Je größer die Effektstärke, desto größer die Wirkung auf die Teilnehmer*innen. Dabei gelten Effekte über 0,4 in Bildungsstudien als Hinweis auf für die Praxis bedeutsame Effekte. […] Brauchbare und glaubwürdige Effektstärken lassen sich am zuverlässigsten aus hohen Zahlen von Personen ableiten, die an sogenannten randomisierten kontrollierten Studien (im Englischen: randomised controlled trials, RCTs) teilneh­men.“ (S. 58f)

An dieser Stelle verweisen die Autorinnen und Autoren auf den Bildungsforscher und Erziehungswissenschaftler John Hattie. Dieser führt dazu in „Lernen sichtbarmachen für Lehrpersonen“ aus:
Damit eine bestimmte Intervention als erstrebenswert angesehen wird, muss sie eine Verbesserung des Lernens der Schülerinnen und Schüler um mindestens den Durchschnittszuwachs aufweisen – d. h., eine Effektstärke von mindestens d = 0,40. Der Wert von d = 0,40 ist das, was ich in `Lernen sichtbar machen´ als den `Umschlagpunkt´ zur Identifizierung dessen, was effektiv ist und was nicht, bezeichnet habe“. [2]

Bei 12 der 18 von den Autorinnen und Autoren vorgestellten digitalen Lernwerkzeugen gibt es laut der Tabellen (S. 65 – 82) keine Wirksamkeitsstudie („Wirkung unbekannt“), bei 8 der aufgeführten digitalen Lernwerkzeuge gibt es keine empirischen Befunde („Empirische Fundierung unbekannt“). Es gibt somit keine randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) über die Lernwirksamkeit der ausgewählten Programme. Deshalb geben die Autoren ehrlicherweise zu, dass sie die ausgewählten Lernwerkzeuge nur „beschreiben“ und „einige Empfehlungen“ aussprechen könnten. Ihr Ziel sei es, „die Entscheidungsfindung zu unterstützen.“

Übersicht über die Wirksamkeit (Effektstärke) sowie der Belastbarkeit (Vertrauenswürdigkeit) der empirischen Befunde der 18 beschriebenen digitalen Lernwerkzeuge [3]:

Tabelle erstellt durch Schulforum-Berlin

Die Tabelle zeigt, dass es sich nur bei einem einzigen der ausgesuchten Programme um ein über den „Umschlagpunkt“ effektives digitales Lernwerkzeug handelt (conText). Auch waren hier die empirischen Befunde mit einem weiteren Programm (ASSISTments) vertrauenswürdig über RCT.

Zur Verdeutlichung der Vorgehensweise der Autorinnen und Autoren sind nachfolgend Auszüge einiger Programmbeschreibungen und Empfehlungen aufgelistet. [4]

Accelerated Reader ist ein Lernwerkzeug zur Unterstützung des Leseunterrichts. Es zeichnet die Lernfortschritte der Schüler*-innen auf und bewertet sie. Außerdem bietet es den Lernenden praktische Übungen an. […] Der Accelerated-Reader-Ansatz ist zweifellos vielversprechend, obwohl die Aussagekraft der ermittelten Effektstärke durch zwei Faktoren abgeschwächt wird: Zum einen wurde der Beurteilungstest vom selben Unternehmen entwickelt. Zum anderen wurde er so gestaltet, dass er dieselben Ziele wie die Software (anstatt der Ziele des Lehrplans) als Bewertungsmaßstab verwendet. Die Effektstärke belief sich auf beachtliche 0,38. Accelerated Reader ist nicht in Deutsch erhältlich. (S. 65)

Es stellt sich die folgende Frage: Welche Aussagekraft hat eine Wirksamkeitsstudie, die erstens vom Hersteller entwickelt und durchgeführt wurde und zweitens dieselben Ziele wie die Software (anstatt der Ziele des Lehrplans) als Bewertungsmaßstab verwendet? Der Ansatz des Programms, welcher die Ziele des staatlichen Lehrplans missachtet, wird als „vielversprechend“ bewertet, und die vom Unternehmen selbst publizierte Effektstärke von d = 0,38 wird von den Autoren auch noch als „beachtlich“ herausgestellt!

