Schlagwort-Archive: Schulpolitik

Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Manfred Fischer, Berlin, 1.5.2023

Der folgende Beitrag nimmt den gescheiterten Bildungsgipfel zum Anlass, insbesondere den beachtlichen Einfluss der sogenannten Bildungsstiftungen auf die Politik kritisch zu kommentieren und die Frage zu verfolgen, welchen Interessengruppen dadurch das Wohl der Schülerinnen und Schüler anvertraut wird. 

Die Sozialpartner DGB und BDA schrieben in einer gemeinsamen Stellungnahme am 13.03.2023: „Von der `Bildungsrepublik Deutschland´, die bereits 2008 von der Bundeskanzlerin und den Ländern ausgerufen worden ist, sind wir 15 Jahre später immer noch meilenweit entfernt.“

Die damals gesteckten Ziele beim Bildungsgipfel vom 22.10.2008 wurden bis heute allesamt „deutlich verfehlt“: Halbierung der Anzahl der Schulabgänger ohne „Hauptschulabschluss“ von 8 Prozent auf 4 Prozent, Halbierung der Zahl der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung von 17,0 Prozent auf 8,5 Prozent sowie die Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Jedoch das Ziel, „die Studienanfängerquote im Bundesdurchschnitt auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu steigern“ war bereits 2008, im Jahr des Bildungsgipfels, mit 40,3 Prozent erreicht. Diese Quote wurde in den Folgejahren von Jahr zu Jahr deutlicher übertroffen. Jedoch nicht nur für Berlin gilt: Die wundersame Leistungssteigerung wurde durch Niveausenkung erkauft! Deutlich wird dies auch durch die hohen Studienabbruchquoten von bis zu 50 Prozent in den Naturwissenschaften.

„Reformprozesses im Bildungswesen“ nach den Vorgaben der „Bildungs“-Stiftungen

Wie aus einer Pressemitteilung vom 14.03.2023 zu entnehmen ist, appelliert ein „breiter Kreis aus [17] Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften an den Bundeskanzler und die Regierungschef:innen der Länder, mit einem Nationalen Bildungsgipfel einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten.“ Die Initiatoren des Appells waren die Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Karg-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland sowie die Wübben Stiftung. [1] Die Akteure sind meinungsstarke und kapitalkräftige Stiftungen, deren Aktivitäten Christian Füller im „Tagesspiegel“ so überschreibt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“.

Betrachtet man die mit den Stiftungen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer, entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel“. Die Stiftungen öffnen durch ihre Medienpräsenz und die sich wiederholenden „Botschaften“, „öffentlichkeitswirksamen Studien“ und „Handlungsempfehlungen“ sowie durch das „Anprangern von Missständen“ die Türen für das milliardenschwere Bildungs- und Testgeschäft der Unternehmen. In den „technologiebasierten Innovationen“ für Lernen, Unterricht und Schule, die Technologien wie „Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics“ nutzen, liegt nicht, wie die Akteure behaupten, verheißungsvoll die Lösung, sondern oft das Problem! Der Einsatz dieser Technologien soll das Bildungssystem „revolutionieren“.

Von den Stiftungen wird vordergründig und vermeintlich selbstlos in ihren „Botschaften“ hervorgehoben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen, und den Lehr- und Fachkräften im Bildungsbereich wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Es geht jedoch den Stiftungs-Akteuren darum, die „digitalen Bildungskonzepte“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Kitas und Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion.

