Schlagwort-Archive: Digitalisierung der Schule

Die Bedeutung des Lehrers

Die Physikerin und Nobelpreisträgerin Anne l´Huillier berichtet in einem Interview im Tagesspiegel vom 26.3.2024 zum Thema: „Eine Frauenquote erzeugt nicht automatisch Gerechtigkeit“ über Vorurteile, Vorbilder und die ungewollten Konsequenzen positiver Diskriminierung. Zum Thema „Vorbilder“ zwei Fragen und die Antworten aus dem Interview:

Wer hat Ihnen Physik beigebracht?

Ich hatte in verschiedenen Phasen meines Lebens gute Lehrer, die eine große Rolle gespielt haben. Im letzten Jahr des Gymnasiums hatte ich eine sehr gute Lehrerin in Mathematik. Und dann hatte ich gegen Ende meines Studiums gute Dozenten in Atomphysik, wegen derer ich überhaupt erst in mein Forschungsgebiet gegangen bin. Das waren Claude Cohen-Tannoudji und Serge Haroche, beide haben später Nobelpreise bekommen. Sie waren hervorragende Lehrer, die das Fach wirklich interessant machten und mich inspirierten, mehr erfahren zu wollen.

Es gab in Deutschland nach der letzten Pisa-Studie eine große Diskussion darüber, warum es vielen Lehrern nicht gelingt, Schüler mitzureißen und zu begeistern. Was hat die Menschen, die Sie geprägt haben, zu guten Lehrern gemacht?

Ihr Enthusiasmus. Als ich hier in Lund zur Professorin ernannt wurde, habe ich in meiner Antrittsrede gesagt:

Man lehrt nicht was man weiß, sondern was man ist. Der Grundgedanke ist, dass nichts den Lehrer als Person ersetzen kann. Man kann nicht auf dieselbe Weise unterrichten, indem man auf einen Computer schaut, sondern man muss mit einer Person sprechen. Und diese Person lehrt viel mehr als nur das Fach, sondern auch ihre Persönlichkeit, die die Schüler beeinflusst.

Aus: https://www.tagesspiegel.de/wissen/physik-nobelpreistragerin-anne-lhuillier-eine-frauenquote-erzeugt-nicht-automatisch-gerechtigkeit-11217106.html

Beschimpfen, Beleidigen, Bloßstellen – Jedes sechste Schulkind erlebt Cybermobbing

Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022[1]


Hintergrund: Mobbing ist eine spezifische Gewaltform, die sich dadurch auszeichnet, dass sie wiederholt und mit der Absicht zu schädigen ausgeübt wird. Zwischen den beteiligten Schülerinnen und Schülern besteht ein Machtungleichgewicht, welches es den Gemobbten schwer macht, sich allein und ohne Hilfe Dritter gegen das Mobbing zur Wehr zu setzen. Das Machtungleichgewicht zwischen Lernenden kann beispielsweise durch unterschiedliche körperliche Größe und Stärke, aber auch durch Aspekte wie die soziale Eingebundenheit entstehen. Mobbinghandlungen können beispielsweise Beleidigungen, Schläge, Tritte, das Verbreiten von Gerüchten oder soziale Ausgrenzung umfassen. Tritt das Mobbing medial vermittelt auf (z.B. über soziale Netzwerke oder Chatgruppen), wird es Cybermobbing genannt. (S. 46f)

Zent­rale Besonderheiten des Cybermobbings im Vergleich zum schulischen Mobbing außerhalb des digitalen Raumes lie­gen darin, dass die gemobbten Lernenden beim Cybermob­bing oft nicht wissen, wer das Mobbing ausübt. Diese Ano­nymität kann das Machtungleichgewicht, welches zwischen Mobbenden und Gemobbten besteht, noch weiter erhöhen. (S. 47)

Die tägliche Nutzung digitaler Medien und dabei insbesondere die häufige sozi­ale Interaktion im digitalen Raum kann das Risiko für Mob­bing (sowohl traditionell als auch medial vermittelt) erhö­hen. (S. 48)