Mit Google Classroom unternimmt Google einen großen Schritt, um sich im Bildungswesen zu etablieren. Die Instrumente von Classroom ermöglichen es Lehrkräften, Unterrichtseinheiten zu konzipieren, individuelle Aufgaben zu verteilen und Rückmel­dungen zu erteilen. Die hervorstechende Eigenschaft von Google Classroom besteht jedoch darin, dass die Software darauf ausgerichtet ist, sich mit einer großen Auswahl an externen Lernwerk­zeugen zu verbinden; ihr Ansatz zielt also auf eine Verknüpfung von Apps ab. […] Problematisch ist auch die ungeklärte Frage, wer Zugang zu den Daten der Lernenden erhält. Da keine Wirksamkeitsstudien vorliegen, lässt sich in jedem Fall derzeit keine Empfehlung hinsichtlich der Frage aussprechen, ob Lehrende Google Classroom ausprobieren sollten oder nicht. (S. 74)

Die vom pädagogischen Standpunkt aus ungeklärten Fragen lassen die Autorinnen und Autoren außer Acht. Sie schreiben:Wir haben das Programm in diesen Bericht aufgenommen, da es … von dem Internetriesen Google entwickelt wurde, und wie die Erfahrung zeigt, verbreiten sich Produkte aus dem Hause Google normalerweise schnell!“

Eine vergleichbare Aussage macht die Forschergruppe auch beim nächsten Programm.

Bei „ALTSchool“ war die Begründung für die Begutachtung: „weil sein bahnbrechender, auf Big Data gründender Ansatz künftig wohl vermehrt anzutreffen sein wird.“

Bei der ALTSchool-Open-Plattform „lässt sich nicht überprüfen, wie die Algorithmen der künstlichen Intelligenz die Playlists der Schüler*innen erstellen und steuern. Ebenso bleibt offen, wie genau die Playlists die Entscheidungen und den Lernfortschritt der Lernenden unterstützen. Die Verwendung wandmontierter Kameras zur Aufzeichnung sämtlicher Aktivitäten im Klassenzimmer wirft zudem datenschutzrechtliche und ethische Fragen auf. Beispielsweise steht die Frage im Raum, inwieweit eine solche digitale Überwachung soziale Ungleichheiten verstärken könnte. (S. 66)

Es ist nicht anzunehmen, dass die Autorinnen und Autoren oder die konzernnahe Robert Bosch Stiftung bei diesem bahnbrechenden Ansatz sowie einem vermehrten Einsatz dieser Programme, geschweige denn bei der Speicherung einer Unmenge von unkontrollierbaren Schülerdaten auf die Barrikaden gehen werden. Big Brother is watching you!

Entscheidend bei der Auswahl von Lernmitteln muss doch sein, was die Wissenschaft als essenziell für das Lernen erforscht hat, wie auf dieser Grundlage Schule und Unterricht zu gestalten sind und wofür der Begriff Bildung in unserer Gesellschaft steht. Ziel darf nicht sein, was ein Internetriese oder Medienkonzern als sein gewinnbringendes „Bildungskonzept“ an unseren Schulen umsetzen möchte – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche Diskussion! [5]

Smart Learning Partner entstand als Gemeinschaftsprojekt des Advanced Innovation Center for Future Education der Pädagogischen Universität Peking und des Tongzhou-Bezirks der Stadt Peking. Das Programm ist eine umfangreiche digitale Innovation mit zwei Hauptbestandteilen. Zum einen handelt es sich um ein intelligentes Lernmanagementsystem. Dieses umfasst eine Sammlung von Onlinevideos, die sämtliche Unterrichtsfächer und Jahrgangsstufen abdecken. Hinzu kommt eine Auswahl von Werkzeugen künstlicher Intelligenz, die die Lerninhalte den Lernfortschritten der Schüler*innen im Zuge der Nutzung des Programms anpassen. Zum anderen – und auf diesen Aspekt konzentrieren wir uns hier – ist es eine mobile Plattform, die es den Lernenden ermöglicht, sich über ihr Handy mit einem von Tausenden von Tutor*innen zu verbinden. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen Lernnetzwerk-Orchestrator. Das Programm funktioniert im Grunde ähnlich wie eine Dating-App (allerdings zwischen Lernenden und Tutoren). Die Schüler*innen können mithilfe der App zu jeder Tages- und Nachtzeit nach einem Tutor oder einer Tutorin suchen, um gezielte Fragen zu einem Lernthema zu stellen, für das sie Hilfe benötigen. Alle Tutor*innen wurden von anderen Schüler*innen bewertet. Nachdem die Lernenden einen Tutor oder eine Tutorin ausgewählt haben, erhalten sie einen 20-minütigen Online-Einzelunterricht (als Videokonferenz), um das Problem gemeinsam zu lösen. Smart Learning Partner wird vollständig vom Pekinger Tongzhou-Bezirk finanziert. Alle Tutor*innen erhalten ein Honorar, während das Angebot für die Lernenden kostenlos ist. (S. 78)