Euphemistisch schreiben die Initiatoren in ihrem Appell, dass auf dem von ihnen eingeforderten „Nationalen Bildungsgipfel“ neben dem Bundeskanzler „alle relevanten Akteure“ vertreten sein sollen. Festzuhalten ist: Nur ein ergebnisoffener Dialog auf Augenhöhe, ohne interessenbezogene Auswahl von Experten und Teilnehmern könnte zielführend sein. Jedoch eine entgegengesetzte, verschleiernde Vorgehensweise wurde z.B. bei der Trend-Studie „KI@Schule“ im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung praktiziert. Dort wurde die Auswahl der Experten und Teilnehmer mit dem Auftraggeber abgestimmt! [2] Auch ein Austausch in „gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“ wäre zu begrüßen, doch die Akteure haben schon längst die Steuerung des „Reformprozesses“ im Bildungsbereich übernommen! Deutlich wird dies auch in einem Interview im „Tagesspiegel“. Beim geforderten Nationalen Bildungsgipfel setzt der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung Thomas de Maizière nur auf eine „öffentliche Begleitung“ und darauf, dass man sich „informell miteinander“ austauscht. [3]

Die Akteure schreiben auf der website des „Forum Bildung Digitalisierung“, einem Netzwerk, in dem die meisten Initiatoren des Appells vereint sind: „Auf politischer Ebene war insbesondere die Übernahme zahlreicher Positionen des Forums in der ergänzenden Empfehlung `Lehren und Lernen´ zur Strategie `Bildung in der digitalen Welt´ der Kultusministerkonferenz (KMK) ein großer Erfolg.“ [4] Um die Quellen zu verschleiern, macht die KMK in ihrem Bericht [5] keine Angaben zu den Autoren! So ist auch in dem oben genannten Interview nicht verwunderlich, dass der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung von Lob und Anerkennung gegenüber der KMK spricht, da sich die KMK durch „externe Beratung“ selbst auf den „Prüfstand“ stelle.

Der geforderte „grundlegende Reformprozess im Bildungswesen“ ist von den Stiftungen längst vorformuliert, ein „Neustart in der Bildung“ durch eine „digitale Transformation und systemische Veränderungen im Bildungsbereich“ längst beschlossene Sache. Die Frage stellt sich: Wem nutzt es?

Von der Bedeutung im Bildungsprozess von „sinnstiftendem Lernen in tragfähigen Beziehungen“, „wirklichen Lernzeiten in der Klassengemeinschaft“, der „Weltdeutung der Kinder und ihrer Familien“ [6] sowie über den Erwerb der Fähigkeiten wie Anstrengungsbereitschaft, Konzentration, Kreativität, Mitgefühl ist keine Rede. Dies sind aber die Grundlagen auf dem Weg hin zu einer wirklichen Bildung. Den positiv besetzten Begriff „Bildung“ nutzen die Akteure 32mal in dem zweiseitigen Appell. Das kann vordergründig beeindrucken, eine inhaltliche Auseinandersetzung wird jedoch vermieden! Die „Bildungs“-Stiftungen sind auch hier Meister im Verschleiern ihrer wirklichen Absichten – denn „Bildung“ ist ihr Geschäft.

Bei den bildungspolitisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ist „keine Ernsthaftigkeit bei der Problemlösung“ in Schule und Bildung zu erkennen, bemerkt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz. Einige verlieren sich in „persönlichen Profilierungsversuchen“, so die zum Bildungsgipfel noch amtierende KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse. Sie alle werden ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht gerecht! Das Wohl der Kinder, der Schülerinnen und Schüler, der Lehr- und Fachkräfte haben sie seit Jahren allesamt aus dem Auge verloren. Den Verheißungen und den ökonomischen Vorstellungen der „Bildungs“-Stiftungen oder deren Protagonisten jedoch jetzt blind zu folgen, ist nicht die Lösung! Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen und nicht um die Umsetzung der Interessen der international agierenden Education Technology-Unternehmen.


[1] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52.

[2] Siehe dazu die Kurzfassung der Studie: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[3] TSP, 24.04.2023, Interview mit Thomas de Maizière: „Es ist höchste Zeit, das Bildungssystem zu ändern“ von Susanne Vieth-Entus und Tilmann Warnecke.