Die Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) ist als Querschnittstudie angelegt, die alle vier Jah­re im Schulsetting stattfindet und Schülerinnen und Schü­ler im Alter von ca. 11, 13 und 15 Jahren (mittlere Abwei­chung von 0,5 Jahren) befragt. In Deutschland sind diese Altersgruppen überwiegend in den Jahrgangsstufen 5, 7 und 9 vertreten. In der HBSC-Studie wurden in Deutsch­land bisher in den Schuljahren 2009/10, 2013/14, 2017/18 sowie im Kalenderjahr 2022 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern befragt. (S. 49)

Aus der Erhebungswelle 2022 liegen Daten von N = 6.475 Lernenden an 174 Schulen vor (50,3 % Mädchen, 47,5 % Jungen, 1,7 % Heranwachsende, die sich als gender-divers identifizieren. (S. 49) In Bezug auf die Ausübung von Mobbing berichteten Lernende an Sekundarschulen häufiger als Lernende an Gymnasien und Hauptschulen davon, andere in der Schule gemobbt zu haben. Lernende an Gymnasien gaben seltener als Lernende an Gesamt- und Sekundarschulen an, andere online gemobbt zu haben. (S. 54)

Verbreitung von schulischem Mobbing und Cybermobbing im Jahr 2022

Knapp 14 % der befragten Heranwachsenden gaben an, 2022 in der Schule gemobbt worden zu sein und/oder andere gemobbt zu haben. Damit machte 2022 ungefähr jede bzw. jeder siebte Lernende direkte Mobbingerfahrungen. Bedenkt man, dass Mobbing nicht nur diese direkt betroffenen Ler­nenden, sondern auch alle, die Mobbing in ihrer Klasse beobachten und erleben, negativ beeinflussen kann, unterstreicht dieser Befund, dass Mobbing nach wie vor für viele Kinder und Jugendliche ein alltägliches Problem ist. (S. 58)

Die Betrachtung der Mobbingverbreitung nach Schul­formen zeigt, dass Mobbing an allen Schulformen stattfin­det. Lernende an Gymnasien berichteten 2022 tendenziell weniger Mobbing als Lernende an anderen Schulformen. Lernende an Hauptschulen berichteten besonders häufig davon, online gemobbt worden zu sein. Die Erfahrung, selbst gemobbt zu werden, wurde aber an allen Schulfor­men angegeben. Dies steht in Einklang mit früheren Unter­suchungen und illustriert, dass Maßnahmen zur Mobbingprävention und -intervention an allen Schulformen bedeutsam sind. (S. 59)

Aufgrund der COVID-19-Pandemie hat die Frage nach der Entwicklung der Mobbingverbreitung von 2017/18 bis 2022 besondere Relevanz. Die vorliegenden Befunde legen aber nahe, dass die Pandemie zu keinen bedeutsamen Ver­änderungen in der Verbreitung des schulischen Mobbings geführt hat. […] Die Verbreitung des Cybermobbings hat jedoch zuge­nommen. Der Anstieg betrifft dabei vor allem 13-jährige Lernende und Jungen. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Online-Medien verbringen, hat 2022 weiter zugenom­men. […] Da das schulische Mobbing nicht abgenommen, aber das Cybermobbing zugenommen hat, ist die Mobbingpro­blematik insgesamt im Vergleich zu 2017/18 im Jahr 2022 größer. (S. 60)

Schlussfolgerungen:

Die vorliegende Studie zeigt, dass Mobbing für viele Kinder und Jugendliche eine alltägliche Erfahrung ist. Insgesamt sind die Fortsetzung und weitere Implemen­tierung von Anti-Mobbing-Maßnahmen an Schulen unumgänglich, um Mobbing und der damit verbundenen Gewalt [2] erfolgreich entgegenwirken zu können. Entsprechende Maßnahmen sollten neben den Lernenden selbst auch die Lehrkräfte und das ganze System Schule adressieren. Dabei sollten den Lehrkräften verschiedene erfolgreiche Anti-Mobbing-Strategien vermittelt werden, die sie situationsspezifisch auswählen können und sie soll­ten darin bestärkt werden, auf ihr eigenes pädagogisches Handeln auch bei Mobbingvorfällen zu vertrauen. […] Schülerinnen und Schüler soll­ten innerhalb ihrer Klassen ermutigt werden, den gemobb­ten Lernenden beizustehen und den mobbenden Lernenden damit motivierende positive Rückmeldungen zu entziehen. […] [G]eschulte und verfügbare Schulsozialarbei­terinnen und Schulsozialarbeiter können dazu beitragen, schulweite Anti-Mobbing-Maßnahmen durchzuführen und somit Lehrkräfte entlasten und Ansprechpersonen für Schü­lerinnen und Schüler darstellen. […] Zudem müssen Heranwachsende Ansprechpersonen haben, an die sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn sie negative Erfahrungen online machen oder in der Schule oder online gemobbt werden oder Mobbing beobachten. (S. 62)


[1] Aus:  Fischer SM, Bilz L (2024) Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022. J Health Monit 9(1): S. 46–67. DOI 10.25646/11871  https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JHealthMonit_2024_01_HBSC.pdf?__blob=publicationFile, S. 46-67

[2] Aus: TSP, 25.3.2024, „Ein falscher Blick führt sofort zum Knall“: Berliner Schulleiter berichten über die Gewalt an ihren Schulen (tagesspiegel.de)

In Berlin verzeichnet die Kriminalstatistik bei Gewaltdelikten an Schulen für das Jahr 2023 einen Anstieg um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Drei Schulleiter und eine Schulleiterin berichten über Gewaltdelikte an ihrer Schule:

„Bei jeglicher Gewalt in der Schule gilt die Prämisse: Alles muss zur Strafanzeige gebracht werden, auch Kleinstvorfälle. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass ihr Tun unmittelbare Konsequenzen hat. Das Verfahren ist dreischrittig. Es besteht aus klaren Regeln, klarer Kommunikation, sofortigen Strafen. Damit soll schon der Versuch von Grenzüberschreitungen im Keim erstickt werden. […] Was kann die Politik tun? Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört die Frühförderung: Je besser vorbereitet die Kinder eingeschult werden, desto geringer ihr Frust und die Gefahr, dass sie diesen in Gewalt umsetzen.“

„Die Zündschnur von einer kurzen verbalen Auseinandersetzung bis zur handfesten Schlägerei ist kürzer geworden. Offenbar kennen die Kinder in dem Augenblick keine andere Möglichkeit, zu reagieren.“

„Wir erstatten auch Meldungen im Rahmen des Kinderschutzes, wenn wir den Eindruck bekommen, dass in der Familie Videospiele oder TV-Formate konsumiert werden, die die Kinder noch gar nicht sehen dürfen. Mit dieser Herangehensweise haben wir wirklich ganz gute Erfahrungen gemacht.  Für uns ist auch wichtig herauszufinden, welche Rolle Gewalt in der Familie spielt. Mitunter wollen sie den Blick in die Familie gar nicht zulassen. Viele sind aber unwahrscheinlich dankbar, wenn das Problem erst mal auf dem Tisch ist und ihnen Hilfe angeboten wird.“

„Bereits in der ersten Klasse sitzen Kinder, die nicht mehr neugierig, kaum beschulbar sind. Die Ursache liegt in sozialer Verwahrlosung. Mit diesen Kindern wird zu wenig gesprochen, sie bekommen ein Handy in die Hand, noch bevor sie ihren Windeln entwachsen sind. So werden sie ruhig gestellt. […] Hinzu kommt häufig die unkontrollierte und unkommentierte Nutzung der (a)sozialen Medien mit ihren zum Teil menschenfeindlichen Darstellungen. […] Die häusliche Gewalterfahrung spielt ebenfalls eine große Rolle. Es gibt Kinder, die lernen zu Hause, dass Gewalt eine Lösungsstrategie ist“.