Schlussfolgerung der Autorinnen und Autoren nach ihrer Begutachtung des Programms: „Bislang liegen für den Smart Learning Partner noch keine RCT-Befunde vor. [D. h. es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien über die Lernwirksamkeit der ausgewählten Programme]. Dennoch haben wir das Programm in diesen Bericht aufgenommen, da es auf innovative Weise zeigt, wie man es Schüler*innen ermöglichen kann, ihren Lernprozess vollständig in die eigene Hand zu nehmen. […] Leider ist Smart Learning Partner nur in Peking und nur auf Chinesisch verfügbar, doch die Politik sollte diesen innovativen Ansatz sorgfältig prüfen.“

Die abschließende Empfehlung verschleiert, dass die Autorinnen und Autoren „Chinesische Verhältnisse“ und „künstliche Intelligenz“ im Klassenzimmer für erstrebenswert halten! Es ist offensichtlich, dass „Big Brother is teaching you“ von der Forschergruppe als mögliche „Lehr- und Lernform“ herangezogen wird. Die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, die Vereinzelung beim Lernen, der Verlust von Sozialkompetenzen wird kommentarlos hingenommen. Das Vorgehen wird zu einem „innovativen Ansatz“ hochstilisiert!

Am Ende des Forschungsberichts kommen die Autorinnen und Autoren wieder auf die Intentionen der Robert Bosch Stiftung im Vorwort zurück. Sie fassen zusammen:

„Eine abschließende Bemerkung sei erlaubt: Die hier vorgestellten empirischen Befunde zeigen, dass personalisiertes Lernen mit digitalen Medien zweifellos ein lohnendes und vielversprechendes Unterfangen [Experiment/Unternehmen] ist. Auch sind einige außergewöhnliche digitale Lernwerkzeuge entwickelt worden. […] Um die nötigen Reformen durchzuführen, sind Zeit und Mühe erforderlich, außerdem Ressourcen und ein Kulturwandel. Nur so lassen sich die vielfältigen Versprechungen personalisierten Lernens mit digitalen Medien nach bestem Wissen und Gewissen einlösen. (S. 99)

Verwirrend und verschleiernd schreiben sie im nächsten Satz und ignorieren dabei ihre eigenen vorherigen Feststellungen: „Wir schließen mit der einfachen Empfehlung, sich nicht von spannenden Technologien verführen zu lassen, insbesondere wenn deren Wirksamkeit kaum belegt ist, und stets das Lernen in den Mittelpunkt zu stellen.“ (S. 99)

Marc Mattiesson, Lehrer am Städtischen Gymnasium Wermelskirchen, nimmt Stellung zu diesem manipulativen Vorgehen: Wir Lehrerinnen und Lehrer sind aufgerufen die „neoliberalen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen unserer Arbeit mitzudenken. Nur so können wir verhindern, dass unser soziales Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler instrumentalisiert wird. Voraussetzung dafür bleibt, dass wir insbesondere in Krisenzeiten wohlklingende Begriffe, forcierte Entwicklungen und uns als alternativlos präsentierte einfache Lösungen kritisch in den Blick nehmen. Sozialer Spaltung im Bildungssystem werden wir erst wieder etwas entgegenzusetzen haben, wenn Etikettenschwindel nicht mehr Schule machen kann.“ [6]

Und der Schulleiter Michael Lummel des Friedrich-Dessauer Gymnasiums in Aschaffenburg äußert sich passend zu den „nötigen Reformen“: „Wenn ich eine Reform angehe, dann brauche ich Hinweise, dass die wirklich etwas bringt. Sonst lasse ich’s.“ [7]

Fazit: Der Einsatz von Medien im Unterricht – unabhängig ob analog oder digital – unterliegt dem didaktischen und pädagogischen Urteil der Lehrkräfte sowie ihrer fachlichen Kompetenz und braucht dazu nicht die Lobbyarbeit von IT- oder Medienkonzernen oder „Unterstützung“ durch die Robert Bosch Stiftung. Beides dient der Verschleierung ganz anderer, z.B. ideologischer oder ökonomischer Interessen und schafft bewusst Verwirrung. [8]

Beitrag als PDF-Datei


[1] www.Schulforum-Berlin.de
[2] Hattie, John, (2014): Lernen sichtbarmachen für Lehrpersonen, 1. Kapitel, S. 3.
[3] Kriterien in der Tabelle festgelegt durch die Autoren des Reports
[4] kursive Schrift entspricht dem Original aus dem Forschungsbericht
[5] Wiederholend und in aggressiver Form versuchen dies auch Vertreter der Bertelsmann-Stiftung für den weltweit agierenden Bertelsmann Konzern. So fordert Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung eine „Pädagogische Revolution“ um die digitalen Medien in den Schulen unterzubringen. Die „Bildungskonzepte“ wiederholen sich. Bildung ist ihr Geschäft!
[6] Streitschrift veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW), Marc Mattiesson: „Die Geister die wir rufen…“ – Bildungspolitik und soziale Spaltung
[7] Andrej Priboschek, Deutscher Schulleiter Kongress 2019: „Was kommt heraus, wenn eine Schule sich strikt nach Hattie und Co. ausrichtet? Ein bemerkenswert traditionell arbeitendes Kollegium“. (Lummel war bis 2019 Schulleiter in Aschaffenburg.)
[8] Siehe Kommentar zum Forschungsbericht „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden“ in der FAZ vom 30.08.2018, Dr. Hannah Bethke, Berlin, „Digital unterstütztes Lernen:  Hundertzwanzig Seiten Verblödungslektüre.“

