Archiv der Kategorie: Hattie-Studie, Kommentare

Mathematikunterricht im internationalen Vergleich.

Ergebnisse aus der TALIS-Videostudie Deutschland.

Grünkorn, Juliane [Hrsg.]; Klieme, Eckhard [Hrsg.]; Praetorius, Anna-Katharina [Hrsg.]; Patrick Schreyer [Hrsg.], Frankfurt am Main: DIPF, Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation 2020 [1]

Zusammenfassung der Forschungsstudie für Schulforum-Berlin [2]


Die TALIS-Videostudie ist die erste internationale Untersuchung, die einen Blick in Klassenzimmer auf drei Kontinenten wirft und zugleich Aussagen zu den Wirkungen des Unterrichts, zu Lernprozessen und Lernergebnissen der beteiligten Schüler*innen gestattet. (TALIS-Studie, S. 36)

Die TALIS-Videostudie Deutschland ist ein Forschungsprojekt der Leibniz-Gemeinschaft, das an die internationale Videostudie „Teaching and Learning International Survey (TALIS-Video)“ der OECD anschließt. Am Beispiel der Unterrichtseinheit zum Thema „quadratische Gleichungen“ hat das verantwortliche Forschungsteam dafür unter anderem Unterrichtsstunden per Video aufgezeichnet und ausgewertet und diese mit Leistungstests und Befragungen der Schüler*innen sowie der Lehrkräfte verknüpft.

Weitere Erhebungen der internationalen Studie fanden in Chile, China, England, Japan, Kolumbien, Mexiko und Spanien statt. In Deutschland nahmen 50 Klassen/Lehrkräfte mit insgesamt 1140 Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 15 Jahren teil. Die 38 teilnehmenden Schulen waren über sieben Bundesländer verteilt. An der Studie waren aus den teilnehmenden Staaten insgesamt 700 Lehrkräfte beteiligt. Die Stichprobe ist aufgrund des aufwändigen Designs der Studie und der freiwilligen Teilnahme nicht repräsentativ.

Ziel der Studie war es, aus deutscher wie aus internationaler Perspektive mehr darüber zu lernen, was erfolgreichen Mathematikunterricht ausmacht – erfolgreich aus der Perspektive der beteiligten Lehrkräfte und Schüler*innen, aus Sicht externer, geschulter Beobachter*innen und nach gemessenen Lernergebnissen wie Leistung und Fachinteresse. (S. 3)

Als Ausgangspunkt der Studie stellt das Forschungsteam die Frage: „Was verstehen wir unter Unterrichtsqualität?“ und fassen zusammen:

Die empirische Forschung zur Unterrichtsqualität beschreibt Schulunterricht häufig nach drei grundlegenden Dimensionen. Dies sind:
Klassenführung, konstruktive Unterstützung und kognitive Aktivierung.

Auch die TALIS-Videostudie Deutschland greift diese drei Basisdimensionen des Unterrichts auf, um Unterricht zu beschreiben und seine Wirkungen zu untersuchen.

Gute Klassenführung beinhaltet, klare Regeln für erwünschtes Verhalten von Schüler*innen einzuführen, insbesondere für deren aktive Beteiligung und Aufmerksamkeit, dieses Verhalten durch eine gute Organisation der Lernaktivitäten, durch Routinen und Rituale zu stützen sowie Störungen rechtzeitig zu erkennen und präventiv zu vermeiden. Dadurch wird Unterrichtszeit tatsächlich zu Lehr- und Lernzeit, so dass den Schüler*innen mehr Lerngelegenheiten eröffnet werden bzw. sie diese intensiver nutzen können. Aktive Lernzeit ist einer der stärksten Prädiktoren für Lernzuwächse. (S. 6)

Konstruktive Unterstützung umschließt zum einen sozioemotionale Aspekte wie eine positive Beziehung zwischen Schüler*innen und ihren Lehrkräften sowie einen wertschätzenden Umgang der Schüler*innen und Lehrkräfte miteinander. Damit sollen vor allem die psychosoziale Entwicklung und motivationale Merkmale wie das Interesse gefördert werden. (S. 6)

Die kognitive Aktivierung der Schüler*innen ist als hoch einzuschätzen, wenn der Unterricht auf Verstehen und schlussfolgerndes Denken ausgerichtet ist, wenn die Lernenden mit herausfordernden Inhalten konfrontiert werden, zugleich aber an ihr Vorwissen und ihre Erfahrungswelt angeknüpft wird. Anspruchsvolle Aufgaben und diskursive Auseinandersetzungen können beispielsweise kognitive Konflikte auslösen, die zu einer tiefen kognitiven Verarbeitung, zur Re-Organisation und Erweiterung des Wissens führen. Ein kognitiv aktivierender Mathematikunterricht sollte mathematische Konzepte gut strukturiert und mit geeigneten Repräsentationsformaten einführen, sie systematisch verknüpfen, in verschiedenen Kontexten anwenden und üben und dabei unterschiedliche Lösungswege zulassen. (S. 6)

Die drei Basisdimensionen des Unterrichts:  1. Klassenführung, 2. konstruktive Unterstützung und 3. kognitive Aktivierung werden in der Studie jeweils noch weiter differenziert. Sie werden anhand der aufgezeichneten Unterrichtsvideos durch geschulte Beobachter*innen mithilfe der verschiedenen zuvor festgelegten und beschriebenen Kriterien beurteilt.

