Archiv der Kategorie: Schule und PISA/OECD

Mathematikunterricht im internationalen Vergleich.

Ergebnisse aus der TALIS-Videostudie Deutschland.

Grünkorn, Juliane [Hrsg.]; Klieme, Eckhard [Hrsg.]; Praetorius, Anna-Katharina [Hrsg.]; Patrick Schreyer [Hrsg.], Frankfurt am Main: DIPF, Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation 2020 [1]

Zusammenfassung der Forschungsstudie für Schulforum-Berlin [2]


Die TALIS-Videostudie ist die erste internationale Untersuchung, die einen Blick in Klassenzimmer auf drei Kontinenten wirft und zugleich Aussagen zu den Wirkungen des Unterrichts, zu Lernprozessen und Lernergebnissen der beteiligten Schüler*innen gestattet. (TALIS-Studie, S. 36)

Die TALIS-Videostudie Deutschland ist ein Forschungsprojekt der Leibniz-Gemeinschaft, das an die internationale Videostudie „Teaching and Learning International Survey (TALIS-Video)“ der OECD anschließt. Am Beispiel der Unterrichtseinheit zum Thema „quadratische Gleichungen“ hat das verantwortliche Forschungsteam dafür unter anderem Unterrichtsstunden per Video aufgezeichnet und ausgewertet und diese mit Leistungstests und Befragungen der Schüler*innen sowie der Lehrkräfte verknüpft.

Weitere Erhebungen der internationalen Studie fanden in Chile, China, England, Japan, Kolumbien, Mexiko und Spanien statt. In Deutschland nahmen 50 Klassen/Lehrkräfte mit insgesamt 1140 Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 15 Jahren teil. Die 38 teilnehmenden Schulen waren über sieben Bundesländer verteilt. An der Studie waren aus den teilnehmenden Staaten insgesamt 700 Lehrkräfte beteiligt. Die Stichprobe ist aufgrund des aufwändigen Designs der Studie und der freiwilligen Teilnahme nicht repräsentativ.

Ziel der Studie war es, aus deutscher wie aus internationaler Perspektive mehr darüber zu lernen, was erfolgreichen Mathematikunterricht ausmacht – erfolgreich aus der Perspektive der beteiligten Lehrkräfte und Schüler*innen, aus Sicht externer, geschulter Beobachter*innen und nach gemessenen Lernergebnissen wie Leistung und Fachinteresse. (S. 3)

Als Ausgangspunkt der Studie stellt das Forschungsteam die Frage: „Was verstehen wir unter Unterrichtsqualität?“ und fassen zusammen:

Die empirische Forschung zur Unterrichtsqualität beschreibt Schulunterricht häufig nach drei grundlegenden Dimensionen. Dies sind:
Klassenführung, konstruktive Unterstützung und kognitive Aktivierung.

Auch die TALIS-Videostudie Deutschland greift diese drei Basisdimensionen des Unterrichts auf, um Unterricht zu beschreiben und seine Wirkungen zu untersuchen.

Gute Klassenführung beinhaltet, klare Regeln für erwünschtes Verhalten von Schüler*innen einzuführen, insbesondere für deren aktive Beteiligung und Aufmerksamkeit, dieses Verhalten durch eine gute Organisation der Lernaktivitäten, durch Routinen und Rituale zu stützen sowie Störungen rechtzeitig zu erkennen und präventiv zu vermeiden. Dadurch wird Unterrichtszeit tatsächlich zu Lehr- und Lernzeit, so dass den Schüler*innen mehr Lerngelegenheiten eröffnet werden bzw. sie diese intensiver nutzen können. Aktive Lernzeit ist einer der stärksten Prädiktoren für Lernzuwächse. (S. 6)

Konstruktive Unterstützung umschließt zum einen sozioemotionale Aspekte wie eine positive Beziehung zwischen Schüler*innen und ihren Lehrkräften sowie einen wertschätzenden Umgang der Schüler*innen und Lehrkräfte miteinander. Damit sollen vor allem die psychosoziale Entwicklung und motivationale Merkmale wie das Interesse gefördert werden. (S. 6)

Die kognitive Aktivierung der Schüler*innen ist als hoch einzuschätzen, wenn der Unterricht auf Verstehen und schlussfolgerndes Denken ausgerichtet ist, wenn die Lernenden mit herausfordernden Inhalten konfrontiert werden, zugleich aber an ihr Vorwissen und ihre Erfahrungswelt angeknüpft wird. Anspruchsvolle Aufgaben und diskursive Auseinandersetzungen können beispielsweise kognitive Konflikte auslösen, die zu einer tiefen kognitiven Verarbeitung, zur Re-Organisation und Erweiterung des Wissens führen. Ein kognitiv aktivierender Mathematikunterricht sollte mathematische Konzepte gut strukturiert und mit geeigneten Repräsentationsformaten einführen, sie systematisch verknüpfen, in verschiedenen Kontexten anwenden und üben und dabei unterschiedliche Lösungswege zulassen. (S. 6)

Die drei Basisdimensionen des Unterrichts:  1. Klassenführung, 2. konstruktive Unterstützung und 3. kognitive Aktivierung werden in der Studie jeweils noch weiter differenziert. Sie werden anhand der aufgezeichneten Unterrichtsvideos durch geschulte Beobachter*innen mithilfe der verschiedenen zuvor festgelegten und beschriebenen Kriterien beurteilt.

1. Klassenführung

In der Unterrichtsforschung wird die Qualität der Klassenführung über ein breites Spektrum unterschiedlicher Kriterien erfasst. Die TALIS-Videostudie Deutschland verwendet drei Kriterien die ausführlich beschrieben werden (TALIS-Studie, Abbildung 5, S. 15). Dies sind:

1. Routine, 2. Monitoring und 3. Umgang mit Störungen.

1. Routinen: Sind Routinen erkennbar, die den Unterrichtsfluss unterstützen und die Übergänge zwischen verschiedenen Arbeitsformen oder das Austeilen von Materialien effizient gestalten? Eine hohe Bewertung (4) bedeutet, dass Routinen erkennbar waren, die gut organisiert waren und zeitlich effizient umgesetzt wurden. Niedrig (1) hingegen wurden Routinen eingeschätzt, die wenig organisiert schienen und durch die Unterrichtszeit verloren ging. (S. 15)

2. Monitoring: Nimmt die Lehrkraft kontinuierlich wahr, was im Klassenraum geschieht, um gegebenenfalls schnell reagieren und die Aufmerksamkeit der Schüler*innen auf das Lernen lenken zu können? Das Monitoring wurde daraufhin eingeschätzt, ob die Lehrkraft stets den gesamten Klassenraum im Blick behält, physische Nähe zu den Schüler*innen wahrt, möglichst viele Schüler*innen in das Unterrichtsgeschehen einbindet und Unterschiede im (Lern-) Verhalten der einzelnen Schüler*innen wahrnimmt. (S. 15)

3. Umgang mit Störungen: Treten Störungen in der Klasse auf und falls ja, wie effektiv werden diese von der Lehrkraft unterbunden? Eine hohe Bewertung (4) deutet darauf hin, dass entweder keine Störungen aufkamen oder die Lehrkraft zügig auf diese reagierte, sodass keine Unterrichtszeit verloren ging. Niedrig (1) fiel die Bewertung aus, wenn auftretende Störungen nicht effektiv unterbunden wurden und ein erheblicher Teil der Unterrichtszeit dadurch verloren ging. (S. 15)

TALIS-Studie, Abbildung 5, S.15

Die Abbildung 5 dokumentiert, dass für Deutschland vor allem beim Umgang mit Störungen (3,82), aber auch beim Einsatz von Routinen (3,74) sehr hohe Werte erreicht wurden. Für den Bereich Monitoring ergaben sich leicht niedrigere Werte (3,44).