Was im Unterricht wirkt

Der stiere Blick auf die Schülerorientierung hat in Berlin zu einem Methoden-Fetischismus geführt

von Rainer Werner

Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Oktober 2020

In der Medizin werden nur solche Medikamente und Heilmethoden eingesetzt, die ihre Wirksamkeit erwiesen haben. Auf Placebo-Effekte möchte man lieber nicht vertrauen. In der Pädagogik ist es anders. Dort wird auch gerne das praktiziert, was man für wünschenswert hält, weil man glaubt, damit seine gesellschaftspolitischen Ambitionen befördern zu können. Der Bildungsforscher John Hattie hat in  seiner Studie „Lernen sichtbar machen“ (2009) nachdrücklich gefordert, sich an der Wirksamkeit pädagogischer Instrumente zu orientieren: „Der einzig sinnvolle Ansatz für die Auswahl der Unterrichtsmethode ist  ihre Wirkung auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler.“ In allzu vielen Klassenzimmern ist diese Mahnung ungehört verhallt, wie man an den schlechten Schülerleistungen in einigen Bundesländern ablesen kann. Um Berlins Schulen aus der Dauermisere herauszuführen, hat eine Expertenkommission unter Leitung des Kieler Bildungsforschers Olaf Köller Vorschläge unterbreitet. Am 07. 10. 2020 wurden sie öffentlich vorgestellt. Die Wissenschaftler sprechen von der „ausbleibenden Wirksamkeit“ der von der Bildungsverwaltung in den letzten Jahren auf den Weg gebrachten Maßnahmen. Im Kapitel „Unterrichtsqualität“ findet sich die wichtigste Einsicht des ganzen Dokuments: Maßgeblich für die Qualität von Unterricht seien nicht die „Oberflächenstrukturen, z.B. die Frage, ob Stationenlernen oder Klassengespräche den Unterricht bestimmen, sondern die sogenannten Tiefenstrukturen.“ Damit ist das gemeint, was Hattie „kognitive Aktivierung“ nennt. Die Schüler werden mit einem Lerngegenstand konfrontiert, den sie unter Anleitung des Lehrers geistig erschließen. Es geht also um intellektuelles Verstehen und um die Speicherung des Gelernten im Gedächtnis. Der Vorrang der Unterrichtsmethode, der „Oberfläche“, lenkt laut Bericht von der entscheidenden Frage ab, die man an  jeden  Unterricht stellen muss: Gelingt es dem Lehrer,  den Stoff so anschaulich und spannend zu vermitteln, dass die Schüler am Ende der Stunde einen messbaren Wissenszuwachs, vielleicht sogar ein kleines Bildungserlebnis erfahren?

Seit Jahren wird in Berlin den Referendaren nahegelegt, „schülerzentrierte Unterrichtsmethoden“ zu bevorzugen. Die Schulinspektion belohnt Schulen mit guten Bewertungen, wenn im Unterricht die Selbstaktivität der Schüler dominiert. Diese seit Jahren praktizierte Weichenstellung für den Unterrichtsprozess lässt die didaktische Erkenntnis außer Acht, dass die Lerngegenstände selbst die angemessene Vermittlungsmethode nahelegen. Wenn ein Deutschlehrer das Gedicht „Abendphantasie“ von Friedrich Hölderlin behandelt, wären schülerzentrierte Lernformen wie Stationenlernen oder individuelles Lernen fehl am Platze. Der komplexe Gehalt des Gedichts und seine formale Gestaltung können nur im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch sinnvoll erschlossen werden. Im zweiten Schritt können die Schüler dann selbst tätig werden, indem sie, z.B. in Partnerarbeit, das vom Dichter verwendete Wortfeld oder die rhetorischen Figuren analysieren. Kein vernünftiger Pädagoge redet heute noch dem monologisierenden Frontalunterricht alter Schule das Wort. Falsch wäre es aber, auch das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch als zu lehrerdominant zu verdammen. Mit dem fragend-entwickelnden Verfahren erzielt man hervorragende Ergebnisse. Es ist vor allem dann unverzichtbar, wenn es gilt, komplexe Sachverhalte und Sinnzusammenhänge zu erarbeiten. Auch bei der Einführung in einen neuen Lerngegenstand ist es sehr effektiv. Wenn in Geschichte die Reformation Martin Luthers behandelt wird, umreißt der Lehrer den historischen Kontext und formuliert die Leitfragen, die es im Unterricht zu beantworten gilt. In der anschließenden Erarbeitungsphase analysieren die Schüler in Partner- oder Gruppenarbeit die historischen Quellen, mit deren Hilfe man die Leitfragen beantworten kann. Die Ergebnissicherung gehört wieder in die Hand des Lehrers. Die Lernformen gehorchen also der Logik des Stundenverlaufs. 