1. Klassenführung

In der Unterrichtsforschung wird die Qualität der Klassenführung über ein breites Spektrum unterschiedlicher Kriterien erfasst. Die TALIS-Videostudie Deutschland verwendet drei Kriterien die ausführlich beschrieben werden (TALIS-Studie, Abbildung 5, S. 15). Dies sind:

1. Routine, 2. Monitoring und 3. Umgang mit Störungen.

1. Routinen: Sind Routinen erkennbar, die den Unterrichtsfluss unterstützen und die Übergänge zwischen verschiedenen Arbeitsformen oder das Austeilen von Materialien effizient gestalten? Eine hohe Bewertung (4) bedeutet, dass Routinen erkennbar waren, die gut organisiert waren und zeitlich effizient umgesetzt wurden. Niedrig (1) hingegen wurden Routinen eingeschätzt, die wenig organisiert schienen und durch die Unterrichtszeit verloren ging. (S. 15)

2. Monitoring: Nimmt die Lehrkraft kontinuierlich wahr, was im Klassenraum geschieht, um gegebenenfalls schnell reagieren und die Aufmerksamkeit der Schüler*innen auf das Lernen lenken zu können? Das Monitoring wurde daraufhin eingeschätzt, ob die Lehrkraft stets den gesamten Klassenraum im Blick behält, physische Nähe zu den Schüler*innen wahrt, möglichst viele Schüler*innen in das Unterrichtsgeschehen einbindet und Unterschiede im (Lern-) Verhalten der einzelnen Schüler*innen wahrnimmt. (S. 15)

3. Umgang mit Störungen: Treten Störungen in der Klasse auf und falls ja, wie effektiv werden diese von der Lehrkraft unterbunden? Eine hohe Bewertung (4) deutet darauf hin, dass entweder keine Störungen aufkamen oder die Lehrkraft zügig auf diese reagierte, sodass keine Unterrichtszeit verloren ging. Niedrig (1) fiel die Bewertung aus, wenn auftretende Störungen nicht effektiv unterbunden wurden und ein erheblicher Teil der Unterrichtszeit dadurch verloren ging. (S. 15)

TALIS-Studie, Abbildung 5, S.15

Die Abbildung 5 dokumentiert, dass für Deutschland vor allem beim Umgang mit Störungen (3,82), aber auch beim Einsatz von Routinen (3,74) sehr hohe Werte erreicht wurden. Für den Bereich Monitoring ergaben sich leicht niedrigere Werte (3,44).

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Förderung von bewährten Unterrichtsmethoden

Was kommt heraus, wenn eine Schule sich strikt nach Hattie und Co. ausrichtet? Ein bemerkenswert traditionell arbeitendes Kollegium

NEWS4TEACHERS, 21.03.2019, Andrej Priboschek

Auf dem Deutschen Schulleiterkongress (DSLK) stellte der Aschaffenburger Direktor Michael Lummel sein Prinzip einer strikt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeitenden Schule vor. Das Erstaunliche: Heraus kommt ein wohltuend konservatives Gymnasium, das auf Förderung und bewährte Unterrichtsmethoden setzt – sich gleichwohl vor Innovationen nicht verschließt. Aber nur dann, wenn sie nachweislich Erfolg versprechen.

Inoffizieller Auftakt zum Deutschen Schulleiterkongress vom 21. bis 23. März 2019 in Düsseldorf: Am „Vor-Kongress-Tag“ vor der offiziellen Eröffnung stehen Workshops für Schulleitungen auf dem Programm. Einerseits zur  Selbstoptimierung von Führungskräften:  darunter „Ihre Strategie für mehr Gelassenheit im Leistungsalltag“, „Werkzeugkoffer Körpersprache“ oder (stark besucht!) „Wenn es knallt … – Überwinden Sie Widerstand und Verweigerung im Kollegium mit Ihrer Konfliktmanagementstrategie“. Andererseits Programme zur Schulentwicklung: „Entwickeln Sie einen Masterplan zur Digitalisierung Ihrer Schule“ [siehe auch nachfogender Beitrag auf Schulforum-Berlin] etwa oder „Ihr Konzept für mehr Zusammenhalt im multiprofessionellen Team“.

Unter den Referenten fällt ein Schulleiter auf – Michael Lummel, Direktor des Friedrich-Dessauer Gymnasiums in Aschaffenburg. Er präsentiert ein besonderes Thema: sich selbst, genauer: seine Art, die Schule nach wissenschaftlichen Kriterien zu leiten. Titel des Workshops: „Ohne Fleiß kein Preis! Von der Hattie-Theorie zur Entwicklungsstrategie für Ihre Schule“.

Mit der „Hattie-Theorie“ sind die Erkenntnisse von John Hattie gemeint, dem wohl berühmtesten Bildungsforscher der Welt. Der neuseeländische Professor hat 50.000 Studien mit den Daten von insgesamt 236 Millionen Schülern zu einer Meta-Studie zusammengefasst und daraus Erkenntnisse gezogen,  welche Maßnahmen in Schule und Unterricht tatsächlich leistungsfördernd wirken.  Für Schulleiter Lummel bieten Hattie und die empirische Bildungsforschung überhaupt „einen inneren Kompass“, nach dem er Entscheidungen ausrichten kann. Heraus kommt nach Lummels Schilderung eine Schule, die in vielen pädagogischen Fragen konservativer tickt, als man zunächst annehmen könnte. Gleichwohl lassen sich Schulleitung und Kollegium hin und wieder auch auf Neuerungen ein, die exotisch anmuten – tatsächlich aber stets wissenschaftlich begründet werden können.

Der Reihe nach: „Häufig ist nicht der Widerstand gegen Reform das Problem, sondern die unkritische Akzeptanz von zu viel Innovation“, sagt Lummel. Anders ausgedrückt: „Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben.“ Ob die Neuerung aber tatsächlich die Lernergebnisse verbessert, werde selten im Vorhinein eruiert – mit der Folge, dass allzu häufig echte Erfolge ausblieben und sich Erschöpfung und Frustration unter den Akteuren breitmache.

Ein Beispiel: offener Unterricht. Schulen, in denen Kinder in „Lernlandschaften“ sich selbstständig und interessengeleitet Wissen aneignen sollen, würden mit Schulpreisen bedacht und in Medien gefeiert. Die Ergebnisse der empirischen Forschung aber seien diesbezüglich „extrem ernüchternd“. In Mathematik beispielsweise sei ein Unterricht „durch einen Lehrer, der’s studiert hat und der den Stoff strukturiert, deutlich besser als zu sagen: Erarbeitet Euch das mal selber“. Auch der immerzu geforderte Realitätsbezug in Mathe sei zwar „am Zeitgeist orientiert“ – habe aber bei Hattie eine Effektstärke nahe null ergeben. Mit anderen Worten: bringt praktisch nichts. („Herr Lummel, Sie haben mein Leben zerstört“, so habe eine Referendarin ihm diese Erkenntnis quittiert, berichtet er lächelnd). „Lasst es auch ruhig mal abstrakt sein“, schlussfolgert der Direktor, selbst ursprünglich Lehrer für Englisch und Geschichte.