[4] Siehe dazu eine Kurzfassung: Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

[5] https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09-Lehren-und-Lernen-Digi.pdf

[6] Siehe dazu: FAZ, 13.04.2023, „Messen macht noch keine Bildung“ oder „Offener Brief von Bildungswissenschaftler:innen und Fachdidaktiker:innen an die KMK gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses“

Den ausführlichen Bericht „Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ in der PDF-Datei

Eine systematische Überprüfung und Metaanalyse der Evidenz zum Lernen während der COVID-19-Pandemie

Kinder verloren etwa ein Drittel des Lernwertes eines normalen Schuljahres. Die Studie wurde Ende Januar 2023 im Online-Fachjournal „Nature Human Behaviour“[1] veröffentlicht.

Um das Ausmaß der Lerndefizite während der Pandemie zu bewerten, sammelte das Forschungsteam Daten aus 42 früheren Studien aus 15 Ländern, die im Zeitraum März 2020 bis August 2022 veröffentlicht wurden.

Die primäre Forschungsfrage des Teams lautete: „Wie wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf den Lernfortschritt von Kindern im Schulalter aus?“ Das zweite Forschungsziel war „Zu untersuchen, ob sich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Lernen in verschiedenen sozialen Hintergrundgruppen, Altersgruppen, Jungen und Mädchen, Lernbereichen oder –fächern und nationalen Kontexten unterscheiden“.[2]

Die Pandemie der Coronavirus-Krankheit hat zu einer der größten Unterbrechungen des Lernens in der Geschichte geführt. Dies ist zu einem großen Teil auf Schulschließungen zurückzuführen, von denen schätzungsweise „95 % der weltweiten Schülerschaft“[3] betroffen waren.

Auswirkungen

Die Metaanalyse legt nahe, dass sich der Lernfortschritt während der COVID-19-Pandemie erheblich verlangsamt hat und dass die Schüler etwa „35 % des Lernwertes eines normalen Schuljahres“[4] verloren haben. Diese Defizite blieben über den untersuchten Zeitraum von etwa 2,5 Jahren konstant.

Die Forschergruppe verwendet den Begriff „Lerndefizit“, um sowohl eine Verzögerung des erwarteten Lernfortschritts als auch den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse zu umfassen. Das in der Pandemie entstandene Lerndefizit wird wahrscheinlich die Lebenschancen von Kindern durch ihre Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten beeinträchtigen. Auf gesellschaftlicher Ebene kann sie wichtige Auswirkungen auf Wachstum, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt haben.

Die Auswirkungen des eingeschränkten Präsenzunterrichts, so das Forscherteam, wurden durch die Folgen der Pandemie für das außerschulische Lernumfeld von Kindern sowie ihre geistige und körperliche Gesundheit verstärkt. Lockdowns haben die Bewegungsfreiheit von Kindern und ihre Fähigkeit, zu spielen, andere Kinder zu treffen und sich an außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, eingeschränkt. Das Wohlergehen der Kinder und die familiären Beziehungen haben auch unter wirtschaftlichen Unsicherheiten und widersprüchlichen Anforderungen an Arbeit, Betreuung und Lernen gelitten. Es ist zu erwarten, dass diese negativen Folgen in schwachen sozioökonomischen Familienverhältnissen am ausgeprägtesten sind und bereits bestehende Bildungsungleichheiten verschärfen.

Die meisten Studien, die das Team untersuchten, stellen fest, dass die Lerndefizite bei Kindern aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen am größten waren. Dies gilt über verschiedene Zeitpunkte während der Pandemie, Länder, Klassenstufen und Lernfächer hinweg und unabhängig davon, wie der sozioökonomische Hintergrund gemessen wird. Es deutet darauf hin, dass die Pandemie Bildungsungleichheiten zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund verschärft hat.

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, bestätigt die Ergebnisse der Metaanalyse: „Je geringer also das Leistungsniveau der Lernenden ist, je jünger die Lernenden sind und je bildungsferner das Milieu der Lernenden sich zeigt, desto negativer sind die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Bildungsprozesse.“[5]

Er wird zu den geschilderten Auswirkungen noch deutlicher und führt zur „Demokratiefähigkeit“ der Gesellschaft weiter aus: „Ein geringes Bildungsniveau in Kombination mit einer vergrößerten Bildungsschere ist der Nährboden für demokratiedestabilisierende Entwicklungen.“[6]

Die Forschergruppe macht darauf aufmerksam, dass weitere Nachweise erforderlich sind, um die Wirksamkeit der verschiedenen bisherigen Interventionen zur Begrenzung oder Behebung von Lerndefiziten, bewerten zu können.