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„Bildung“ ist ihr Geschäft!

Wem nutzt eine „digitale Revolution“ an unseren Schulen?

Dieser Beitrag wurde in modifizierter Form als Leserbrief im Tagesspiegel veröffentlicht zu einem Text von Jörg Dräger vom 22.09.2020, Bitte keine Pseudo-Digitalisierung in der Schule.

Das Unternehmen Bertelsmann mit der Bertelsmann Education Group zählt zu den zehn größten Medienunternehmen weltweit und ist genau dort tätig, wo auch seine Stiftung ihr Zukunftsthema sieht: in der Digitalisierung der Schule. „Bildung“ ist ihr Geschäft. Es wundert also den Pädagogen nicht, wenn Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, bei jeder sich ergebenden Gelegenheit zu Wort meldet:

„Digitalisierung muss […] die Pädagogik revolutionieren“. An anderer Stelle sagt er: „Die digitale Revolution an unseren Schulen ist also eine pädagogische, keine technische Revolution.“ Was heißt das konkret für den Unterricht unserer Schüler?

Nach Dräger bedarf es dazu einer „neuen Pädagogik, mit der Personalisierung des Lernens im Mittelpunkt“. Er fordert, dass die „Lerninhalte und ihre Vermittlung passgenau“ an die „Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler auszurichten“ sind. Doch die Grundlage für das sogenannte individualisierte oder personalisierte Lernen ist, dass möglichst viele Daten über jeden Schüler erfasst, vom Lernprogramm analysiert, ausgewertet und gespeichert werden („Learning Analytics“). Das verschweigt er!

Die Schüler werden von einem Algorithmus gesteuert, an ihrer Seite ein zum Coach bzw. Lernbegleiter degradierter Lehrer. Für diese „Pädagogische Revolution“ braucht es „digitale Endgeräte, Lernvideos und -software […], um die herkömmlichen Abläufe der schulischen Wissensvermittlung aufzubrechen.“ Alles andere ist für Dräger „Pseudo-Digitalisierung“.

Unter Federführung der konzernnahen Stiftung kommt den Lehrkräften und Schülern nun der Bertelsmann-Konzern mit seiner kompletten Verwertungskette für digitale Lehr- und Lernprodukte sowie einer multimedial gestalteten Lehr-Lern-Umgebung „zu Hilfe“.

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei der Digitalisierung der Schule nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft und die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten werden verschleiert. Zu diesem Vorgehen haben Schülerinnen und Schüler der Sophie-Scholl-Oberschule Berlin in einem Zeitungsbeitrag geschrieben: „Wir sind gegen die Digitalisierung von Schulen, weil wir nicht wollen, dass unsere Daten ausgekundschaftet und benutzt werden. […] Wir haben als Jugendliche das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne dass sie uns im späteren Leben zum Verhängnis werden.“

Wir brauchen keine „digitale Revolution“ an unseren Schulen nach den ökonomischen Interessen und „Bildungs“-Vorstellungen der konzernnahen Bertelsmann-Stiftung [1].

Für die Schule und den Unterricht in der Klassengemeinschaft ist festzuhalten, dass auch der Verlust von Sozialkompetenzen, sprachlichem Ausdrucksvermögen und vernetztem Denken sich gerade nicht durch die „Schul-Digitalisierungs-Revolution“ verbessern lassen – denn Lernen braucht die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden.

Ständig wiederholte Rufe nach einer „pädagogischen Revolution“ helfen hier nicht weiter!

Manfred Fischer, Lehrer. Text für Schulforum-Berlin

[1] Die Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“


Weitere Informationen:

Bertelsmann-Stiftung – „Bildung“ ist ihr Geschäft

Die Bertelsmann-Stiftung prangert regelmäßig Missstände im deutschen Schulwesen an. Das müsste Lehrergewerkschaft und -verbänden eigentlich recht sein. Ist es aber nicht. https://www.tagesspiegel.de/wissen/bertelsmann-stiftung-bildung-ist-ihr-geschaeft/14700072.html

Die Bertelsmann Stiftung wirbt intensiv für die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen. Das passt perfekt in die Strategie des gleichnamigen Konzerns: Das Bildungsgeschäft ist seine neue „Cash-Kuh“. https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Autoren der Bertelsmann-Stiftung das Land belehren wollen. Sie kommen selbstlos daher – und regen viele auf. Zurzeit zum Beispiel die Lehrer. https://www.sueddeutsche.de/bildung/gesellschaft-und-politik-das-glashaus-1.3899280-0#seite-2

Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18. Siehe auch: https://schulforum-berlin.de/das-who-is-who-der-deutschen-bildungs-digitalisierungsagenda/

Jochen Krautz (2020): Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. GBW-Flugschrift 1; Ralf Lankau (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. GBW-Flugschrift 2, https://bildung-wissen.eu/gbw-flugschriften

Weniger Abitur, mehr Vernunft

Von George Turner

Prof. Dr. George Turner war von 1986 bis 1989 parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin. Von 1989 bis 2000 lehrte Turner erneut als Professor für Wirtschafts- und Agrarrecht sowie Wissenschaftsverwaltung an der Universität Hohenheim. Turner war Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Berliner Tagesspiegel schreibt er eine regelmäßig erscheinende Kolumne.

Der Anteil der Jugendlichen einer Altersgruppe, die das Abitur ablegen, geht leicht zurück. Das wird diejenigen grämen, die unablässig für einen höheren Anteil geworben haben und denen 50 Prozent nicht ausreichen – darunter die Vertreter von Bildung und Kompetenzen der OECD.

Die neue Tendenz zeigt, dass die Betroffenen offenbar vernünftiger sind als die Experten. Dabei sollte unbestritten sein, dass Jugendliche, die über die entsprechenden Voraussetzungen verfügen, die bestmöglichen Bildungsabschlüsse erwerben, unabhängig von der finanziellen und sozialen Situation, in der sie sich befinden. Aber genau so sollte gelten, dass es verfehlte Planwirtschaft ist, wenn eine bestimmte Prozentzahl an Abiturienten als Ziel vorgegeben wird.