“Muss das auch noch sein?”

Hohe Effektstärken – und pädagogische Erfolge in der Praxis seiner Schule – brächten dagegen eher tradierte Lernformate, Förderkurse für „Wackelschüler“ beispielsweise (und die dann auch zumeist frontal). Diese „Direct Instruction“ bedeute aber nicht, dass der Lehrer stundenlang vor sich hin doziere – im Gegenteil: Kurze, knackige Erklärungsphasen. Und dann: möglichst viel Übungszeit [siehe dazu mehr auf Schulforum-Berlin]. Sogar Leseförderung haben Lummel und sein Kollegium deshalb an seiner Schule eingeführt – an einem Gymnasium, das gute Schüler voraussetzt, eine ungewöhnliche Maßnahme. Gleichwohl reifte im Kollegenkreis die Erkenntnis, dass geschätzt zehn Prozent der Kinder nicht als ausgereifte Leser aus der Grundschule kommen – das dann eingeführte Förderkonzept baut, natürlich, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Ebenso übrigens wie eine Innovation, die ihm selbst zunächst ein gernervtes „Muss das auch noch sein?“ entlockt habe, gestand Lummel. Ein Lehrer seines Kollegiums sei zu ihm gekommen und habe Hometrainer für seine Klasse haben wollen. Lummel ließ sich durch die Expertise der Universität Wien überzeugen, dass die Sportgeräte im Unterricht wirklich gesundheits- und konzentrationsfördernd seien. Ergebnis, so Lummel: „Das war in den vergangenen zwei Jahren unsere beliebteste Klasse.“

Mitunter stößt aber die Wissenschaftlichkeit auch an Grenzen – bei der Frage beispielsweise, ob die Schule das Doppelstundenprinzip einführen soll. Er habe alle namhaften Bildungsforscher in Deutschland kontaktiert und gefragt, ob Einzel- oder Doppelstunden grundsätzlich lernförderlicher seien, berichtete Lummel, aber von allen die Antwort erhalten: keine Ahnung, das haben wir nicht erforscht. Für Lummel hieß das in der Konsequenz: keine Umstellung des gesamten Stundenplans. „Wenn ich eine Reform angehe“, so der Schulleiter, „dann brauche ich Hinweise, dass die wirklich etwas bringt. Sonst lasse ich’s.“

Der Deutsche Schulleiterkongress (DSLK) ist die jährlich stattfindende Leitveranstaltung für schulische Führungskräfte in Deutschland.

Grau unterlegte Einschübe und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.
zum Artikel: NEWS4TEACHERS

Mehr zu den Forschungsergebnissen von John Hattie unter: https://schulforum-berlin.de/category/hattie-studie-visible-learning/

Hattie-Studie – Lehrerhandeln – Guter Unterricht – Schulstrukturen

Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie, interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt

„Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. (…) Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts!“


Andreas Helmke: Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass die Studie von Hattie einen Meilenstein der empirischen Forschung zum Lehren und Lernen darstellt. (…) darüber, dass es sich hier um eine monumentale Leistung handelt, um Aussagen auf der Grundlage einer noch nie jemals dagewesenen Datenbasis, gibt es eigentlich keinen Dissens. (…)

Reinhardt: Was sind für Sie die wichtigsten Aussagen der Studie?

Helmke: Am wichtigsten finde ich die Botschaft der Evidenzbasierung. Allzu oft wurden und werden gerade in der Bildungspolitik Behauptungen aufgestellt, Reformen inszeniert und Programme implementiert, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, welchen Ertrag man sich davon versprechen kann. Ich denke, dass die Hattie-Studie dazu beiträgt, stärker als bisher empirisch zu denken. Dazu gehört auch, dass man laufende Maßnahmen und Projekte sorgfältig evaluiert anstatt darauf zu vertrauen, dass sie schon irgendwie Erfolg haben werden. (…)

Ein zweites Hauptergebnis ist aus meiner Sicht, dass es für den Lernerfolg weniger auf strukturelle, organisatorische, methodische und finanzielle Aspekte ankommt, sondern auf Aspekte der Qualität des Unterrichts und der Lehrpersonen. Das bedeutet zum Beispiel, dass bestimmte Methoden und Szenarien der Gestaltung von Unterricht – wie Individualisiertes Lernen – an sich keine Garanten für Lernerfolg sind. (…)

Drittens ist deutlich geworden, wie wichtig die Einschätzung der Unterrichtsqualität aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler ist. (…) Versuche, den Unterricht weiterzuentwickeln, ohne dabei die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, waren schon bisher fragwürdig, nach Hattie sind sie erst recht nicht mehr zeitgemäß.

Ein viertes Hauptergebnis ist, dass die erfolgreichsten Szenarien eine besonders aktive Lehrperson vorsehen. Reziproker Unterricht, Lernen durch Lehren und viele andere lernwirksame Settings und Szenarios erfordern von der Lehrperson nicht nur eine besonders gute Vorbereitung, die Einübung von Regeln, sondern mehr: Vormachen, etwa durch lautes Denken, damit die Schüler am Modell lernen können. Und Wachsamkeit, höchste Aufmerksamkeit, um gegebenenfalls, wenn etwas schief läuft, behutsam eingreifen zu können. Mit der von manchen Pädagogen geschätzten Vorstellung eines Lehrers, der das Lernen der Schüler bestenfalls begleitet und ansonsten darauf setzt, dass die Schüler das Richtige zur richtigen Zeit schon selbst entdecken werden, ist dieses Konzept allerdings nicht kompatibel. (…)

Reinhardt: Heißt das: Wir sollen zurück zum lehrergelenkten Unterricht?