Ich habe in der Ausbildung von Referendaren erlebt, wie sehr sie bestrebt waren, die in  Berlin besonders beliebte didaktische Mode des „methodengeleiteten Unterrichts“ anzuwenden. Um der Erwartungshaltung der Fachseminarleiter gerecht zu werden, wählten sie vor allem die Methoden, die „selbstgesteuertes Lernen“ ermöglichen. Kaum eine Unterrichtsstunde kam ohne Stationenlernen, Fishbowl und Lerntheke aus. „Methodenvielfalt“ im Unterricht ist bis heute ein unhinterfragtes Axiom. Gerade in heterogenen Lerngruppen glaubt man, die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler am besten mit methodischer Vielfalt bewältigen zu können. Anscheinend traut man Schülern mit Migrationsgeschichte nicht zu, dass auch sie vom Lernstoff gefesselt sein können. Meine Beobachtung solcher Stunden hat gezeigt, dass das Bestreben, in einer Stunde mehrere Lernmethoden unterzubringen, häufig dazu führt, dass sich die Methoden von den zu lernenden Inhalten entkoppeln. Der gekonnte Umgang mit den Methoden wird dann unter der Hand zum eigentlichen Ziel des Unterrichts. Viel zielführender wäre es, vom geistigen Anspruch des Lerngegenstands auszugehen. An einer Schule, die die kollegiale Hospitation der Lehrkräfte pflegt, habe ich die Biologiestunde eines älteren Kollegen erlebt. Fachlich hoch qualifiziert erzählte er im Gestus des dozierenden Professors, warum bei den Bonobo-Affen die Weibchen das Sagen haben. Die Schüler hingen an seinen Lippen. Dieser Lehrer konnte durch sein immenses Fachwissen und durch die Begeisterung, die er für „sein“ Fach ausstrahlte, die Schüler mitreißen. Die Kognitionsforschung hat herausgefunden, dass man sich Sachverhalte besonders gut merkt, wenn sie mit einem emotionalen Reiz verbunden sind. Deshalb lieben Schüler einen fesselnden Unterricht, der sie in die aufregende Welt des Wissens mitnimmt. Wenn es den Lehrern gelänge, in ihren Fächern das spannende Potential freizulegen, das in den Lerngegenständen schlummert, wäre für die Unterrichtsqualität mehr gewonnen, als wenn sie im 15-Minutentakt Lernmethode und Medium wechseln.

Laut Expertenkommission weisen Berlins Schulen die meisten Unterrichtsstörungen aller Bundesländer auf. Dieser Befund lässt auf handwerkliche Defizite in der Unterrichtsführung schließen. Eine ruhige Arbeitsatmosphäre ist die Grundvoraussetzung jeden Unterrichts. Mitunter muss man mit einer Lerngruppe die Ruhe im Unterricht wochenlang üben. Vielleicht scheuen manche Lehrer diese anstrengende Tätigkeit und nehmen dafür in Kauf, dass der geistige Prozess des Unterrichts ständig unterbrochen wird.

Nach der Erkenntnis von John Hattie hat der Lehrer den größten Einfluss auf die Lernleistung. Nur wenn er sein Handwerk optimal beherrscht, werden die Schüler erfolgreich lernen. Hattie hat herausgefunden, dass eine „Lehrperson mit großem Effekt“ bei ihren Schülern einen Lernvorsprung von bis zu einem Jahr gegenüber Gleichaltrigen erzielt, die von einem schwächeren Lehrer unterrichtet werden. Deshalb muss Berlin alles tun, um den Unterricht der Lehrer zu verbessern. Die im Rhythmus von drei Jahren vorgeschriebene Interne Evaluation ist dafür ein gutes Instrument. Wenn die Schulleitungen den Unterricht der Lehrer begutachten, sollten sie anders als bei der Schulinspektion üblich die ganze Stunde beobachten. Nur so kann man erkennen, ob es dem Pädagogen gelingt, den Unterricht als geistigen Prozess anzulegen und ihn zu einem lehrreichen Ende zu führen. Die Schulinspektion selbst muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Statt die Anwendung wünschenswerter Unterrichtsmethoden zu kontrollieren, sollte sie künftig die Qualität des Unterrichts überprüfen. Sie kann man daran festmachen, dass die Schüler aus dem geistigen Prozess, den der Lehrer organisiert, einen Mehrwert an Wissen schöpfen. Das alleine zählt.