Welche verheerende Wirkung solche Signale auf das Schulwesen hat, erkennt man an der Noteninflation beim Abschluss. Die Anzahl der Einser-Abiturienten lässt die Glaubwürdigkeit der Notengebung und die Qualität der Inhaber der Zeugnisse fragwürdig erscheinen. Begonnen hat es mit den Zulassungsbeschränkungen im Fach Medizin. Aspiranten für das Fach wollte man den Zugang verwehren. Wenn man aber das durch Großzügigkeit bei der Notengebung erreichen wollte, musste das Niveau insgesamt angehoben werden, weil sonst solche, die nicht Medizin studieren wollten, ungerecht behandelt worden wären. Daraus ergab sich eine Spirale der ständig besseren Notengebung bis zu nicht mehr nachvollziehbaren Größenordnungen von Scharen von Absolventen mit dem Durchschnitt von 1,0 im Zeugnis.

Wenn nunmehr die Zahl der Abiturienten zurückgeht, kann das auch für den Arbeitsmarkt positive Folgen haben: Der beklagte Facharbeitermangel erklärt sich auch aus der Tatsache, dass es als unvermeidbare Einbahnstraße verstanden wurde, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. Wenn die Reaktion der Betroffenen derart ist, dass sie andere Möglichkeiten des Berufseinstiegs sehen, sollte das dazu führen, dass Verbände und Unternehmen entsprechende Ausbildungsplätze attraktiv gestalten, damit das duale Ausbildungssystem keine Sackgasse für weitere Karrierechancen bedeutet.

Diejenigen, die beklagt haben, dass es zu wenige Bewerber für Berufe in Industrie und Wirtschaft gäbe, sollten jetzt mithelfen, eben dort interessante und zukunftsorientierte Stellen zu schaffen, damit die rückläufigen Abiturientenzahlen sich als das erweisen, was sie sein können: die Erkenntnis weiterer Jahrgänge, dass es nicht nur den einen Königsweg über das Abitur gibt.

Der Beitrag erscheint auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors. Seine E-Mail: george.turner@t-online.de

Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht

Die postulierte digitale Bildungsrevolution frisst ihre Kinder und Familien.

Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt.

Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz lehrt Kunstpädagogik an der Bergischen Univesität Wuppertal und ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen interessierte Kreise gerne versuchen, aus der Not Profit zu schlagen. Dieser Profit kann materieller oder ideologischer Natur sein. Im Falle der Corona-Krise gerieren sich die bekannten Befürworter der „Digitalisierung von Bildung“ als solche ideologischen und materiellen Krisengewinnler. Nun scheint endlich bewiesen, wie dringlich die Umstellung von Schule und Hochschule auf digital gestütztes Lehren und Lernen sei. Und seitens der Politik entblödet man sich nicht, dies auch noch zu forcieren.

Corona-Krise als Change-Instrument für Digitalisierung

So äußerte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, die selbst keine eigene Fachexpertise in beiden Bereichen nachweisen kann, auf die Frage, ob sich nun räche, „dass wir die Digitalisierung an den Schulen verschlafen haben?“: „Die Corona-Krise bietet Deutschland in Sachen digitaler Bildung eine große Chance: Wir können einen echten Mentalitätswandel schaffen. Wir sehen, wie nützlich digitale Lernangebote sein können. Alle sind jetzt bereit, es einfach mal auszuprobieren. Ich sehe eine neue Aufbruchsstimmung. (…) Aber auch nach der Krise muss die Digitalisierung der Schulen energischer vorangetrieben werden.“[1] Damit macht sie deutlich, worum es geht: Die Krise soll als Instrument genutzt werden, um Mentalität, also Einstellungen, Werte und Überzeugungen aufzuweichen und für den „Wandel“ zu öffnen. Dazu soll Euphorie erzeugt werden, die dann auch nach der Krise aufrechtzuerhalten und zu perpetuieren sei.

Damit referiert Karliczek lupenrein den Dreischritt des Change-Managements: Um Menschen manipulativ in ihren Überzeugungen zu verändern, erzeugt oder nutzt man eine Schocksituation, der eine Verunsicherung in den eigenen Überzeugungen bewirkt (unfreezing). Darauf forcieren Change-Agenten die Euphorie für das Neue, betonen dessen Alternativlosigkeit und geißeln alle Kritiker als rückständige Bedenkenträger (moving). Und schließlich soll der „Wandel“ verstetigt werden, so dass es keinen Weg dahinter zurück zu geben scheint (refreezing).[2] Die darin liegende antidemokratische Anmaßung wird der Ministerin kaum bewusst sein, da sie doch eher Diskurse reproduziert, von denen sie selbst beständig bombardiert wird. So etwa auch von „Mr. PISA“ Andreas Schleicher, der mit maoistisch-kulturrevolutionärer Rhetorik glänzt: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“[3]

Was das Arbeitsblatt nicht kann und die Eltern überfordert

Doch selbst Herr Schleicher gesteht gleich darauf ein: „Schule im Homeoffice (ist) dauerhaft keine gute Idee. Lernen ist ein Prozess, der viel mit der Beziehung von Lehrern und Schülern zu tun hat. Und für diese Beziehung braucht es echten Kontakt.“

Aber auch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Warum also braucht Lernen – und wir präzisieren – bildendes Lernen Schule und Unterricht in Realpräsenz? Warum sind Eltern damit auf Dauer grundsätzlich überfordert?[4] Und warum können dies auch Lehrerinnen und Lehrer beim besten Willen nicht über digitale Kommunikation leisten und Lernprogramme entsprechender Konzerne erst recht nicht?

Das liegt in der Natur des Arbeitsblattes, das per Mail als pdf ins Haus kommt, der im Chat kommunizierten Aufgabe, der im Download von Verlagen (generös kostenlos) verfügbaren Selbstlernmaterialien und auch avancierter interaktiver Lernprogramme. Sie alle können wie deren Vorläufer im „programmierten Lernen“ der 1970er Jahre nur schrittige Anweisungen geben, die aber keinen interpersonalen Dialog und keine empathische Resonanz ermöglichen. Die Techniken können so tun als ob und ein „Feedback“ vorsehen, das aber nicht auf die Verstehensvorgänge des einzelnen Schülers Bezug nehmen kann. Arbeitsmaterialien solcher Art sind also zunächst materialisierter Frontalunterricht der schlechten Art, wie man ihn dem Klassenunterricht der Schule gerne und zu Unrecht unterstellt: Hier wird doziert, auswendig gelernt, ggf. geübt und abgefragt. „Lernen“ heißt hier Informationsentnahme, -verarbeitung und ggf. -anwendung.

Mit nun auftretenden tatsächlichen Verstehensproblemen wenden sich die Kinder an ihre Eltern. Diese sind jedoch mit der Unterstützung schnell überfordert, weil ihnen die fachliche, didaktische und pädagogische Expertise fehlt, auf die Verstehensprobleme ihrer Kinder sachadäquat und altersgerecht einzugehen. Denn dazu müsste man das fachliche Problem nicht nur selbst beherrschen, sondern in seiner Problemstruktur verstanden haben, um es didaktisch auf die notwendigen fachlichen Voraussetzungen und Problemlagen analysieren zu können; man müsste Wege des fachlichen Verständnisses und auch Missverstehens kennen, deren mögliche Gründe einschätzen können und beim Kind mit Blick auf bisher Gearbeitetes und durch Gespräche eruieren, welchen fachlichen Grund eine Schwierigkeit hat. Zugleich müsste man die individuelle Lernhaltung des Kindes, den persönlichen Hintergrund und seine Lerngeschichte in diesem und anderen Fächern einschätzen, um dann sowohl fachlich wie didaktisch und pädagogisch angemessenen reagieren zu können.