Helmke: (…) Unterschiedliche Bildungsziele und Kompetenzen erfordern natürlich einen guten Mix, eine angemessene Balance von Instruktion und Konstruktion, von eher lehrer- und eher schülergelenkten Phasen des Unterrichts. Wie erfolgreich ein lehrergelenkter, aber stark schülerzentrierter Unterricht sein kann, zeigt das Ergebnis zur Direkten Instruktion, die lange Zeit zu Unrecht gebrandmarkt wurde. Hattie legt übrigens ausführlich dar, dass Direkte Instruktion [siehe Anmerkung am Ende des Interviews] überhaupt nicht gleichbedeutend ist mit einer Monokultur des Frontalunterrichts. Im Durchschnitt ist die Methode der Direkten Instruktion effektiver und auch ökonomischer als darauf zu vertrauen, dass Schüler ihren Lernstoff selbst auswählen und Neues ohne fremde Hilfe entdecken. (…) Die Forschung dazu zeigt, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten und defizitären Sprachkompetenzen unbedingt eine starke Struktur, eine klare Führung, ein kognitives Gerüst und viele kurzschrittige Hilfen, Anregungen und Rückmeldungen benötigen, ansonsten sind sie verloren. (…)

Reinhardt: Ist damit der dominante Lehrer rehabilitiert?

Helmke: Ich würde es so ausdrücken: Lehrer sind Experten für das Lehren und Lernen, sie haben eine klare Führungsaufgabe und sind nicht Lernpartner auf Augenhöhe. Ja, laut Hattie ist ein erfolgreicher Lehrer ein kontinuierlicher Diagnostiker, ein aktiver Lenker von Lernprozessen, ein Regisseur – der aber genau weiß, wann er schweigen und den Schülern das Feld überlassen muss. (…)

Reinhardt: Wie wichtig ist das Feedback laut Hattie-Studie? Um welches Feedback geht es Hattie?

Helmke: Feedback ist nach Hattie das A und O beim Lernen. Und zwar viel umfassender als man zunächst annehmen würde, weil man häufig nur das Feedback im Auge hat, das der Lehrer dem Schüler gibt. Mindestens ebenso wichtig ist das Feedback, das der Schüler dem Lehrer gibt, sowohl im Hinblick auf den eigenen Lernprozess als auch bezogen darauf, wie er den Unterricht wahrnimmt. (…) Im Gegensatz zu Lob, das personenbezogen ist, ist Feedback auf den Lernprozess, auf die Sache, die Aufgabe bezogen. Dabei kommt es darauf an, dass die nächsten Schritte klar werden, andernfalls wird Feedback von Schülern nicht genutzt.

Reinhardt: Sie sind ja einer der profiliertesten deutschen Bildungswissenschaftler. Stimmen die Ergebnisse der Hattie-Studie mit Ihren eigenen Studien zur Wirksamkeit von Unterricht überein? Gibt es denn Forschungsergebnisse der Hattie-Studie, die mit Ihren eigenen Untersuchungen nicht zusammen passen?

Helmke: Vieles von dem was Hattie zur Unterrichtswirksamkeit sagt, kannte ich aus den zugrunde liegenden Studien natürlich auch schon, vielfach handelt es sich um „Klassiker“. Ich sehe überhaupt keine Widersprüche, im Gegenteil, ich bin entspannt, weil unsere eigenen Publikationen sowie unsere Werkzeuge zur Unterrichtsdiagnostik (wie EMU = Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung) ganz auf der Linie von Hattie liegen. (…)

Reinhardt: Die letzten Jahre waren in Bezug auf die Rolle des Lehrers/der Lehrerin stark geprägt von Begrifflichkeiten wie „Lernbegleiter, Coach, Berater, Moderator“. Kann man aus der Studie ableiten, dass diese Vorstellungen nun obsolet sind?

Helmke: Viele der besonders lernwirksamen Lehr-Lern-Szenarien sind durch eine ausgesprochen aktive Rolle der Lehrperson gekennzeichnet. Deshalb charakterisiert Hattie den erfolgreichen, lernwirksam unterrichtenden Lehrer als Regisseur, als Aktivator, als change-agent im Gegensatz zur bloßen Begleitung. Hatties Motto ist: Lehrerzentrierter, aber ausgesprochen schülerorientierter und schüleraktivierender Unterricht. (…) Was schon vorher unprofessionell und nach Hattie erst recht nicht mehr legitimierbar ist, das ist jedoch die Verabsolutierung eines Unterrichtsstils. Lehrer nur als Begleiter oder Lernpartner, oder Lehrer nur als Dozenten oder Instrukteure, das ist unhaltbar.

Reinhardt: Welche Rolle spielt die Fachkompetenz des Lehrers/der Lehrerin?

Helmke: (…) Ohne sehr gute fachliche und fachdidaktische Kompetenzen dürfte es aussichtslos sein, dem Hauptanliegen von Hattie zu entsprechen: dem einzelnen Schüler ein individuelles, lernförderliches Feedback zu geben und das vom Schüler an die Lehrperson adressierte Feedback wirklich zu verstehen. Ohne Verständnis der Grundlagen des Faches, ohne Kenntnis alterstypischer Fehler und misconceptions ist das kaum möglich. (…)

Reinhardt: Werden diese weiteren Ziele, also zum Beispiel Erziehung zur Mündigkeit, Demokratiekompetenz, soziales Lernen, Ästhetik, durch solche großen Studien an den Rand gedrängt. Werden sie damit auch im Schulalltag unwichtiger werden?