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Grenzen „digitalen Lernens“

Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache

Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 22.05.2020, von Michael Felten

Michael Felten hat 35 Jahre als Gymnasiallehrer gearbeitet und ist weiterhin in der Lehrerweiterbildung tätig. Soeben erschien von ihm: „Unterricht ist Beziehungssache“ (reclam 2020, siehe auch Bücherliste auf dieser Website).

Auch wenn vieles nicht oder schlecht funktioniert: Durch Corona erleben die Schulen gerade einen Digitalisierungsschub. Was sich dabei bewährt hat und was man zukünftig besser lassen sollte, beschäftigt den Pädagogen Michael Felten. 

Jetzt mussten es aber auch Skeptiker zugeben: Gut, dass es das Digitale gibt – damit ließ sich der Unterrichtsausfall wegen Corona doch prima auffangen. Schüler bekamen weiterhin ihre Aufgaben, oft mit persönlichem Ferncoaching – und die letzten Lehrer entdeckten die Möglichkeiten elektronischer Hilfsmittel.

Zudem gab’s zuhause wenigstens saubere Toiletten mit genug Klopapier, und das häusliche Arbeitszimmer lässt sich nun vollständig bei der Steuer absetzen. Not gebiert bekanntlich auch Rettendes.

IT macht sich das Pädagogische untertan

Aber – Virenwarnung – es könnte sich auch ein Trojaner eingenistet haben. Denn bequem wie der Mensch nun mal ist: Er wird sich ein Stück weit ans Distanzlernen gewöhnen, an Unterricht ohne Blicke, Mimik und Gestik. Deshalb werden sich clevere IT-Firmen, die ihre Plattformen bis zum Sommer erst mal kostenfrei anbieten, über Folgeabos garantiert nicht beklagen müssen.

Und schon bald könnten Kultusminister sich damit brüsten, endlich den Schlüssel zur Lösung des Dauerproblems Lehrermangel gefunden zu haben: einfach weniger Präsenzunterricht in der Schule, mehr digitalisiertes Üben daheim.

Allerdings stößt ja die Formel „Wer heilt, hat recht“ schon beim Arztbesuch an Grenzen. Eine Gesundung kann ganz andere Ursachen haben als das verordnete Medikament, die Heilung hält vielleicht auch nur kurz an – oder wirkt lediglich im Einzelfall. Auch beim homelearning mit Monitor muss deshalb die Frage sein, ob’s überhaupt funktioniert – ob es also zumindest annähernd so gut wirkt wie der bisherige Präsenz- und Dialogunterricht.

Aber vielleicht wollen die Verantwortlichen das gar nicht so genau wissen – zu schön der Anschein für die Behörde, alles im Griff zu haben, zu verlockend die Chance für IT-Business und Big Data, sich im Coronaschock auch das Pädagogische untertan zu machen.

Es fehlt das menschliche Gegenüber

Das Echo der Schüler auf den Fernunterricht ist bekannt: Zuerst fanden sie Freiheit und neue Medien cool, dann wurden die Aufgabenlisten immer langweiliger, letzten Endes gerieten vor allem Schwächere ins Hintertreffen. Beim Distanzlernen mit Apparaten fehlt einfach das menschliche Gegenüber – Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache.

Wie ein Lehrer diesen Schüler anschaut und dann jenen, wie er mit der ganzen Klasse Fragen diskutiert, wie er Schwächere einfühlsam zu weiterem Bemühen ermuntert, wie er von einem Thema begeistert ist – das vermag kein Recherchetool, das ist durch keine Videokonferenz ersetzbar. Deshalb lautet ja das einhellige Urteil der als Ersatzpädagogen missbrauchten Eltern: „Jetzt ahne ich, was Lehrer täglich leisten.“

Überdies weiß die empirische Unterrichtsforschung einiges über die Wirkung von digital gestütztem Lehren und Lernen. Wegen ihrer riesigen Datenbasis besonders beachtenswert: Die XXL-Metastudie „visible learning“ des Neuseeländers John Hattie, 2017 aktualisiert und um die Sparte „technology“ erweitert. Demnach wirkt IT im Bildungsbereich auf die Schülerleistung: höchstens durchschnittlich.