All das können Eltern gewöhnlich nicht – und sie müssen es auch nicht können. Dafür sind Lehrerinnen und Lehrer da, dafür gibt es Schule und Unterricht. Dafür absolvieren Lehrkräfte ein langes Fachstudium, dafür erwerben sie pädagogische Expertise, dazu sammeln sie reflektierte Erfahrung in diesen Situationen, und deshalb können sie nach Jahren solche Prozesse im laufenden Unterrichtsgeschehen einer ganzen Klasse in Sekunden erfassen, abwägen, entscheiden und umsetzen. Eben das macht Unterrichten so anspruchsvoll und mitunter anstrengend – noch vor allen sonstigen Herausforderungen. Und zugleich ist das für die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer der eigentliche Grund ihres pädagogischen Engagements.

Legen wir nochmals den ambitionierten Wochenplan mit Arbeitsblättern, Lösungs- und Reflexionsbögen sowie Lerntagebuch und Leistungsportfolio daneben: Kinder sollen all das nun alleine leisten? Arbeitsblätter sollen dialogisch auf ihr Verstehen und Nichtverstehen eingehen? Feedbackbögen sollen ermutigen, ermahnen, Verständnis zeigen, mit Klarheit oder Humor zurück zur Sache leiten? Videochats sollen das gemeinsame und dialogische Hören, Sehen, Vorstellen, Überlegen, Nachdenken, Ideenfinden und –verwerfen in einer realen Klassengemeinschaft ersetzen? Das wird auch keine K.I. in Gestalt von Lehrrobotern jemals können.

Doch Eltern bemerken schmerzhaft, dass nun erstmalig die postulierte digitale Bildungsrevolution ihre Kinder und Familien frisst. Auch der „große Sprung nach vorn“ des großen Vorsitzenden endete in der Zerschlagung von kultureller Tradition, in der Entwurzelung von Millionen Menschen und einem ökonomischen Desaster. Brauchen wir das erneut im Gewand des schicken iPads?

Unterricht muss Verstehen anleiten

Die Schule ist deshalb ein geeigneterer Ort für die formulierten Aufgaben, weil im guten Falle der Unterricht die Sache in sozialer Gemeinschaft erschließt.[5] Unterricht, der auf Bildung zielt, versucht mit didaktischen und pädagogischen Mitteln, die Schülerinnen und Schüler zum selbstständigen Verstehen einer Sache anzuleiten.[6] Selbstständiges Verstehen ist aber nicht gleichzusetzen mit der vermeintlich selbstständigen Erledigung von wie digital auch immer übermittelten Arbeitsaufträgen oder gegoogelten Informationen. Damit ist die Sache noch nicht erschlossen, d.h. in ihren Gründen verstanden: Entscheidend ist nicht nur, dass eine mathematische Rechnung richtig ist, sondern warum sie das ist. Die Inhaltsangabe einer Fabel ist nur Voraussetzung, um ihren Gehalt zu interpretieren. Ein historisches Datum sagt noch nichts über dessen Bedeutung für uns heute. Ein biologisches Faktum zu benennen, heißt noch nicht seine Relevanz für Mensch, Tier, Welt und Wissenschaft verstanden zu haben. Und ein Kunstwerk zu beschreiben, sagt noch nichts über dessen historischen und gegenwärtigen Sinn.

Verstehen meint also Sinnverstehen. Sinn meint dabei den Sinn der Sache und den Sinn für uns, die Lernenden. Was geht uns das an? Was bedeutet uns das? Erst dann kann Lernen bildend wirken. Und erst dann löst Schule den in den Verfassungen als Bildungsauftrag verankerten Anspruch der Aufklärung ein, dass junge Menschen lernen sollen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, also Selbsterkenntnis und Urteilskraft erwerben, und dass sie Werte wie Mitmenschlichkeit, Achtung und Friedfertigkeit als Haltungen ausbilden und begründen können – mit einem Wort: dass sie mündig werden.

Daher operieren Digitalisierungsbefürworter immer mit einem ungeklärten und reduktionistischen Lernbegriff, denn „digitales Lernen“ kann immer nur die Schrumpfform dieses Anspruchs sein. Es läuft letztlich darauf heraus, aufgrund von Reiz und Reaktion Informationen zu beschaffen, auszuwerten, zusammenzustellen, anzuwenden und/oder auswendig zu lernen. Das sind alles unverzichtbare und legitime Teilprozesse schulischen Lernens. Aber eben nur der notwendige Teil, um verantwortliche Selbstständigkeit im Denken und Urteilen, im Sagen und Handeln zu bilden. Dies aber ist per digitalen Medien nicht erreichbar. Auch wenn man diesen Reduktionismus nachsichtig dem Marketingeifer der Digitalbegeisterten zuschreiben mag, so ist er doch unpädagogisch, antiaufklärerisch und widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen.

Schule ist ein sozialer Raum

Die besondere Qualität solchen Verstehens ist dabei gebunden an das soziale Miteinander von leibhaftigen Personen. Es kann sich nur bilden, wenn sich Menschen wechselseitig wahrnehmen, wenn eine Klassengemeinschaft an einer Sache gemeinsam arbeitet, wenn Ideen entstehen, geäußert, diskutiert, begründet oder verworfen werden, wenn gezeigt, erklärt, mit Händen und Füßen vorgemacht und veranschaulicht wird, wenn zugleich gestritten und versöhnt wird, wenn Auseinandersetzungen geklärt, ein sozial konstruktiver Umgang angeleitet und die Klassengemeinschaft zu Kooperation, gegenseitiger Hilfe und Friedfertigkeit angeleitet wird. Kurz: Wenn im Vollsinne unterrichtet wird.[7]

Denn Unterricht bedeutet im Kern das Teilen und Mitteilen von Vorstellungen einer Sache.[8] Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich mit all den Mitteln, dass Schülerinnen und Schüler eine sachgemäße, aber doch immer auch individuell geprägte Vorstellung eines Sachverhalts bilden. Sie versuchen, diese Vorstellungsbildungen der Schüler zu verstehen, greifen sie auf, entwickeln sie weiter, leiten den Austausch der Schülerinnen und Schüler untereinander an und führen das gemeinsame Denken wieder zielführend zusammen, um gemeinsame Erkenntnisse zu formulieren. Insofern ist der Klassenraum ein Raum gemeinsam geteilter Vorstellung, in dem sich die Personen dialogisch miteinander und mit der Sache verbinden. Ja, in gewisser Weise entsteht ein Atommodell in Chemie, eine Raumvorstellung in Geografie, eine Formel in Mathematik oder eine Harmonie in Musik erst in und durch die gemeinsame Vorstellungsleistung. Darin wird Kultur konkret lebendig und von den Schülerinnen und Schülern je individuell reformuliert. Unterricht ist also – bei allem, was man aus soziologischer Sicht ansonsten über die Gründe und Probleme von Schule anführen mag – der spezielle Ort, an dem Menschen ihr kulturelles Leben weitergeben und neu befruchten. Diese spezifische Qualität des Klassenunterrichts kann ein isoliert zu bearbeitender Wochenplan und das digital vereinzelte Arbeiten prinzipiell niemals einholen. Dies spricht nicht gegen sachlich begründetes zeitweises Arbeiten in individuellen Lernformen oder mit digitalen Arbeitsmitteln – aber für deren sekundäre Bedeutung und v.a. gegen deren Verabsolutierung.