Was also tun?

Zierer schreibt in seinem Beitrag weiter: „Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in der Krise noch das Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog“[7] […]. Er fasst zusammen: „Das Miteinander und das Gemeinschaftliche sind sinnstiftend und die Grundlage für Bildungsprozesse.“[8]

Ralf Lankau, Professor für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie an der HS Offenburg, ergänzt und formuliert zu den Auswirkungen der eklatanten Lernrückständen eine These: „Wenn die Bereitschaft bestünde, ergebnisoffen über die Auswirkungen und Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu sprechen, wäre die erste Konsequenz die Forderung nach einer pädagogischen Wende. Statt Ausrichtung der Schulen an den Forderungen der IT-Wirtschaft und den Parametern der empirischen Bildungsforschung muss wieder das Individuum und seine persönliche Entwicklung in Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen: Persönlichkeitsentwicklung statt Leistungsvermessung.“[9]

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Im Januar 2023 erschien das Buch mit dem Titel: „Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie“, Ralf Lankau (Hrsg.). Die zusammengestellten Beiträge von 16 Vertretern aus Wissenschaft, Schulpraxis und Kinderheilkunde ergeben ein faktenbasiertes und praxistaugliches Fundament für die Frage, was die zentralen Parameter für Schule und gelingenden Unterricht sind.


[1] A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic, Betthäuser, B. A., Bach-Mortensen, A. M. & Engzell, P. Nature Hum. Behav., https://doi.org/10.1038/s41562-022-01506-4
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Zierer, Klaus (2023): Die pädagogische Klimakrise bewältigen. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 225
[6] ebd. S. 225
[7] ebd. S. 225f 
[8] ebd. S. 226
[9] Lankau, Ralf (2023): Lehren aus der Pandemie – Pädagogische Alternativen zur Digitalisierung als De-Humanisierung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 209

Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.

IQB-Bildungstrend 2021

Bildung ohne Wirkung – kontinuierlicher Absturz

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin, 28.10.2022

Für den „Bildungstrend 2021“, durchgeführt vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin[1], wird der Stand bei Schülerinnen und Schülern im Abstand von fünf Jahren repräsentativ untersucht. 2021 haben 26.844 Schülerinnen und Schüler der vierten Jahrgangsstufe in 1.464 Grundschulen aus allen 16 Bundesländern teilgenommen. Vorweg:

Die Viertklässler von heute stehen in Deutsch und Mathematik schlechter da als je zuvor.

Nach 2011 und 2016 hat der IQB-Bildungstrend 2021 zum dritten Mal untersucht, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards[2] der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch (die Kompetenzbereiche „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“) und Mathematik für den Primarbereich erreichen.

Die Testergebnisse werden fünf verschiedenen Kompetenzstufen zugeordnet:
Unter Mindeststandard, Mindeststandard, Regelstandard, Regelstandard Plus und Optimalstandard.

Erläuterungen von Mindeststandard, Regelstandard, Kompetenzstufen

Abb. aus: https://www.isq-bb.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/06/VERA-3_Bericht2015_BE.pdf