Auch die Rehabilitierung der Lehrperson wird übrigens durch Hatties Befunde gestützt. Alle Einflussgrößen, in denen sich die personale Ebene des Unterrichts widerspiegelt – das Emotionale, das Beziehungsmäßige, das Dialogische -, erzielen überdurchschnittliche Wirkung auf die Lernleistung – etwa geführte Klassendiskussionen (0,82) [d = Effektstärke, d = 0,2 bis 0,4 Schulbesuchseffekt, d > 0,4 erwünschte Effekte], besondere Unterstützung für Lernschwache (0,77), Lehrer-Schüler-Beziehung oder Klassenführung (0,52). Das macht auch verständlich, warum die mancherorts beliebte ‚Freiarbeit‘ sich als so erschütternd ineffektiv erwies. Und warum zu viel und zu frühe Selbststeuerung leider gerade die schwächeren Schüler benachteiligt. In der Debatte über Bildungsgerechtigkeit wird das gerne unterschätzt – komischerweise gerade von vorgeblichen Anwälten der Benachteiligten. Aus: FAZ, 14.05.2020, Michael Felten, „Startbeschleunigung mit Tücken“.

Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung

So bringt es kaum etwas, Klassen nur mit Laptops auszustatten, interaktive Lernvideos hingegen können hilfreich sein. Wenn ein Fach oder eine Altersstufe viel geistige Auseinandersetzung erfordert, fällt der IT-Nutzen gering aus. Bei reinem Training zeigen sich aber auch überdurchschnittliche Effekte. Hattie selbst bilanziert, IT verbessere den Unterricht nur, wenn es sich nicht um Ersatz, sondern Ergänzung des pädagogischen Settings handele – und wenn die Vielfalt der Lernarten und die Häufigkeit von Feedback steige.

Beinahe klingt es dialektisch: Digitales Handwerkszeug muss für Schulen selbstverständlich werden. Gleichzeitig erstrahlt die Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung. Versäumen wir also nicht, nach der Coronakrise zu fragen, was wir von ihren Notlösungen wirklich behalten wollen. Die Antwort sollte datenbasiert sein – und nicht nur das Bauchgefühl widerspiegeln „Hat doch irgendwie ganz gut hingehauen“. Die CEOs im Silicon Valley jedenfalls bevorzugen für ihre Kinder analoges Lernen.

zum Beitrag: Deutschlandfunkkultur.de, https://www.deutschlandfunkkultur.de/grenzen-digitalen-lernens-unterricht-ist-in-hohem-masse.1005.de.html?dram:article_id=477083

Textauswahl in grau unterlegtem Einschub durch Schulforum-Berlin.

Die Glaubwürdigkeit der Lehrperson

„Karl, das kannst du!“

Von Carl Bossard

Erwartung ist ein wirkungsstarkes Wort. Nicht als flinke Phrase formuliert, sondern als echtes Feedback artikuliert und mit Lernhilfen intensiviert. Eine pädagogische Grundhaltung ist die Basis.

Sechste Klasse, strenge Zeit! Der Übertritt steht bevor. Doch die Welt hält noch anderes bereit als nur Unterricht. Da ist beispielsweise das Mädchen in der Parallelklasse. Schule wird zur Nebensache; Kraft und Konzentration kanalisieren sich neu. Ich weiss noch, wie ich in dieser Zeit einen schluderig formulierten Text abgegeben habe. Unser Lehrer hat jeden Aufsatz eigenhändig korrigiert – elf in der fünften, elf in der sechsten Klasse – und ihn mit jedem Einzelnen besprochen. Kurz. Klar. Konzentriert. Ich stand vor ihm am Pult. Hinter seiner Strenge leuchtete etwas. Er zeigte mir die Korrektur und sagte lediglich den einen Satz: „Karl, das kannst du!“ Mehr nicht.

Lehrererwartungen wirken

Die Aussage traf mich; die wenigen Worte wirkten: Der Lehrer traute mir Besseres zu; er erwartete mehr, als ich im Moment lieferte. Unbewusst nahm ich wahr: Er wollte den Brotkorb hoch hängen, damit sich mein geistiger Hals recke. Und er traute es mir zu; er vertraute mir.

Vertrauen ist der Anfang von allem. Auch in der Pädagogik – in diesem subtilen intersubjektiven Geschehen zwischen Lehrpersonen und ihren Kindern und Jugendlichen. Vertrauen, dieses kleine Wort mit neun Buchstaben, ist gebunden an Glaubwürdigkeit. Es bedarf kaum vieler empirischer Daten, um zu erkennen, welchen Einfluss das Vertrauen und die damit verknüpfte Glaubwürdigkeit im menschlichen Miteinander haben.