Der Leserbrief eines Gymnasiallehrers zum Thema im Tagesspiegel:

Liebe Frau Vieth-Entus!
Danke für Ihren hinterfragenden Artikel „Mehr Gewalt an Schulen | Worüber wundert ihr euch?“ im Tagesspiegel vom 19. März 2024.
Ihre Sätze
„Auf der Suche nach den Ursachen werden vor allem die Isolation während der Pandemie und die sozialen Medien als Gewalttreiber genannt.“
„Hier ist auch der Ort, an dem sich bereits Neunjährige pornografische Videos per Tiktok zuschicken oder per Cybermobbing Mitschülerinnen und Mitschülern das Leben zur Hölle machen.“

Warum aber gibt es diesen Digitalisierungshype, warum sollen dann die Schulen (oder gar die Schüler) digitalisiert werden? Sind die teuren Ideen, jeden Schüler mit einem digitalen Endgerät auszustatten und schnelles WLAN für alle in den Schulen zu installieren etc., nicht eine staatliche Subvention, eine Absegnung dieser Irrungen? Vereinsamung und asoziale Medien — Tiktok und Zocken am Handy/Tablet/Laptop/PC statt Kicken mit Kumpels, Pornos statt Bücher, Chatten und Mobbing statt persönlicher Umgang (inklusive Konflikte und deren Lösung) mit Gleichaltrigen  — nun auch auf Staatskosten in der Schule, demzufolge rund um die Uhr, sieben Tage die Woche? Roboter, künstliche (!) Intelligenz und „Lern“programme statt Menschen und Zuwendung für alle Kinder und Jugendlichen?

Ich wundere mich über gar nichts, wäre meine Antwort auf Ihre Frage.

Beste Grüße,
Thilo Steinkrauß

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? Summary.

Aus der deutschen Übersetzung der deutschen UNESCO-Kommission einige Kernaussagen mit Schwerpunkt „Digitale Medien in der Bildung“:

Es gibt einen Mangel an guten, unvoreingenommenen Erkenntnissen über die Auswirkungen von digitalen Medien in der Bildung.

  • Es gibt wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung. Die Technologie entwickelt sich schneller, als wir sie evaluieren können: Produkte aus dem Bereich der Bildungstechnologien ändern sich im Durchschnitt alle 36 Monate. Der Großteil der Erkenntnisse stammt aus den reichsten Ländern. Im Vereinigten Königreich haben 7 % der Unternehmen für Bildungstechnologien randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, und 12 % nutzten eine externe Zertifizierung. Eine Umfrage unter Lehrkräften und Schulverwaltungen in 17 US-Bundesstaaten ergab, dass nur 11 % von ihnen vor der Einführung nach einer von Fachleuten geprüften Bewertung fragten. (S. 1)
  • Ein Großteil der Studien stammt von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen. Pearson [der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada] finanzierte eigene Studien und bestritt unabhängige Untersuchungsergebnisse, wonach die Produkte des Unternehmens keine Effekte zeigten. (S. 1)

Kurz gesagt: Wir verfügen zwar über viele allgemeine Forschungsarbeiten zum Lernen mit digitalen Medien. Der Umfang der Forschung zu konkreten Anwendungen und Rahmenbedingungen ist jedoch unzureichend, sodass es schwierig ist, nachzuweisen, dass eine bestimmte Technologie eine bestimmte Art des Lernens fördert. (S. 7)

Warum entsteht dennoch häufig der Eindruck, dass digitale Medien die Antworten auf die großen Herausforderungen im Bildungsbereich bieten könnten?

Um den Diskurs über digitale Medien in der Bildung zu verstehen, ist es wichtig, dass wir die Sprache, mit der sie beworben werden, und die Interessen, denen sie dienen sollen, hinterfragen.