Helmke: Ich hoffe nicht! Aber ich fürchte, man muss aktiv gegensteuern, damit genau das nicht eintritt, dass also der Blickwinkel auf die Qualität der Schule und des Unterrichts und ihrer Wirkungen nicht einseitig und verengt nur auf schulische Leistungen gerichtet ist. Angesichts der Bildungsstandards und flächendeckender Vergleichsarbeiten und der Fokussierung auf messbaren Lernerfolg durch die Hattie-Studie sehe ich da durchaus eine Gefahr. Die Qualität von Schule und Unterricht muss sich eben auch daran messen lassen, ob und in welchem Ausmaß andere wichtige Bildungsziele erreicht, Kompetenzen gefördert, Werte vermittelt und Orientierungen gegeben werden. Gerade soziale Kompetenzen und Orientierungen wie Hilfsbereitschaft, Empathie, Mitleid, Teamfähigkeit, aber auch eine gesunde Durchsetzungsfähigkeit sind wichtige Ziele, nur dass sie sich nicht so einfach und schon gar nicht schriftlich per Test messen lassen wie fachliche Kompetenzen.

Reinhardt: In Baden-Württemberg [und anderen Bundesländern] gibt es seit geraumer Zeit heiße Diskussionen um die Einführung der Gemeinschaftsschule. Sagt die Hattie-Studie etwas über gelingende Schulstrukturen aus?

Helmke: Eine der zentralen Botschaften Hatties ist ja, dass strukturelle, organisatorische und finanzielle Faktoren Oberflächenmerkmale sind, die per se nicht oder nur wenig lernwirksam sind – im Gegensatz zu den besonders effektiven Tiefenmerkmalen der Unterrichtsqualität. Das spricht nicht gegen die Gemeinschaftsschule, es dämpft nur den unangebrachten Optimismus, das Errichten einer solchen Schule sei schon eine Art Garantie für den Erfolg. Wie gesagt, auf die Lehrer und auf den Unterricht kommt es an! Mit anderen Worten: Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. (…) Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts! (…)

Reinhardt: Was charakterisiert denn nun guten Unterricht?

Helmke: Gut im Sinne von Hattie, also lernwirksam, ist ein Unterricht, (1) in dem den Schülern viel zugetraut, aber auch zugemutet wird, (2) in dem jeder einzelne Schüler an die Grenzen seines Potenzials geführt wird, (3) der alle Möglichkeiten nutzt, sich im Austausch mit Kollegen kontinuierlich ein Bild der Lernprozesse der Schüler sowie des eigenen Lehrens zu machen, (4) der durch strukturierte, effiziente, störungspräventive Klassenführung geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen schafft und (5) der in einem Klima stattfindet, das durch Fürsorge, Respekt, Wertschätzung und Freundlichkeit gekennzeichnet ist. (…)

Reinhardt: Kann man auch Erkenntnisse für eine gute Schule aus der großen Metaanalyse von Hattie ableiten?

Helmke: Schulen, die sich die Erkenntnisse von Hattie zu eigen machen, sind solche, in denen zentrale Prinzipien eines lernförderlichen Unterrichts bewusst thematisiert und realisiert werden. (…) Und schaut man sich die Ergebnisse zur Rolle der Schulleitung bei Hattie differenziert an, dann zeigt sich, dass eine unterrichtsbezogene Führung, verbunden mit starken Bemühungen um ein störungsfreies Lernklima, hohe Erwartungen an Lehrpersonen und herausfordernde Ziele für Lernende, besonders lernwirksam sind.

[Hervorhebungen im Text durch den Autor]

Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau.

Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten

Zum Artikel:  Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15


Erläuterungen zur Aussage von Prof. Helmke zur „Direkten Instruktion“ (siehe John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2015, S. 242ff):

Die „Direkte Instruktion“ (= lehrerzentrierte Lenkung des Unterrichtsgeschehens. Die Lehrperson ist in allen Lernprozessen präsent. Ein solcher Unterricht darf nicht mit einem fragengeleiteten Frontalunterricht verwechselt werden) besteht nach Hattie aus sieben Schritten, und zwar aus:

•  Klaren Zielsetzungen und Erfolgskriterien, die für die Lernenden transparent sind;
•  Der aktiven Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Lernprozesse;
•  Einem genauen Verständnis der Lehrperson, wie die Lerninhalte zu vermitteln und zu erklären sind;
•  Einer permanenten Überprüfung im Unterrichtsprozess, ob die Kinder bzw. Jugendliche das Gelernte richtig verstanden haben, bevor im Lernprozess weiter vorangegangen wird;
•  Einem angeleiteten Üben unter der Aufsicht der Lehrperson;
•  Einer Bilanzierung des Gelernten auf eine für die Lernenden verständliche Weise, bei der die wesentlichen Gedanken bzw. Schlüsselbegriffe in einem größeren Zusammenhang eingebunden werden;
•  einer wiederkehrenden praktischen Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten.

Beitrag  „Hattie-Studie – Lehrerhandeln – Guter Unterricht – Schulstrukturen“ im PDF-Format zum Herunterladen

Individualisierung verkennt das Potenzial sozialer Kontexte beim Lernen

Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden

Lipowsky_IndividualisierungDr. Frank Lipowsky ist seit 2006 Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel
Dr. Miriam Lotz ist Akademische Rätin im Fachgebiet Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel

Auszüge aus:  Lipowsky, F. & Lotz, M. (2015). Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In G. Mehlhorn, F. Schulz & K. Schöppe (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 155-219). München: kopaed

Die Forderung nach einer stärkeren Individualisierung beim Lernen wird als schul­pädagogische Antwort auf die wachsende Heterogenität von Schulklassen verstanden: Da die Lernenden so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (zsf. Kluczniok, Große & Roßbach 2011, Scharenberg 2012, Trautmann & Wischer 2011), sei es erfor­derlich, die Lernangebote an den Bedürfnissen der einzelnen Schüler auszurichten und die Lernprozesse weitgehend individualisiert zu organisieren (z. B. Hessischer Landtag 2014). (S. 155)