In dieser Hinsicht ist so verstandener Unterricht in sozialer Bezogenheit zudem immer auch ein Ort sozialen Ausgleichs, denn er spricht alle jungen Menschen gleichermaßen als lernfähige und bildsame Personen an. Daher ist aus pädagogisch-anthropologischer, lerntheoretischer und inzwischen auch empirischer Sicht klar, dass die Isolierung von Schülerinnen und Schülern in atomisierten Lernsettings die soziale Spaltung forciert. Darauf hat Hermann Giesecke schon früh hingewiesen:

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag. ‚Offener Unterricht‘, überhaupt die Demontage des klassischen, lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von Rechtschreibschwächen (…) hindern die Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran, ihre Mängel auszugleichen, während sie den anderen kaum schaden. (…) Das einzige Kapital, das diese Kinder (Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien) von sich aus – ohne Hilfe ihres Milieus – vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie eine Schule, in der der Lehrer nicht nur ‚Moderator‘ für ‚selbstbestimmte Lernprozesse‘ ist, sondern die Führung übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“[9]

Rückkehr zu Schule und Unterricht

Es ist eine bittere Nebenwirkung des derzeit notfallmäßigen Home-Schoolings, dass dieser Effekt sozialer Spaltung jetzt noch verstärkt werden wird. Daran sind überforderte Eltern in keiner Weise schuld. Umso wichtiger ist aber nach der Rückkehr in den schulischen Normalbetrieb, dass Eltern und Lehrkräfte als Lehre aus der Krise gemeinsam fordern,

  • dass nicht mehr, sondern weniger digitalisiert wird,
  • dass Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Kollegien ihre Unterrichtsformen überdenken,
  • dass Universitäten und die zweite Lehrausbildungsphase Nachwuchslehrkräften wieder in die vollständige Kunst zu unterrichten theoretisch und praktisch einführen,
  • dass Ministerien den Schulen entsprechende Hinweise geben
  • und die Politik jene Digitaladventisten in die Schranken weist, die Corona für ihr Ostern und Pfingsten hielten.

Wenn dann nach der Bewältigung der Krise noch Geld verfügbar ist, das man in den Schulen nicht für dringende Dinge braucht wie etwa Lehrpersonal, Unterstützungsangebote für durch Home-Schooling benachteiligte Schüler, für Bücher, Sporthallen, Kunstwerkstätten, Musikinstrumente, Schulgebäude, funktionierende WCs und dichte Dächer – dann kann man Schule digitaltechnisch auf Grundlage von Open-Source-Lösungen und abgekoppelt vom Internet [10] sowie mit Stellen für Systemadministratoren ausstatten und es den Pädagoginnen und Pädagogen überlassen, wie damit pädagogisch, fachlich und didaktisch sinnvoll umzugehen ist. Denn es geht nicht um die Interessen der Hard- und Softwareindustrie, sondern es geht diesmal tatsächlich um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Fußnoten zu den Anmerkungen des Autors sind in der PDF-Datei nachzulesen. https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/04/Krautz-Bildendes-Lernen-braucht-Schule-und-Unterricht-pdf.pdf siehe auch: www.bildung-wissen.eu

Wo „hart arbeiten und freundlich sein“ Teil des Lehrplans sind.

Bericht über eine „Brennpunktschule“ im Norden Londons.
Der Schulalltag „ist darauf ausgerichtet, das Lernen zu maximieren und Ablenkung zu minimieren.“

Bericht von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher. Er ist bei der OECD Direktor des Direktorats für Bildung. [siehe Anmerkung am Schluss des Berichts]

[…] Ein Ort, der seinen Erfolg auf lehrergeleiteten Unterricht aufgebaut hat, ist die Michaela Community School im Wembley Park, einem benachteiligten Viertel im Norden Londons. In jedem Klassenzimmer, das ich beobachtete, machten die Lehrer die Lernziele deutlich, strukturierten ihren Unterricht klar und stellten interessante Fragen, die das Denken höherer Ordnung anregten. Es wurde keine Zeit verschwendet, da die Schüler genau wussten, was sie zu erwarten hatten. Es gab kein Auswendiglernen, das Menschen oft mit lehrergesteuertem Unterricht in Verbindung bringen. Alle Schüler wurden in jedem Moment aufgefordert, alternative Wege zu finden, um Probleme zu lösen und ihre Denkprozesse und Ergebnisse kurz und bündig zu kommunizieren. Und weil die Schüler von Michaela vom ersten Tag an lernen, wie man lernt und hart arbeitet, müssen sie am Ende nicht mehr für die Prüfung üben und verlieren wertvolle Zeit bei der Prüfungsvorbereitung. Es überrascht nicht, dass die GCSE-Prüfungsergebnisse [1] bei Michaela sehr gut sind und Ofsted [2], das Büro für Bildungsstandards der britischen Regierung, die Qualität der Bildung als herausragend anerkennt, was man in dieser Nachbarschaft nicht oft sieht. […]

Die Schulbildung bei Michaela baut auf dem Verständnis auf, dass das Lernen sequentiell ist und dass die Beherrschung früherer Aufgaben die Grundlage für die Kompetenz in nachfolgenden Aufgaben ist. Für Lehrer bedeutet dies, dass sie nicht die Lernziele variieren, die für die gesamte Klasse gelten, sondern dass sie alles tun, um sicherzustellen, dass jeder Schüler die Möglichkeit hat, das Material auf eine für ihn oder sie angemessene Weise zu lernen. In einer der von mir beobachteten Mathematikstunden bot eine Lehrerin einem der Kinder drei Möglichkeiten an, ihr Verständnis von Brüchen zu festigen. Und indem sie sie bat, ihre Denkprozesse zu erklären, machten nicht nur der Schüler, sondern die ganze Klasse Fortschritte. Da es allen Schülern gelingt, jede aufeinanderfolgende Aufgabe zu erledigen, ist das Ergebnis weniger Variation und ein schwächerer Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds auf die Lernergebnisse. […]