  • Wer definiert den Rahmen für die Probleme, die mit digitalen Medien gelöst werden sollen?
  • Welche Folgen entstehen daraus für die Bildung?
  • Wer präsentiert digitale Medien in der Bildung als Voraussetzung für die Transformation von Bildung?
  • Wie glaubwürdig sind solche Behauptungen?
  • Welche Kriterien und Standards müssen festgelegt werden, um den aktuellen und potenziellen künftigen Beitrag digitaler Medien für die Bildung zu beurteilen, damit wir Hype und Substanz unterscheiden können?
  • Können Forschung und Evaluation mehr sein als kurzfristige Beurteilungen von Auswirkungen auf das Lernen und potenziell weitreichende Folgen des umfassenden Einsatzes digitaler Medien in der Bildung erfassen? (S. 7)

Übertriebene Erwartungen an digitale Medien gehen Hand in Hand mit übertriebenen Schätzungen zur Größe des weltweiten Marktes. Die Schätzungen von Business-Intelligence-Anbietern für das Jahr 2022 bewegen sich zwischen 123 Mrd. und 300 Mrd. US-Dollar. Solche Berechnungen werden fast immer in die Zukunft projiziert und sagen ein optimistisches Wachstum voraus, aber sie geben keine Auskunft über historische Entwicklungen und prüfen nicht, ob sich frühere Prognosen bewahrheitet haben. Solche Berichte bezeichnen Bildungstechnologien routinemäßig als unverzichtbar und Technologieunternehmen als Enabler und Disruptoren. Wenn sich die optimistischen Prognosen nicht erfüllen, wird die Verantwortung implizit auf die Regierungen abgewälzt, um den indirekten Druck auf diese aufrechtzuerhalten, vermehrt in entsprechende Anschaffungen zu investieren. Das Bildungswesen wird dafür kritisiert, dass es sich nur langsam verändere, in der Vergangenheit verhaftet sei und in Sachen Innovation hinterherhinke. Eine solche Darstellung spielt mit der Faszination der Menschen für Neues, aber auch mit ihrer Angst, abgehängt zu werden. (S. 7)

Technologieunternehmen können einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Entwicklung entsprechender Untersuchungen haben. So finanzierte [der weltweit größte Bildungskonzern] Pearson beispielsweise Studien, mit denen unabhängige Analysen angefochten wurden, die ihrerseits gezeigt hatten, dass die Produkte von Pearson keine Wirkung hatten. (S. 11)

Studien auf der Grundlage von PISA-Daten deuten auf einen negativen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler hin, sobald die Schwelle einer moderaten Nutzung überschritten ist. Lehrkräfte empfinden die Nutzung von Tablets und Handys als Beeinträchtigung ihrer Klassenführung. Mehr als eine von drei Lehrkräften in sieben Ländern, die an der ICILS-2018-Studie teilnahmen, stimmten zu, dass die Verwendung digitaler Medien im Klassenzimmer die Lernenden ablenkt. (S. 11f)

Bildungssysteme sollten bei der Entscheidung über die Einführung digitaler Technologien stets sicherstellen, dass die Interessen der Lernenden im Mittelpunkt eines auf Rechten basierenden Rahmens stehen. Der Fokus sollte nicht auf digitaler Infrastruktur, sondern auf den Ergebnissen des Lernens liegen. Zur Verbesserung des Lernens sollten digitale Medien die persönliche Interaktion mit Lehrkräften nicht ersetzen, sondern ergänzen. (S. 20)

Weitere Fragestellungen und Hinweise:

Die Rolle von digitalen Medien in der Bildung ist seit langem Gegenstand intensiver Debatten:

  • Sorgen sie für eine Demokratisierung des Wissens – oder bedrohen sie die Demokratie, indem sie die Kontrolle über Informationen in die Hände weniger Auserwählter legen?
  • Bieten sie grenzenlose Möglichkeiten, oder führen sie in eine zukünftige Technologieabhängigkeit, aus der es kein Zurück mehr gibt?
  • Führen sie zu einer Angleichung der Bedingungen, oder verschärfen sie die Ungleichheit?
  • Sollten sie für den Unterricht junger Kinder eingesetzt werden, oder besteht ein Risiko für deren Entwicklung? (S. 33)