Als durchschnittliche Erwartung an die Leistungsstände von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 4 gilt der Regelstandard (Kompetenzstufe III). Über die dort beschriebenen Kompetenzen sollen Schüler/-innen am Ende der Jahrgangstufe 4 durchschnittlich verfügen. Unterhalb des Regelstandards werden zwei weitere Kompetenzstufen definiert. Der Mindeststandard (Kompetenzstufe II) beschreibt ein Minimum an Kompetenzen, über die alle Schüler/-innen am Ende der Jahrgangsstufe 4 verfügen sollten. Die Gruppe der Schüler/-innen unter Mindeststandard (Kompetenzstufe I) erreicht diese Mindestanforderungen nicht. Diesen Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kenntnisse, um den erfolgreichen Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule zu bewältigen. Ihnen sollte bei der Kompetenzentwicklung besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Dies fordert auch Norbert Maritzen, langjähriger Direktor des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung und Mitglied des Berliner Beirats für Qualität in einem Interview: „Mindeststandards sind zu verstehen als eine Bringeschuld des Staates, die ausnahmslos für jedes Kind eingelöst werden muss. Die immer noch skandalös hohen Anteile von Kindern und Jugendlichen, die in bestimmten Domänen Mindeststandards verfehlen, zeigen, dass dieser Anspruch derzeit nicht erfüllt wird. Mindeststandards würden eine Grenze festlegen, deren Unterschreitung nicht hingenommen werden darf. Das müsste dann massive Konsequenzen für die Bereitstellung von Unterstützung haben.“[3]

Die Ergebnisse sind alarmierend

Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik haben sich bei Kindern in der vierten Klasse dramatisch verschlechtert. Die Ergebnisse sind alarmierend und sie zeigen, dass in fast allen Bundesländern die Leistungen nachgelassen haben, allerdings in deutlich unterschiedlichem Umfang.

Die Ergebnisse für Berlin

  • Lesen: 27,2 Prozent der Schülerinnen und Schüler verfehlen den Mindeststandard, erfüllen also nicht die Mindestanforderungen. 48,5 Prozent, d.h. nicht einmal die Hälfte erreichen den Regelstandard. Den Optimalstandard erreichen 6,9 Prozent.
  • Zuhören: 27,1 Prozent der Kinder verfehlen den Mindeststandard. Nicht einmal die Hälfte, nämlich 48,4 Prozent, erreichen den Regelstandard, 7,1 Prozent den Optimalstandard. Berlin bildet mit Bremen hier das Schlusslicht.
  • Orthografie: 46,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler verfehlen den Mindeststandard (Bundesweit sind dies 30,4 Prozent). 29,8 Prozent erreichen den Regelstandard, 3,4 Prozent den Optimalstandard. Auch hier stehen Berlin und Bremen ganz hinten im Ländervergleich.
  • Mathematik: 34,5 Prozent der Kinder verfehlen den Mindeststandard, erfüllen also nicht die Mindestanforderungen. 41,6 Prozent erreichen den Regelstandard, 6,7 Prozent den Optimalstandard. Das ist das schlechteste Ergebnis zusammen mit Bremen.

Die Autorinnen und Autoren des IQB-Bildungstrends haben berechnet, dass der Kompetenzunterschied zwischen dem Land mit dem höchsten (Bayern) und dem Land mit dem niedrigsten Mittelwert (Bremen und Berlin) bis zu einem Schuljahr Lernzeit in Lesen und Zuhören entspricht. Bei Orthografie umfasst die Spanne etwa zwei Drittel eines Schuljahres und in Mathematik drei Viertel eines Schuljahres. Bremen und Berlin sind weiter im Ländervergleich die Schlusslichter.

Dass in unseren Schulen eine immer größere Schülergruppe heranwächst, die von sozialem Abstieg und von Ausgrenzung bedroht sind, hat mehr mit fehlender frühkindlicher Bildung in Familie und Kita, Dauerreformen, Lehrermangel, unzureichend ausgebildeten Lehrkräften und einer immer heterogener werdenden Schülerschar zu tun als mit Hinweisen auf Corona-Quarantänen, Testzeitraum oder Flüchtlingszahlen.