Während der lehrergesteuerte Unterricht ein wichtiger Bestandteil der Unterrichtspraxis in der Michaela Community School ist, geht es nicht nur darum, Fakten und Zahlen zu reproduzieren, sondern basiert auf dem Verständnis, dass eine breite und vielfältige Wissensbasis die Grundlage für die Entwicklung einer informierten und differenzierten Meinung ist. Ich habe das während des Schulessens gesehen, als ich mit einer Gruppe von Sechstklässlern an einem „Familientisch“ gegessen habe. Die Kinder waren wach, neugierig und fürsorglich. Sie kamen aus sehr unterschiedlichen ethnischen und sozialen Verhältnissen, teilten eine Identität über das Lernen und waren sehr stolz auf ihre Schule. Sie diskutierten beim Mittagessen das Thema des Tages – was es braucht, um einen Marathon zu laufen – mit dem gleichen Interesse und der gleichen Energie, mit der sie mich mit Fragen über mein Leben und meine Ausbildung überhäuften. Die hohen Anforderungen, die die Schule an sie stellt, haben sie nicht ängstlich, sondern ehrgeiziger gemacht. Sie zielen auf Oxford und Cambridge. Sie hörten mir und einander aufmerksam zu und kümmerten sich darum, dass wir alle genug zu essen hatten. Nachdem die Teller abgeräumt waren, drückten die Kinder von jedem Tisch ihren Klassenkameraden, Lehrern und Eltern ihre „Wertschätzung“ aus und dankten demjenigen, der ihnen besonders geholfen hat.

Als ich Katharine Birbalsingh, die Direktorin und Gründerin von Michaela, nach dem Mittagessen traf, fasste sie die Fähigkeiten, die sie unter diesen Kindern entwickeln möchte, als „hart arbeiten und freundlich sein“ zusammen, ein Streben, das ebenso mächtig wie einfach ist. Die Schüler müssen verstehen, dass Erfolg harte Arbeit erfordert, aber Michaela sorgt auch dafür, dass Schüler, die Probleme haben, die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Disziplin ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Jedes Detail des Schultages ist darauf ausgerichtet, das Lernen zu maximieren und Ablenkung zu minimieren. […]

Disziplin [wird] durch Struktur, Vorhersehbarkeit und Eigenverantwortung erreicht. Die Kinder, die ich traf, wirkten glücklich und selbstbewusst. Und das stimmt wiederum mit einer der wichtigsten Lehren aus PISA überein: Ein positives Disziplinarklima ist eine der besten Prognosen für bessere Bildung und soziale Ergebnisse. Kinder schätzen ein schulisches Umfeld, in dem Mobbing ungewöhnlich ist, in dem sie sich nicht unbehaglich oder fehl am Platz fühlen und in dem der Aufbau echter und respektvoller Beziehungen zu Lehrern die Norm ist. […]

Die Schulleiterin Birbalsingh hörte sich die Forschungsergebnisse von PISA mit großem Interesse an, gründete ihre Schule jedoch auf etwas Einfacherem: dem gesunden Menschenverstand.

[1] GCSE = General Certificate of Secondary Education entsprechen in England, Wales und Nordirland etwa dem deutschen mittleren Schulabschluss (MSA). Das GCSE gilt im britischen Schulsystem als die wichtigste Abschlussprüfung für die Sekundarstufe I.
[2] Ofsted, Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills

Übersetzt aus: OECD Education, Where “working hard and being kind” are part of the curriculum, 20.11.2019, Bericht von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher. Er ist bei der OECD Direktor des Direktorats für Bildung


Anmerkung durch Schulforum-Berlin:

Die Verfasser der von Schleicher erwähnten Pisa-Studie [1] führen weiter aus: „Eine bessere Ausstattung in der Schule hilft, aber nur, wenn sie den Lernprozess effektiv verbessert und das Gemeinschaftsgefühl stärkt.“ Außerdem wird festgestellt, dass eine bessere Ausstattung mit Computern gerade bei sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern nicht mit besseren Leistungen einhergeht. (S.8)

Natürlich kennt Schleicher auch dieses Ergebnis der Studie, das er jedoch in einem aktuellen Interview [2] bewusst verschweigt, denn er sagt: „Die deutschen Schulen sind beim digitalen Lernen [3] weit zurück, das rächt sich jetzt.“ Er führt weiter aus, wie die „Möglichkeiten der Digitalisierung“ genutzt werden sollen. So sind „durch Technik nicht nur herkömmliche Bildungsprozesse effizienter zu gestalten, sondern völlig neue Lernumgebungen zu entwickeln“, und er gibt als Lösung vor, dass diese „das Lernen spannender, relevanter, interaktiver und individueller machen.“ Sein Credo lautet: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“

Wie weit ist doch seine Argumentation von den Ergebnissen der genannten Pisa-Studie sowie den überragenden Ergebnissen der Schulpraxis der von Schleicher geschilderten Michaela Community School entfernt.

Nicht erst seit der Initiierung der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ [4] durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2015 wird deutlich, dass internationale IT- und Medienkonzerne – mit kompletter Verwertungskette für IT-Geräte und digitale Lern-Produkte – die Rolle als Richtungsgeber bei den Akteuren der Digitalisierung von Bildung eingenommen haben. [5] Anzumerken ist auch, dass die OECD keine Bildungsvereinigung ist sondern die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Der Bildungsmarkt hat weltweit ein Volumen von 5 Billionen US-Dollar. [6] Es geht also um ein riesiges Geschäft!

Unter diesen ökonomischen Vorgaben ist wenig Hoffnung, dass Schleicher mit dem Finger auf das „Zentrale Ergebnis der Studie“ hinweist: „Ein positives Schul- und Unterrichtsklima ist ein Schlüsselfaktor für Resilienz.“ (S. 9)

Viele Schülerinnen und Schüler haben seit Jahren besorgniserregende schlechte Leistungsergebnisse in den Basiskompetenzen Rechnen, Schreiben und Lesen. Auch ist ein zunehmender Verlust von Sozialkompetenzen, sprachlichem Ausdrucksvermögen und vernetztem Denken festzustellen. All das lässt sich durch die „Digitalisierung“ nicht verbessern – denn Lernen braucht Beziehung. [7]

[1] Erfolgsfaktor RESILIENZ – Warum manche Jugendliche trotz schwieriger Startbedingungen in der Schule erfolgreich sind – und wie Schulerfolg auch bei allen anderen Schülerinnen und Schülern gefördert werden kann. Eine PISA-Sonderauswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Kooperation mit der Vodafone Stiftung Deutschland.
[2] Interview im Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.02.2020
[3] Kritisch ist anzumerken, dass die Bezeichnung „digitales Lernen“ irreführend ist und eher als positiv konnotiertes, euphemistisches Synonym für die Einführung digitaler Lehr- und Lernmittel im Diskurs genutzt wird [vgl. Förschler, Annina], so auch von Schleicher.
[4] BMBF, Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten. Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“
[5] Förschler, Annina (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52. (siehe Bücherliste)
„[D]er Diskurs [wird] über das Veröffentlichen von Strategie- und Positionspapieren, Handlungsempfehlungen, öffentlichwirksamen Studien und Online-Auftritten wirkmächtig beeinflusst und (mit)gestaltet und (auch) darüber Einfluss auf bildungspolitische Entscheidungen und Agenden-Ausrichtungen genommen.“ (ebd. S. 46)
[6] Handelsblatt, 21.10.2014, Relias Learning – Bertelsmann erweitert Bildungsgeschäft mit USA-Zukauf
[7] Krautz, Jochen (2020): Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht, Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.