Der UNESCO-Bericht „Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?“ empfiehlt, dass Technologie in der Bildung evidenzbasiert eingeführt werden sollte, also auf Grundlage von Nachweisen, dass sie geeignet, chancengerecht, skalierbar und nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Ihr Einsatz sollte im besten Interesse der Lernenden liegen und die zwischenmenschliche Interaktion ergänzen. Digitale Medien sollten als Werkzeug verstanden werden, das unter diesen Bedingungen genutzt werden kann. (S. 33)

Technologie [in der Bildung] kann aber auch ausgrenzend, irrelevant und belastend, wenn nicht sogar schädlich sein. Regierungen müssen für die richtigen Bedingungen sorgen, um einen chancengerechten Zugang zu Bildung für alle zu ermöglichen, und müssen die Nutzung von Technologien so regulieren, dass die Lernenden vor deren negativen Einflüssen geschützt werden. (S. 33)

Weitere Informationen:

UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen

Frankfurt am Main, 22.11.2023: Über 40 führende Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen fordern zusammen mit Kinder- und Jugendärzten von den Kultusminister:innen der Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen.

Unter den Erstunterzeichnern sind führende Experten wie der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Universität Augsburg), die Mediziner Prof. Manfred Spitzer (Universitätsklinik Ulm) und Prof. Thomas Fuchs (Jaspers-Lehrstuhl Universität Heidelberg) sowie der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg).

„Wir fordern die Kultusminister:innen aller 16 Bundesländer auf, bei der Digitalisierung an Schulen und Kitas ein Moratorium zu erlassen“, sagt Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Aufrufs. „Die wissenschaftliche Erkenntnis ist inzwischen, dass Unterricht mit Tablets und Laptops die Kinder bis zur 6. Klasse nicht schlauer, sondern dümmer macht. Hinzu kommen laut Studien negative gesundheitliche, psychische und soziale Wirkungen durch den vermehrten Einsatz digitaler Geräte im Unterricht. Jetzt ist der Zeitpunkt, dass die Schulpolitik auf die Pädagogen und Kinderärzte dieses Landes hört und den Versuch des digitalen Unterrichts abbricht! In Schweden ist es bereits so weit: Die schwedische Bildungsministerin stoppte den Tablet-Einsatz in der Primarstufe. Das können die Kultusminister:innen in den Ländern nun auch tun.“

Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch die schwedische Regierung korrigierte 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professor:innen des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung von Schulen in einem Gutachten als falsch kritisierte: Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die behaupteten positiven Befunde nicht belegbar seien. Die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe. Die Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: „Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen“ (Gutachten des Karolinska-Instituts von 2023, einer der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt).

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) hat 2023 Leitlinien zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend herausgegeben, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie von vielen Fachverbänden aus Medizin, Psychologie und Suchtprävention mitgetragen werden. Die wichtigste Empfehlung für alle Altersstufen: Reduktion der Bildschirmzeiten, keine eigenen Geräte für Kinder und keinen unkontrollierten, unbegleiteten Zugang zum Internet.

Der U.S. Surgeon General (oberste Gesundheitsbehörde in den USA) hat 2023 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Sie zeigt detailliert auf, wie stark junge Menschen von digitalen Medien beeinflusst und abhängig werden. Die immer längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter habe Folgen für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Körperunzufriedenheit, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Depression.

Kontakt für Rückfragen: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Redaktionsleitung Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
ralf.lankau@bildung-wissen.eu

Der Moratoriumsaufruf in voller Länge und mit allen Erstunterzeichnern

Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Manfred Fischer, Berlin, 1.5.2023

Der folgende Beitrag nimmt den gescheiterten Bildungsgipfel zum Anlass, insbesondere den beachtlichen Einfluss der sogenannten Bildungsstiftungen auf die Politik kritisch zu kommentieren und die Frage zu verfolgen, welchen Interessengruppen dadurch das Wohl der Schülerinnen und Schüler anvertraut wird. 