(…) Auch wenn mit dem Begriff der Individualisierung tatsächlich unterschiedliche Be­deutungen assoziiert werden: Gemeinsam scheint diesen Verständnissen zu sein, dass die Anpassung der unterrichtlichen Angebote an die Bedürfnisse einzelner Schüler herausgestellt wird und dass daraus folgend Unterrichtsphasen, in denen die Schüler individuell für sich arbeiten, für bedeutsamer und wichtiger gehalten werden, wäh­rend Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die auf die Auseinandersetzung mit Mitlernenden und die Interaktion mit der Lehrperson angewiesen sind, in den Hintergrund rücken.  (S. 159f)

Nach den bisherigen Studien, die individualisierten Unterricht und Formen von Binnendifferenzierung genauer untersuchen, erfüllen sich die Erwartungen, die man mit diesen Formen des Unterrichts verbindet, nicht in dem erhofften Maße. Hattie (2013) gelangte zum Ergebnis, dass individualisierter Unterricht im Mittel einen lern­förderlichen Effekt von d = 0.23 hat, was einem schwachen Effekt entspricht (zur Be­deutung von Effektstärken vgl. Lotz & Lipowsky in diesem Band [Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht – Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion]). Auch die mittlere Effektstärke für binnendifferenzierenden Unterricht ist mit d = 0.16 nicht größer, das heißt Schüler, die in einem Unterricht mit binnendifferenzierten Angeboten lernen, lernen nicht viel mehr dazu als Schüler in einem Unterricht, in dem keine binnendiffe­renzierende Maßnahmen angeboten werden.

Diese eher geringen Effekte über alle [auch ältere] Studien hinweg überraschen zunächst und werfen die Frage auf, warum sich die Erwartungen, die man mit einer zunehmenden Individualisierung verbindet, vielfach nicht erfüllen. Wie im weiteren Verlauf des Bei­trags dargestellt wird, spricht vieles dafür, dass Individualisierungs- und Differenzie­rungsmaßnahmen im Unterricht deshalb eine so geringe Effektivität haben, weil es an der Qualität der Umsetzung mangelt und weil die entsprechenden Maßnahmen häu­fig nicht vertiefte Lernprozesse auf Seiten der Schüler anstoßen können (…) (S. 162f)

(…) Unterricht im Allgemeinen und Formen von Individualisierung im Besonderen zie­len darauf ab, möglichst alle Lernenden gemäß ihrer individuellen Voraussetzungen zu fördern (Leistungsförderung). Häufig wird mit der Forderung nach einer stärkeren Individualisierung auch die Erwartung verknüpft, dass damit die Leistungsunter­schiede zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern verringert werden können (Leistungsausgleich).

Nach allem, was in der Forschung bislang bekannt ist, sind Formen der Individua­lisierung nicht oder allenfalls bedingt geeignet, die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern zu verringern, sofern man diese kompensatorische Funktion überhaupt als Ziel verfolgt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern, wenn sich der Unterricht durch wenig Lehrerlenkung und wenig Strukturierung auszeichnet, eher weitet. (…) Geöffnete Unterrichtsformen laufen demnach Gefahr, insbesondere die Schüler mit geringeren Vorkenntnissen zu benachteiligen, da die Komplexität der behandelten Probleme und Aufgaben das Arbeitsgedächtnis der Schüler zu stark belastet und damit das Lernen und Verstehen neuer Inhalte erschwert. (…) (S. 167f)

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Lernwirksamer Unterricht

Investitionen in Fortbildung sind Investitionen in die Zukunft

Interview mit dem Kasseler Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Lipowsky
Sabine Stahl für BILDUNG BEWEGT:  Was sind aus ihrer Sicht bedeutsame Erkenntnisse der Metastudie Visible learning?
Lipowsky: Die Studie verdeutlicht einmal mehr, welche Bedeutung die einzelne Lehrperson und der von ihr arrangierte Unterricht für die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern haben. Hattie listet ja eine ganze Reihe von Merkmalen lernwirksamen Unterrichts in sehr kompakter Zusammenfassung auf. Merkmale, von denen die Forschung inzwischen weiß, dass sie die Lernentwicklung von Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen können.
Die zweite Leistung der Studie liegt meines Erachtens darin, deutlich zu machen, dass nicht alles, an was wir glaubten, tatsächlich wirkt. Es gibt bestimmte Mythen, die durch die Studie von Hattie entzaubert werden.
Und die dritte Botschaft lautet, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie die professionelle Weiterentwicklung von Lehrpersonen gefördert und unterstützt werden kann. (…)

Wie sieht denn guter Unterricht aus? Sie sprechen in Ihren Schriften immer wieder vom didaktischen und inhaltlichen Fundament guten Unterrichts.
Guter Unterricht lässt sich umschreiben als ein Unterricht, in dem der Unterrichtsgegenstand inhaltlich klar und verständlich erarbeitet und präsentiert wird, in dem an das Vorwissen und an die vorhandenen Konzepte der Lernenden angeknüpft wird und in dem die Lernenden durch herausfordernde Fragen und Aufgaben dazu angeregt werden, vertieft über den Unterrichtsgegenstand nachzudenken und sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Zu gutem Unterricht gehört auch, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Der Unterricht sollte relativ störungsfrei verlaufen; das zielt in Richtung effektives Classroom Management, und die zur Verfügung stehende Zeit sollte effektiv genutzt werden, so dass überhaupt Lerngelegenheiten zur Verfügung stehen. Amerikaner sprechen hier gerne von den „opportunities to learn“. Es ist klar: Wenn Schülerinnen und Schüler über Tische und Bänke gehen, gibt es keine Gelegenheit zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand. Wichtig ist auch die respektvolle und wertschätzende Beziehung zwischen Schülerinnen und Schülern und der Lehrperson. Verschiedene Studien zeigen, dass ein solches unterstützendes Klima im Unterricht, zu dem z.B. auch der konstruktive Umgang mit Fehlern und das Interesse der Lehrperson an ihren Schülerinnen und Schüler gehört, dass sich ein solches Klima positiv auf die Motivation, das Wohlbefinden und das Engagement der Lernenden auswirkt.
Und die kognitive Aktivierung als dritte Basisdimension beschreibt, wie anregend, inhaltlich substantiell die Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand erfolgt. Man kann sich durchaus einen Unterricht vorstellen, der zwar störungsfrei verläuft und in dem scheinbar viel Lernzeit effektiv genutzt wird, in dem auch das Klima stimmt, aber in dem die Lernenden nicht zu einer vertieften Verarbeitung des Inhalts angeregt und herausgefordert werden, weil sie vorwiegend Routineprozeduren ausführen müssen, und die Lehrperson ein enges, kleinschrittiges Frageverhalten zeigt, das vorwiegend nur auf die Wiedergabe von Fakten abhebt. Und stellen Sie sich jetzt folgendes Bild eines kognitiv aktivierenden Unterrichts vor: Da rauchen die Köpfe der Schülerinnen und Schüler. Da wird argumentiert, kontrovers diskutiert, nachgedacht, erläutert und erklärt, hart über das Thema gestritten, da werden Lösungswege verglichen und analysiert, da wird also insgesamt auf einem relativ hohen kognitiven Niveau gearbeitet… (…)