Die Ergebnisse der Michaela Community School zählen zu den besten des Landes.

Die GCSE-Ergebnisse der Michaela Community School, die viermal besser waren als der nationale Durchschnitt, waren die ersten, über die seit ihrer Eröffnung vor fünf Jahren im Rahmen des Programms für freie Schulen berichtet wurden. Gavin Williamson, der Bildungssekretär, sagte, dass „erstaunliche Ergebnisse“ von den freien Schulen erzielt wurden und fügte hinzu: „Wir haben echte Erneuerungen gesehen, echte Veränderungen, und das führt tatsächlich zu besseren Ergebnissen in einigen der am stärksten benachteiligten Teile des Landes.“ (übersetzt aus: Telegraph, 17.10.2019, Camilla Turner, More than half of state school pupils failing to achieve ’strong pass‘ in English and maths GCSEs.)


siehe auch:
Auf dieser Berliner Schule herrschen klare Regeln
„Die Schüler wissen, dass wir sehr konsequent handeln würden“
Schulleiter Michael Rudolph legt bei seinen Schülern Wert auf Disziplin. Und hat damit offenbar Erfolg.

„Ich lese nur, wenn ich muss“

Sie mögen den Satz nur, wenn er kurz ist

Laut der neuen Pisa-Studie hält jeder dritte Jugendliche in Deutschland das Lesen für reine Zeitverschwendung/Von Heike Schmoll, Berlin

Deutsche Schüler gehören zu den größten Lesemuffeln bei der Pisa-Studie. Das dürfte auch daran liegen, dass sie das Lesen einfach zu schlecht beherrschen. Wenn jeder fünfte 15 Jahre alte Jugendliche nur einfache Satzkonstruktionen ohne Nebensätze und mit schlichten Aussagen versteht, macht es natürlich keine Freude, komplexe Texte zu lesen – schon gar nicht freiwillig. Die Schüler liegen beim Lesen zwar über dem OECD-Durchschnitt, lesen aber erheblich schlechter als Schüler in Estland, Kanada und Finnland. Zum hundertsten Geburtstag hat sich Finnland selbst eine Nationalbibliothek geschenkt.

In Deutschland liest die Hälfte der Jugendlichen nicht zum Vergnügen. 50,3 Prozent der 15 Jahre alten Jugendlichen stimmen der Aussage zu „Ich lese nur, wenn ich muss“. Bei den Jungen sind es sogar 60,6 Prozent, bei den Mädchen 36 Prozent. 34,2 Prozent aller deutschen 15-Jährigen sehen das Lesen als Zeitverschwendung und 54,5 Prozent lesen nur, um Informationen zu bekommen, die sie brauchen. All diese Werte sind deutlich ungünstiger als im OECD-Durchschnitt. Nur 26,5 Prozent bezeichnen Lesen als eines ihrer liebsten Hobbys. Dieser Wert liegt deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 42 Prozent […]

Nur eine sehr kleine Gruppe von fünf Prozent der 15 Jahre alten Jugendlichen liest täglich zwei Stunden zum Vergnügen. Die meisten Schüler lesen nur für die Schule und in der Schule, außerhalb kaum.

Die Förderung der Lesemotivation und des Leseverhaltens müsse in der Vorschulzeit beginnen und dann über die gesamte Schulzeit fortgeführt werden, schreiben die Forscher. Die Koordinatorin der deutschen Pisa-Erhebung, die Mathematikprofessorin Kristina Reiss von der TU München, verwies auch auf die Lesefähigkeit am Ende der Grundschulzeit.

Wer am Ende der vierten Klasse nicht sicher lesen könne, lerne das auch nicht bis zum 15. Lebensjahr, zumal die weiterführenden Schulen nicht darauf vorbereitet seien, Lesetechniken zu vermitteln.

Deutlich mehr Lesemuffel

Im Vergleich zur letzten Pisa-Studie mit dem Schwerpunkt Lesen aus dem Jahr 2009 ist der Anteil der Lesemuffel in Deutschland noch einmal erheblich gestiegen. Warum die ohnehin schon gering ausgeprägte Lesefreude in den vergangenen neun Jahren noch einmal stark abgenommen hat, ist unklar. Durch die digitalen Möglichkeiten, das Lesen im Internet, Websites, Suchmaschinen und soziale Medien haben sich auch die Aufgabenformate bei Pisa verändert. Der Leseprozess ist zumeist in übergeordnete Handlungsziele eingebettet – es geht nicht nur darum, Informationen zu finden, sondern auch um Textverstehen, Kombination und Schlussfolgerungen sowie um die Einschätzung von Glaubwürdigkeit und Qualität des Textes und das Bewerten von Form und Inhalt, also um Lesen im Internet. Auch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit war zu leisten, Widersprüche sollten entdeckt werden. Getestet haben die Forscher auch die Leseflüssigkeit. Die Tests wurden am Computer ausgeführt und nahmen etwa zwei Stunden in Anspruch. Beim Online-Lesen haben sich in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen ergeben. So hat das Chatten an Beliebtheit noch zugenommen und übertrifft die E-Mail, die stetig an Bedeutung verliert. Diese Veränderungen sind in allen OECD-Staaten zu beobachten. Nur jede fünfte Schule in Deutschland hat bisher ein Konzept zur Kooperation von Lehrern beim Einsatz digitaler Medien, nur 13 Prozent der Schulleitungen planen für ihre Lehrer Zeit ein, um einen Unterricht mit diesen Medien entsprechend vorzubereiten.

Aufschlussreich ist, dass 15 Jahre alte Schüler an nicht gymnasialen Schulformen mehr Zeit mit digitalen Medien verbringen als Gleichaltrige am Gymnasium. Besonders viele schwache Leser finden sich – nicht überraschend – in den nichtgymnasialen Schulformen, es sind wieder deutlich mehr als bei der letzten Pisa-Studie mit Schwerpunkt Lesen, der Anteil liegt jetzt bei 29,2 Prozent.

Insgesamt liegen 21 Prozent der 15-jährigen auf den untersten Kompetenzstufen [Kompetenzstufe I], können also nur einfache Sätze und nur wenige Informationen entnehmen.

Stufe I: Oberflächliches Verständnis einfacher Texte
(Skalenwerte 335–407)
Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, verfügen lediglich über elementare Lesefähigkeiten. Sie können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten. Es können nur relativ offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt werden. Kompetenzstufen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften

In Estland liegt der Anteil der schwachen Leser bei nur elf Prozent, in Irland bei zwölf Prozent und in Finnland und Kanada bei jeweils 14 Prozent. Die Förderung besonders leseschwacher Schüler müsse über alle Schularten hinweg in Angriff genommen werden. „Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, dass eine Unterstützung der Leistungsspitze eine zentrale Aufgabe bleibt“, schreiben die Forscher. Die Streuung, also die Unterschiede zwischen den stärksten und schwächsten Lesern, sind in Deutschland noch erheblich gewachsen. Das gilt aber selbst für Länder mit guten Ergebnissen wie Finnland. Schüler in Deutschland verfügen über das höchste Lesestrategiewissen im gesamten OECD-Vergleich, doch sie scheinen es nicht anwenden zu können. Sie wissen, dass es sinnvoll sein kann, die wichtigsten Sätze im Text zu unterstreichen und die Kernaussagen anschließend in eigenen Worten zusammenzufassen. Offenkundig wurde viel Zeit in die Vermittlung von Lesestrategien verwendet, aber wenig in Übungsphasen.