Die Sozialpartner DGB und BDA schrieben in einer gemeinsamen Stellungnahme am 13.03.2023: „Von der `Bildungsrepublik Deutschland´, die bereits 2008 von der Bundeskanzlerin und den Ländern ausgerufen worden ist, sind wir 15 Jahre später immer noch meilenweit entfernt.“

Die damals gesteckten Ziele beim Bildungsgipfel vom 22.10.2008 wurden bis heute allesamt „deutlich verfehlt“: Halbierung der Anzahl der Schulabgänger ohne „Hauptschulabschluss“ von 8 Prozent auf 4 Prozent, Halbierung der Zahl der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung von 17,0 Prozent auf 8,5 Prozent sowie die Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Jedoch das Ziel, „die Studienanfängerquote im Bundesdurchschnitt auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu steigern“ war bereits 2008, im Jahr des Bildungsgipfels, mit 40,3 Prozent erreicht. Diese Quote wurde in den Folgejahren von Jahr zu Jahr deutlicher übertroffen. Jedoch nicht nur für Berlin gilt: Die wundersame Leistungssteigerung wurde durch Niveausenkung erkauft! Deutlich wird dies auch durch die hohen Studienabbruchquoten von bis zu 50 Prozent in den Naturwissenschaften.

„Reformprozesses im Bildungswesen“ nach den Vorgaben der „Bildungs“-Stiftungen

Wie aus einer Pressemitteilung vom 14.03.2023 zu entnehmen ist, appelliert ein „breiter Kreis aus [17] Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften an den Bundeskanzler und die Regierungschef:innen der Länder, mit einem Nationalen Bildungsgipfel einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten.“ Die Initiatoren des Appells waren die Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Karg-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland sowie die Wübben Stiftung. [1] Die Akteure sind meinungsstarke und kapitalkräftige Stiftungen, deren Aktivitäten Christian Füller im „Tagesspiegel“ so überschreibt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“.

Betrachtet man die mit den Stiftungen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer, entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel“. Die Stiftungen öffnen durch ihre Medienpräsenz und die sich wiederholenden „Botschaften“, „öffentlichkeitswirksamen Studien“ und „Handlungsempfehlungen“ sowie durch das „Anprangern von Missständen“ die Türen für das milliardenschwere Bildungs- und Testgeschäft der Unternehmen. In den „technologiebasierten Innovationen“ für Lernen, Unterricht und Schule, die Technologien wie „Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics“ nutzen, liegt nicht, wie die Akteure behaupten, verheißungsvoll die Lösung, sondern oft das Problem! Der Einsatz dieser Technologien soll das Bildungssystem „revolutionieren“.

Von den Stiftungen wird vordergründig und vermeintlich selbstlos in ihren „Botschaften“ hervorgehoben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen, und den Lehr- und Fachkräften im Bildungsbereich wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Es geht jedoch den Stiftungs-Akteuren darum, die „digitalen Bildungskonzepte“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Kitas und Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion.

Euphemistisch schreiben die Initiatoren in ihrem Appell, dass auf dem von ihnen eingeforderten „Nationalen Bildungsgipfel“ neben dem Bundeskanzler „alle relevanten Akteure“ vertreten sein sollen. Festzuhalten ist: Nur ein ergebnisoffener Dialog auf Augenhöhe, ohne interessenbezogene Auswahl von Experten und Teilnehmern könnte zielführend sein. Jedoch eine entgegengesetzte, verschleiernde Vorgehensweise wurde z.B. bei der Trend-Studie „KI@Schule“ im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung praktiziert. Dort wurde die Auswahl der Experten und Teilnehmer mit dem Auftraggeber abgestimmt! [2] Auch ein Austausch in „gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“ wäre zu begrüßen, doch die Akteure haben schon längst die Steuerung des „Reformprozesses“ im Bildungsbereich übernommen! Deutlich wird dies auch in einem Interview im „Tagesspiegel“. Beim geforderten Nationalen Bildungsgipfel setzt der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung Thomas de Maizière nur auf eine „öffentliche Begleitung“ und darauf, dass man sich „informell miteinander“ austauscht. [3]