Wodurch zeichnet sich der erfolgreiche und wirksame Prototyp eines guten Lehrers oder einer guten Lehrerin für Sie aus?
Ein guter Lehrer hat das nötige fachdidaktische und fachliche Wissen. Er plant und bereitet den Unterricht sorgfältig vor. Gute Planung und Vorbereitung sind wichtig. Wie baue ich den Unterricht auf? Was muss im Unterricht thematisiert werden, damit sich für Schülerinnen und Schüler ein Gesamtbild eines Themas ergibt? Wie müssen Teilelemente arrangiert und verbunden werden, welche müssen im Unterricht behandelt werden, damit tragfähige Konzepte entstehen? Solche Dinge entscheiden sich auch, und vielleicht sogar in erster Linie, am heimischen Schreibtisch der Lehrperson [oder besser gemeinsam im Austausch mit Fachkollegen]. Eine gute Lehrkraft ist gewappnet für die Verständnisschwierigkeiten, die bei den Schülerinnen und Schülern auftauchen, und kann flexibel darauf reagieren, hat unterschiedliche Erklärungen und Veranschaulichungen parat, wenn Lernende auf die erste Erklärung nicht reagieren oder wenn sich das Verständnis noch nicht einstellt. Ein guter Lehrer stellt aktivierende Fragen, hört zu, gibt Impulse, aber nimmt nicht alles vorweg. Er sorgt für einen abwechslungsreichen Unterricht und ist begeistert von seinem Fach. Schülerinnen und Schüler spüren das. Eine idealtypische Lehrperson misst der Reflexion über Unterricht und Metakognition hohe Bedeutung bei, reflektiert mit den Lernenden über das Lernen und den Lernprozess.

Welche Konsequenzen ergeben sich für Schule und Unterricht und die Lehrerbildung aus den Erkenntnissen der Lehr- und Lernforschung?
(…) Die Lehr- und Lernforschung kann auch mit einigen Mythen aufräumen, was für die Lehrerbildung ebenfalls bedeutsam ist. Hattie gelangt zu dem Fazit, dass die Auffassung, die Lehrperson sei im Unterricht vorwiegend als Moderator gefragt, die empirische Befundlage nicht wiederspiegelt. Vielmehr sei die Lehrperson eher als „Activator“ gefragt. Er unterstreicht dies mit denjenigen Merkmalen von Unterricht, die vergleichsweise hohe Effekte auf die Lernenden zeigen, wie z.B. inhaltliche Klarheit, Lehrerfragen, verteiltes versus massiertes Üben, direkte Instruktion … das alles sind Merkmale von Unterricht, bei denen die Lehrperson vergleichsweise aktiv ist und den Unterricht lenkt.
Mitunter höre ich bei Diskussionen über direkte Instruktion, das habe man doch schon überwunden, und der Konstruktivismus sage doch, wir müssten eher selbstgesteuert und offen arbeiten. Hier geben die Studien eine klare Antwort: Diese Schlussfolgerung ist in dieser Pauschalität unzulässig. Außerdem: Der Konstruktivismus ist keine Unterrichtstheorie, sondern eine Erkenntnistheorie! Und ein häufiges Missverständnis ist, direkte Instruktion mit einem langweiligen Frontalunterricht gleichzusetzen. Direkte Instruktion kann sehr wohl kognitiv aktivierend, verständnisfördernd und motivationsunterstützend sein. Falsch wäre jetzt allerdings auch, direkte Instruktion zum Allheilmittel zu erklären. Es kommt vielmehr auf eine intelligente Kombination von lehrergelenkten und eher schülerorientierten Unterrichtsformen an. (…)

Welche Form von Fortbildung hat denn überhaupt eine Aussicht, wirksam zu sein?
(…) Nimmt man noch einmal Bezug auf die Ergebnisse der Unterrichtsforschung, so sollte sich Fortbildung auch mit solchen Merkmalen von Unterricht beschäftigen, von denen wir wissen, dass sie positive Effekte auf die Schülerinnen und Schüler haben. Hier kommt dann wieder die Metaanalyse von Hattie ins Spiel. Das hört sich natürlich etwas trivial an, aber wenn man betrachtet, was so alles [an Fortbildungen] angeboten wird…
Eine weitere zentrale Bedingung für den Fortbildungserfolg ist, dass die Erweiterung des fachdidaktischen Wissens von Lehrpersonen im Mittelpunkt stehen sollte. Es geht also darum, dass die Lehrpersonen sich konzentriert und vertieft mit dem Lernen und Verstehen von Schülerinnen und Schüler in einem bestimmten Fach und am besten noch zu einem spezifischen Unterrichtsthema auseinandersetzen sollten. Ein so fokussierter Blick erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Fortbildung tatsächlich Unterschiede im Lernen und Verstehen der Schülerinnen und Schüler wahrnehmen können und einen diagnostischen Blick entwickeln. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten sich also in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hineinversetzen. Sie sollten aufgefordert werden, Lösungswege der Lernenden zu antizipieren. Sie sollte vorhersehen, wie Schülerinnen und Schüler reagieren, wenn die Lehrperson auf eine bestimmte Weise vorgeht. (…)

zum Artikel:  BILDUNG BEWEGT NR.13 JUN/2011, Interview: Sabine Stahl

Frank Lipowsky studierte Lehramt für Grund- und Hauptschulen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und unterrichtete mehrere Jahre an verschiedenen Schulen in Baden-Württemberg. Nach seinem Lehramtsstudium war er Lehrbeauftragter für Mathematik und absolvierte ein Diplom-Pädagogikstudium. Mit einer Arbeit zum beruflichen Erfolg von Lehramtsabsolventen in der Berufseinstiegsphase promovierte er 2003 an der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg. Von 2002 bis 2006 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt. Seit 2006 ist er Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel.