Wie sind jedoch die Reaktionen aus Berlin zu den Ergebnissen der Studie? Ein Sprecher der Senatsbildungsverwaltung erklärte: Man habe den Handlungsbedarf „bereits vor längerer Zeit klar erkannt“ und deshalb vieles auf den Weg gebracht.[4]

Die Ergebnisse sprechen – wie schon in den letzten Jahren – eine andere Sprache! So heißt es bereits im Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie (2017): „Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems“.[5]

Zur offensichtlichen Schulmisere in Berlin beschrieben Experten aus der Schulpraxis im Tagesspiegel vom 09.09.2019 ihre Position zur Berliner Schulpolitik: „Uns eint – trotz unterschiedlicher Positionen im Einzelnen – die Sorge, ja Fassungslosigkeit über den desaströsen Zustand der Berliner Schule und damit über das Versagen der Bildungspolitik über Jahre hinweg mit vorhersehbaren fatalen Ergebnissen. Die lange Liste der Versäumnisse, der falschen Entscheidungen und aktionistischen Ablenkungsmanöver hat jetzt ein Ausmaß erreicht, das wir als erfahrene Schulexperten, die seit langem vielfach auf die sich abzeichnenden Probleme hingewiesen haben, einfach nicht mehr hinnehmen können. Wir haben unsere Verantwortung nicht mit dem Ruhestand oder an der Schultür abgegeben – sie bleibt. […] Im Fokus müssen wieder die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte stehen, nicht zuerst ein ideologisch fixierter Glaube an bestimmte pädagogische Rezepte, die Befriedigung von Interessenvertretungen, die Sorge um den politischen Machterhalt oder gar um den eigenen Posten.“[6]

Offenbar ist die Politik nicht gewillt, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, und sieht die fundamentalen Risiken nicht, die damit für unsere Gesellschaft einhergehen – ein Ausmaß an Ignoranz, das uns noch teuer zu stehen kommen wird.


[1] Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Bericht: IQB Bildungstrend 2021
[2] Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen: Bildungsstandards in folgenden Fächern
[3] Das Deutsche Schulportal, 24.06.2022, Der lange Weg zu bundesweiten Bildungsstandards, Interview von Florentine Anders mit Norbert Maritzen, der am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) Berlin die Weiterentwicklung der Bildungsstandards leitet.
[4] Tagesspiegel,18.10.2022, Früher war alles schlauer
[5] Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie (2017), Bilanz nach 10 Jahren Reform der Berliner Schulstruktur „Leistungsstandards sind mit den Sekundarschulen gesunken“, S. 483.
Siehe auch zu diesem Thema: Bilanz nach 10 Jahren Reform der Berliner Schulstruktur | Schulforum-Berlin
[6] Tagesspiegel, 09.09.2019, Position zur Berliner Schulpolitik: „In Sorge über die desaströsen Zustände“.

Zwischenruf einer Lehrerin: Unser Beruf ist extrem belastend geworden!

Entgegen aller Vorurteile ist der Lehrerberuf keineswegs geruhsam. Eine Berliner Lehrerin über die Härten ihres Jobs.

Franziska Klumpp

Der Lehrerberuf ist schön, nur bei Regen nicht, weiß die Berliner Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse aus eigener Erfahrung als langjährige Schulleiterin einer Grundschule in Berlin-Neukölln. Bei der Verbeamtungszeremonie letzte Woche, bei der seit 18 Jahren das erste Mal wieder junge Berliner Lehrerinnen und Lehrer verbeamtet wurden, bekannte sie: Nach drei Regenpausen habe sie sich hin und wieder doch gefragt, warum sie sich das eigentlich antue.

Liebe Frau Senatorin, wenn es weiter nichts wäre als verregnete Pausen! Wenn es weiter nichts wäre als Pausen, die mit Elterntelefonaten, Besprechungen, Kopieren und Organisieren verbracht werden statt in Ruhe mit einer Tasse Kaffee! Wenn es nicht mehr wäre als Arbeiten in oft heruntergekommenen Schulgebäuden und mit alten und zu wenigen Computern! Wenn es weiter nichts wäre als Klassenstärken von über 30 Schülerinnen und Schülern, davon immer mehr mit häuslichen Problemen, Lernschwierigkeiten und verschiedenem Förderbedarf! Wenn es weiter nichts wäre als ständig zunehmende Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben zusätzlich zu den 26 Unterrichtsstunden pro Woche! Wenn es nicht mehr wäre als die Vorbereitung von Prüfungen und die schier endlosen Korrekturen von Klausuren, die wieder einmal die Ferien, das Wochenende oder die letzten Nächte gekostet haben! Wenn es weiter nichts wäre als die allabendliche Unterrichtsvorbereitung, während andere Leute Feierabend haben, den „Tatort“ sehen oder einem Hobby frönen!