Erfreulich ist, dass die Gruppe der sehr guten Leser deutlich gewachsen ist, was vor allem für Gymnasiasten gilt. An nichtgymnasialen Schularten ist aber auch der Anteil schwacher Leser gewachsen. Die Gruppe der Spitzenleser liegt in Deutschland bei elf Prozent, in Kanada sogar bei 15 Prozent und in Estland und Finnland bei 14 Prozent. In Singapur soll sie sogar bei 26 Prozent liegen, doch dort kann es sich auch um eine Positivauswahl von Schülern handeln. Die Mädchen lesen deutlich besser als die Jungen, das gilt für alle OECD-Länder. In Deutschland nahmen an 223 Schulen insgesamt 5451 Schüler aller Schularten teil. Die Stichprobe ist repräsentativ. Mit einer Beteiligung von mehr als 99 Prozent der 15 Jahre alten Schüler ist Deutschland ein Musterland. Selbst in einem Spitzenland wie Estland liegt die Beteiligung deutlich niedriger, bei 93,1 Prozent. Es kann aber sein, dass Estland die Schüler mit Muttersprache Russisch nicht beteiligt hat – denn für sie ist Estnisch die erste Fremdsprache, Englisch kommt dann noch hinzu. Besonders niedrig ist die Beteiligung in Albanien (45,8 Prozent), in Kolumbien (61,9 Prozent) in Mexiko (66,4 Prozent) und in Kanada (86,3 Prozent).

Das Elternhaus entscheidet

Bei Pisa 2018 zeigte sich bei den Schülern mit Migrationshintergrund eine deutlich heterogenere Gruppe. Während 2009 noch viele Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion, der Türkei und Polen stammten, sind es inzwischen viele aus „anderen Herkunftsländern“, also aus Syrien, dem Kosovo und Rumänien. Während sich die Lesekompetenz von Mitgliedern der sogenannten ersten Generation von Migranten 2018 verschlechtert hat, verbesserte sich die Lesefähigkeit der zweiten Generation. Wie kaum eine andere Fähigkeit hängt die Lesekompetenz nicht nur in Deutschland mit dem sozioökonomischen und kulturellen Status der Herkunftsfamilie zusammen.

Der Leistungsunterschied im Bereich Lesekompetenz zwischen Schülern mit bildungsnahem und bildungsfernem Elternhaus ist beträchtlich und hat sich seit 2009 um neun Prozentpunkte ausgeweitet. Die privilegiertesten 25 Prozent der Schüler haben gegenüber den bildungsfernen 25 Prozent einen Leistungsvorsprung von 113 Punkten – das sind 24 Punkte mehr als im OECD-Durchschnitt.

Etwa zehn Prozent der sozioökonomisch benachteiligten Schüler haben es geschafft, zu den besten Lesern zu gehören, ebenso wie 16 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist ähnlich groß wie in der Schweiz, in Belgien, Frankreich und Luxemburg und liegt deutlich über dem OECD-Mittel. In Estland, Kanada, Norwegen, Finnland und Dänemark gelingt es deutlich besser, sozial bedingte Nachteile auszugleichen. Erfreulich ist, dass sich deutsche Schüler an ihren Schulen wohl fühlen, allerdings ist jeder sechste Schüler von Mobbing betroffen.

Wie im Lesen liegen die Jugendlichen in Deutschland auch in Mathematik über dem OECD-Durchschnitt, ihre Leistungen haben sich im Vergleich zur letzten Studie allerdings verschlechtert. In nicht-gymnasialen Schularten liegt die Gruppe der schwächsten Schüler bei 30 Prozent. In den Naturwissenschaften ergibt sich ein ähnliches Bild.


Einschub von Grafik und Tabelle durch Schulforum-Berlin:

Grafik aus: http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/PISA2018_CN_DEU_German.pdf

Die durchschnittlichen Leseleistungen sind in Deutschland nach den in der ersten Zeit – bis 2015 – erzielten Verbesserungen 2018 wieder in etwa auf das Niveau von 2009 zurückgefallen.

In Mathematik stiegen die Leistungen von 2003 bis 2012 an. Von 2012 bis 2018 fielen die Matheleistungen kontinuierlich. Die Ergebnisse von PISA 2018 waren deutlich unter jenen von 2012 und unter denen von 2003.

In Naturwissenschaften stiegen die Leistungen bis 2012 und fielen kontinuierlich bis 2018. Die mittlere Punktzahl in den Naturwissenschaften war 2018 niedriger als 2006.


Der Anteil der leistungsschwachen Schüler liegt etwa bei einem Fünftel. Wie in allen anderen Pisa-Staaten auch sind die Mädchen bessere Leser als die Jungen. Allerdings ist der Unterschied im Vergleich zum OECD-Schnitt kleiner. Das liegt daran, dass sich der Anteil der lesestarken Jungen verdoppelt hat und die Mädchen etwas schlechter wurden. In Mathematik und Naturwissenschaften indessen haben sich die Jungen erheblich verschlechtert, weshalb der Leistungsabstand zu den Mädchen geschrumpft ist. In den Naturwissenschaften sind jetzt beide Geschlechter gleich gut.

zum Artikel: F.A.Z. – POLITIK, 04.12.2019, Heike Schmoll, Sie mögen den Satz nur, wenn er kurz ist

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben, Einfügen der Grafik und der Tabelle, Texthervorhebung im Fettdruck sowie Text kursiv durch Schulforum-Berlin.

siehe auch diesen Beitrag:
Sicher können deutsche Schüler mehr! Ein Kommentar zum mäßigen Abschneiden bei der PISA-Studie – aus Lehrersicht, von Michael Felten


Man kann alles schönreden

Aus der Pressemitteilung zur PISA-Studie, 03.12.2019, (OECD Programme for International Student Assessment, Technische Universität München):

15-Jährige auf gutem Niveau im Studienschwerpunkt Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften

PISA-Studie: Gute Ergebnisse im Lesen

15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland können gut Texte verstehen, nutzen und bewerten. In der neuen PISA-Studie übertreffen sie mit ihren Lesefähigkeiten den Durchschnitt der Jugendlichen in den OECD-Staaten. Auch in Mathematik und Naturwissenschaften erreichen die deutschen Ergebnisse ein gutes Niveau. Allerdings ist an den nicht gymnasialen Schulen in allen Kompetenzbereichen der Anteil der Jugendlichen mit sehr geringen Fähigkeiten größer geworden. […]