Die Akteure schreiben auf der website des „Forum Bildung Digitalisierung“, einem Netzwerk, in dem die meisten Initiatoren des Appells vereint sind: „Auf politischer Ebene war insbesondere die Übernahme zahlreicher Positionen des Forums in der ergänzenden Empfehlung `Lehren und Lernen´ zur Strategie `Bildung in der digitalen Welt´ der Kultusministerkonferenz (KMK) ein großer Erfolg.“ [4] Um die Quellen zu verschleiern, macht die KMK in ihrem Bericht [5] keine Angaben zu den Autoren! So ist auch in dem oben genannten Interview nicht verwunderlich, dass der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung von Lob und Anerkennung gegenüber der KMK spricht, da sich die KMK durch „externe Beratung“ selbst auf den „Prüfstand“ stelle.

Der geforderte „grundlegende Reformprozess im Bildungswesen“ ist von den Stiftungen längst vorformuliert, ein „Neustart in der Bildung“ durch eine „digitale Transformation und systemische Veränderungen im Bildungsbereich“ längst beschlossene Sache. Die Frage stellt sich: Wem nutzt es?

Von der Bedeutung im Bildungsprozess von „sinnstiftendem Lernen in tragfähigen Beziehungen“, „wirklichen Lernzeiten in der Klassengemeinschaft“, der „Weltdeutung der Kinder und ihrer Familien“ [6] sowie über den Erwerb der Fähigkeiten wie Anstrengungsbereitschaft, Konzentration, Kreativität, Mitgefühl ist keine Rede. Dies sind aber die Grundlagen auf dem Weg hin zu einer wirklichen Bildung. Den positiv besetzten Begriff „Bildung“ nutzen die Akteure 32mal in dem zweiseitigen Appell. Das kann vordergründig beeindrucken, eine inhaltliche Auseinandersetzung wird jedoch vermieden! Die „Bildungs“-Stiftungen sind auch hier Meister im Verschleiern ihrer wirklichen Absichten – denn „Bildung“ ist ihr Geschäft.

Bei den bildungspolitisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ist „keine Ernsthaftigkeit bei der Problemlösung“ in Schule und Bildung zu erkennen, bemerkt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz. Einige verlieren sich in „persönlichen Profilierungsversuchen“, so die zum Bildungsgipfel noch amtierende KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse. Sie alle werden ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht gerecht! Das Wohl der Kinder, der Schülerinnen und Schüler, der Lehr- und Fachkräfte haben sie seit Jahren allesamt aus dem Auge verloren. Den Verheißungen und den ökonomischen Vorstellungen der „Bildungs“-Stiftungen oder deren Protagonisten jedoch jetzt blind zu folgen, ist nicht die Lösung! Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen und nicht um die Umsetzung der Interessen der international agierenden Education Technology-Unternehmen.


[1] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52.

[2] Siehe dazu die Kurzfassung der Studie: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[3] TSP, 24.04.2023, Interview mit Thomas de Maizière: „Es ist höchste Zeit, das Bildungssystem zu ändern“ von Susanne Vieth-Entus und Tilmann Warnecke.

[4] Siehe dazu eine Kurzfassung: Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

[5] https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09-Lehren-und-Lernen-Digi.pdf

[6] Siehe dazu: FAZ, 13.04.2023, „Messen macht noch keine Bildung“ oder „Offener Brief von Bildungswissenschaftler:innen und Fachdidaktiker:innen an die KMK gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses“

Den ausführlichen Bericht „Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ in der PDF-Datei