Die Dauerbelastung der Berliner Lehrkräfte

Wenn es weiter nichts wäre als das Fehlen jeder Aufstiegsperspektive oder die fehlender Anerkennung durch Schulleitung, Schulaufsicht und Senatsverwaltung, die Jahr für Jahr neue außerunterrichtliche Aufgaben ersinnen, ohne dass je etwas dafür wegfiele! Wenn es weiter nichts wäre als das!

Aber all das zusammen, liebe Frau Senatorin, bedeutet eine Dauerüberlastung der Berliner Lehrkräfte, die dazu führt, dass immer mehr in Teilzeit arbeiten. Denn anders ist das Pensum kaum zu schaffen, wenn man – fast hätte ich es vergessen! – neben all dem auch für jede einzelne Schülerin und jeden Schüler da sein möchte, freundlich, geduldig und einfühlsam.

Wenn man wissen möchte, wie es den Beschäftigten einer Branche geht, blättere man einfach in den Blättchen der jeweiligen Berufsverbände. Wer wirbt darin wofür? Im PROFIL, dem Magazin für Gymnasium und Gesellschaft des Deutschen Philologenverbandes, sind es vor allem Burn-out-Kliniken, die in jeder Nummer großformatig mit Verheißungen werben wie „Erschöpft und ausgebrannt? Wir sind für Sie da!“

Die meisten Lehrer haben eine Sieben-Tage-Arbeitswoche

Eine andere verspricht „Endlich wieder Ruhe finden – wir helfen bei Depressionen, Burn-out und Angst- und Stresserkrankungen“.

Arbeitszeitstudien, wie z.B. 2020 die Studie Lehrerarbeit im Wandel (LaiW) des Deutschen Philologenverbandes belegen immer wieder, dass ein Großteil der Lehrer eine 7-Tage-Arbeitswoche hat. Nur etwa die Hälfte der Befragten gab an, eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden und vier von zehn Lehrkräften klagten über Schlafprobleme.

Da klingt es wie Hohn, wenn bei der erwähnten Verbeamtungszeremonie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey die jungen Beamten auf die rot-weißen Kordeln an ihren Verbeamtungsurkunden hinwies, die ein Zeichen seien für „die Lebenszeitverbeamtung und ruhigen Schlaf“.

Dank der verfehlten Einstellungspolitik und der Sparmaßnahmen des Berliner Senats, gepaart mit permanenten „Bildungsreformen“ und ständig wachsenden Aufgaben jenseits des Unterrichts, ist der Lehrberuf in den letzten Jahrzehnten ein extrem belastender und gesundheitsschädlicher Beruf geworden.

Vor allem Lehrkräfte mit Kindern sehen sich genötigt, ihre Arbeitszeit drastisch zu reduzieren. Niemand kann 50 bis 60 Stunden pro Woche arbeiten, wenn auch eigener Nachwuchs Ansprüche an Zeit, Kraft und Zuwendung stellt. Nur die wenigsten Lehrkräfte halten bis zur Pensionierung durch, wenn sie in Vollzeit arbeiten. Aber vielleicht können sich die nun neu bestallten Beamten ja, wenn sie erst einmal im Hamsterrad Schule angekommen und bald darauf am Ende ihrer Kräfte sind, an der eigenen rot-weißen Kordel aus dem Sumpf der Verzweiflung ziehen.

Die Autorin ist seit 1999 im Berliner Schuldienst und unterrichtet an einem Pankower Gymnasium die Fächer Englisch, Deutsch und Latein. Dieser Beitrag erscheint auf der Website Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Er ist zuerst in der Berliner Zeitung erschienen.