Glaubwürdigkeit als Kern einer intakten Lehrer-Schüler-Beziehung

Ohne Glaubwürdigkeit sind Kooperation und Kommunikation nur erschwert möglich. Das haben viele schon erfahren. Darum überrascht es nicht, dass John Hatties wegweisende Studie dem Faktor „Glaubwürdigkeit“ der Lehrperson eine der höchsten Effektstärken zuordnet. [1] Ihre Glaubwürdigkeit beeinflusst den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler positiv. Viele Daten zeigen es.

Glaubwürdigkeit basiert auf ehrlichem, intensivem Feedback und klarer, konkreter Sprache. Beiden Aspekten kommt – nicht überraschend – ebenfalls ein großer Wirkwert zu. Klarheit braucht pädagogischen Mut. Fehler beschönigen oder sie gar verschweigen versperrt Lernwege und schwächt das Vertrauen. Die Lernenden wissen meist um ihre Schwächen; sie können sie aber nicht präzis benennen. Oberflächliches Feedback kratzt darum an der Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Eine differenzierte, sachlich unerbittliche Rückmeldung, menschlich wohlwollend und zuversichtlich formuliert, stärkt die Lehrer-Schüler-Beziehung.

Lernen braucht intakte Beziehungen

Mein Text aus der sechsten Klasse war schlampig verfasst; irgendwie wusste ich es. Doch der Lehrer sagte nicht: „Das ist unbrauchbar! Das kannst du nicht!“ Er verwies mich lautlos auf die Korrektur und meinte nur: „Karl, das kannst du!“

Wie Rückkoppelungen formuliert werden und wirken, ist wissenschaftlich gut untersucht. [2] Entscheidend im Feedback-Verhalten sind Sprache und Ausdruck. Spürt die Schülerin die Zuversicht der Lehrperson? Erfährt der Schüler eine wertschätzende Haltung des Vertrauens und Zutrauens? Erkennt der junge Mensch die Differenz zwischen Sein und Sollen? Und weiss er, was der Lehrer von ihm erwartet?

Unterricht ist im Kern Beziehungsarbeit

Lernen braucht eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung und eine angstfreie, lernförderliche Atmosphäre der Zuversicht. Der Schlüssel dazu ist die Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse.

Neu ist die viel höhere Effektgrösse, die John Hattie heute dem Faktor „Lehrererwartung“ zuordnet, dies im Vergleich zu seiner Ursprungspublikation von 2009. [3] Zahlreiche zusätzliche Studien bestätigten in der Zwischenzeit, wie wichtig dieser Aspekt ist. Sie verstärkten den Wirkwert der Lehrererwartung. Das lässt aufhorchen.

Pygmalion-Effekt mit Langzeitwirkung

Bekannt geworden ist dieser Effekt durch die berühmte Studie „Pygmalion im Unterricht“ von Robert Rosenthal und Leonore F. Jacobson. [4] Die beiden Forscher wiesen 1968 nach: Wenn Lehrpersonen ein positives Bild von Lernenden haben und viel von ihnen erwarten, fördern sie diese Jugendlichen stärker als deren Mitschülerinnen und Mitschüler. Das zeigt sich beispielsweise an der Intensität der Zuwendung oder an der Geduld bei Lernprozessen. Winfried Kronig, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Freiburg, konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse noch immer beeinflusst – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.

Der Pygmalion-Effekt zählt zu den bestuntersuchten pädagogischen Wirkfaktoren. Prototypisches Beispiel ist der Phonetiker Higgins im Musical „My Fair Lady“, verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Higgins glaubt an das Blumenmädchen Eliza Doolittle und traut ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Eliza schafft es und besteht beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.

Sich der Erwartungen an die Schüler bewusst sein

Umgekehrt lässt der Pygmalion-Effekt auch den Schluss zu, dass gleichgültige oder gar negative Lehrererwartungen zu schwächeren Lernleistungen führen können. Darum müssen sich Lehrinnen und Lehrer ihrer Erwartungshaltung bewusst werden. Die „self-fulfilling prophecy“, die selbsterfüllende Prophezeiung, gilt für positive wie für negative Erwartungen.

Ob unser 5./6.-Klasslehrer den Phonetikprofessor Higgins gekannt hat, weiss ich nicht. Der Film erschien jedenfalls erst nach meiner Primarschulzeit. Ich weiss nur: Er erwartete eine bessere Lernleistung und traute sie mir zu. Mein Primarlehrer wirkte – im positiven Sinne. Noch heute höre ich seinen Satz: „Karl, das kannst du!“

Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans (Schweiz), Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen.

Zum Artikel und den Literaturhinweisen: https://www.journal21.ch/karl-das-kannst-du

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.