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Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

Schüler mögen keine blassen Lernbegleiter, sie fasziniert die mitreißende Leitfigur

Datum: 16.10.2014
Lob der Klasse
Die verkannten Vorzüge des lehrergeleiteten Lernens. Praktisch nutzbares Wissen braucht Wiederholung, Steuerung und Erfolg
Von Michael Felten, FAZ vom 9.10.2014, Bildungswelten

(…) Die strukturierte Wissenserarbeitung mit dem ganzen, mehr oder weniger heterogenen “Haufen” von Schülern scheint seit längerem überholt, der lenkende Lehrer muss sich zunehmend rechtfertigen. Unter dem Schmähbegriff Frontalunterricht wird diese Unterrichtsform als Ursache aller Schülerpassivität und Lernineffizienz attackiert.

Der neuseeländische Bildungsorscher John Hattie hat für seine Studie “visible learning” über 50000 Studien gesammelt und darin die Wirkung von 134 Einflussgrößen auf den Unterrichtserfolg untersucht. Sein Visionäre beunruhigender, Praktiker aber nicht wirklich überraschender Befund: Im Vergleich zur einer durchschnittlichen Lernprogression (Effektstärke 0,4) erzielen Unterrichtsverfahren wie direkte Instruktion (0,59), während Individualisierung (0,23) oder Freiarbeit (0,04) höchst bescheiden abschneiden. (…)

Der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart: Durch das aktive, herausfordernde Lehrerbild „rehabilitiert Hattie den dominanten, redenden Lehrer – der aber auch genau weiß, wann er zurücktreten und schweigen muss. Die Perspektive auf den Unterricht ist lehrerzentriert.“ Im Mittelpunkt steht ein Lehrer, für den zugleich seine Schüler im Zentrum stehen. Zwar gibt es gute Gründe, den Kennziffern empirischer Bildungsforschung nicht allein zu trauen. Trotzdem wirken die jüngsten Bildungspläne vieler Kultusministerien im Licht der Hattie-Befunde reichlich überholt. Sie sind geprägt von Selbstlerneuphorie, Individualisierungswahn und einer tiefen Abneigung gegenüber dem Unterricht im Klassenverband.

Nicht nur empirische Bildungsforscher, sondern auch moderne Kognitionspsychologen wie Elsbeth Stern sehen den Lehrer keineswegs im Abseits, sondern fordern sein Lenkungshandeln geradezu heraus. Praktisch nutzbares Wissen wie automatisierte Handlungen entwickelt sich vor allem durch Wiederholung, Erfolg, Steuerung und Fehlerkorrektur. Ohne den Wissensträger in der Rolle des Lehrers ist das nur schwer denkbar.

Manche Unterrichtsstunde in Deutschland mag monoton verlaufen, als zu enges Frage-Antwort-Spiel, mit zu geringem Bezug auf unterschiedliche Ausgangslagen der Schüler. Aber was ist mit Motivationsverlust und Mitläufertum bei unstrukturierter Gruppenarbeit, was mit der Überforderung und Oberflächlichkeit verfrühten oder übertriebenen Selbstlernens? Schlechter Frontalunterricht ist gerade kein prinzipielles Argument gegen das Lehren und Lernen im Klassenverband, sondern höchstens eines für dessen Verbesserung. Direkte Instruktion durch den Lehrer meint gerade keinen nervtötenden Paukermonolog, sondern den dynamischen Wechsel von Anknüpfen an Bekanntem, gemeinsamem Erschließen und individuellem Erproben von Neuem, Austausch im Plenum, sowie abschließendem Training in Eigenregie oder in Kleingruppen.

Gewiss bleibt Selbständigkeit ein unumstrittenes Ziel aller Bildung – sie ist nur kein Königsweg dahin. Eigenverantwortlichkeit beim Lernen zahlt sich nach aller Erfahrung erst in höheren Semestern, bei Leistungsstärkeren, nach gründlicher Anleitung und in angemessener Dosierung aus. Dagegen brauchen Schulanfänger, lernunlustige Pubertierende und bildungsfern Sozialisierte zur optimalen Ausschöpfung ihrer Begabung eine Person, die motiviert und erklärt, fordert und unterstützt. Wenn Schüler – vor allem Schwächere – sich häufig “Frontalunterricht” wünschen, dann meinen sie das direkt angeleitete, übersichtliche Vorgehen des Lehrers, ohne Umwege, ohne unergiebige Methodenwechsel, mit vielen Fragephasen und Ergebniskontrollen. Solch ein Klassenunterricht ist auf Lehrerseite weitaus anspruchsvoller als das Austeilen und Nachsehen von Arbeitsblättern und Wochenplänen. “Der Mensch ist für andere Menschen die Motivationsdroge Nummer eins”, urteilt der Freiburger Psychosomatiker Joachim Bauer. Gute Lehrer müssen weitaus mehr sein als Servicepersonal für zufällige Lernbedürfnisse, sie sind Führungskräfte in komplexen Entwicklungsprozessen, beim Erwachsenwerden. Schüler mögen eben keine blassen Lernbegleiter, sie fasziniert die mitreißende Leitfigur – und das lassen sie ihre Lehrer auch spüren.

zum Artikel:  Gesellschaft für Bildung und Wissen, Michael Felten, Lob der Klasse