Artikel von Peter G. Kirchschläger, TSP, 7.12.2024
Peter G. Kirchschläger ist Professor für Ethik und Direktor des Instituts für Sozialethik an der Universität Luzern. Aktuell ist er Gastprofessor an der ETH Zürich.
Die Geschäftsmodelle der Social-Media-Firmen beruhen auf der Verletzung von Grundrechten. Besonders junge Menschen müssen vor ihnen geschützt werden. Darum ist Australiens neue Verbotspolitik richtig.
Australien verbietet Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren ab Ende 2025 die Nutzung sozialer Medien. Dieser Schritt, der gerade beschlossen wurde, ist auf Kritik gestoßen, insbesondere bei Meta (wozu Facebook und Instagram gehören) und Tiktok.
Den Unternehmen drohen Geldstrafen von bis zu 32 Millionen Dollar, wenn sie es nicht schaffen, junge Menschen von ihren Plattformen fernzuhalten.
Die australische Politik ist einen entscheidenden Schritt zum Schutz der Kinder im 21. Jahrhundert gegangen. Alle Staaten haben die Verantwortung, ihre Kinder vor schädlichen Süchten zu schützen. Und Sucht ist genau das, worauf die Unternehmen der sozialen Medien abzielen.
Wie der Gründungspräsident von Facebook, Sean Parker, 2017 erklärte, wurde der Aufbau der Plattform von einer einfachen Frage geleitet, und die lautete:
„Wie können wir so viel Zeit und bewusste Aufmerksamkeit wie möglich in Anspruch nehmen?“
Die Antwort bestand darin, „eine Schwachstelle der menschlichen Psychologie auszunutzen“: den Wunsch nach sozialer Bestätigung.
Im Wesentlichen, so Parker, wurden Social-Media-Plattformen bekanntlich so konzipiert, dass sie durch sozial anerkennende Likes, Kommentare und Ansichten Schübe des Glückshormons Dopamin freisetzen. Und zwar umso mehr, je aktiver die Menschen auf den Plattformen sind.
Das Ergebnis sei eine „Feedbackschleife der sozialen Bestätigung“, die die Nutzer süchtig mache. „Gott allein weiß, was das mit den Gehirnen unserer Kinder anstellt“, bedauerte Parker.
Und gerade Kinder sind nicht in der Lage, informierte und begründete Entscheidungen für den Umgang mit sozialen Medien zu treffen.
Nach Angaben des Regionalbüros für Europa der Weltgesundheitsorganisation WHO ist die problematische Nutzung sozialer Medien unter Jugendlichen stark angestiegen: von sieben Prozent im Jahr 2018 auf elf Prozent im Jahr 2022.
Problematische Nutzung ist dabei gekennzeichnet durch suchtähnliche Symptome wie die Unfähigkeit, die Nutzung zu kontrollieren, und regelrechte Entzugsgefühle, wenn man sie nicht nutzt.
Diese Zahlen bergen ernsthafte Risiken. Jugendliche, die mehr als drei Stunden pro Tag mit sozialen Medien verbringen, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Angstzuständen und Depressionen zu leiden wie ihre Altersgenossen.
Die Nutzung sozialer Medien wird auch mit einem geringen Selbstwertgefühl, Mobbing und schlechten schulischen Leistungen in Verbindung gebracht.
Es gibt Hinweise darauf, dass die sozialen Medien maßgeblich zum Anstieg der Selbstmordrate unter Jugendlichen in den USA im vergangenen Jahrzehnt beigetragen haben.
Die WHO hat dazu aufgerufen, „sofortige und nachhaltige Maßnahmen zu ergreifen, um Jugendlichen dabei zu helfen, die potenziell schädliche Nutzung sozialer Medien zu beenden“. Und auch junge Menschen selbst schlagen Alarm.
Anfang November beispielsweise forderte das Jugendparlament des Schweizer Kantons Luzern den Luzerner Kantonsrat auf, den Schutz der Social-Media-Nutzer und auch die „Suchtprävention“ durch „gezielte Sensibilisierung von Eltern und Öffentlichkeit“ zu stärken.
Gab es das zuvor schon, dass Kinder und Jugendliche die Erwachsenen aufgefordert haben, sie vor schädlichen Gewohnheiten zu schützen? Haben etwa Jugendliche beim Thema Rauchen gefordert, dass ihre Eltern über die Risiken von Nikotin und Co. informiert werden? Nicht, dass man es gehört hätte.
Und so zeigt auch die Tatsache, dass die sozialen Medien solche Forderungen auslösen, wie akut der Schaden ist. Und die Folgen der sozialen Medien gehen über Kinder und Jugendliche hinaus.
2017 sagte Chamath Palihapitiya – ein weiterer ehemaliger Facebook-Manager, dessen „enorme Schuldgefühle“ ihn dazu veranlassten, sich gegen soziale Medien auszusprechen – bei einer Veranstaltung in Stanford zum versammelten Publikum:
„Sie merken es nicht, aber Sie werden programmiert.“
Die Entscheidung, wie (und wie viel) man soziale Medien nutze, sei gleichbedeutend mit der Entscheidung, wie viel „intellektuelle Unabhängigkeit“ man „aufzugeben bereit ist“.
Palihapitiya zufolge zerstören die „kurzfristigen, dopamingesteuerten Rückkopplungsschleifen“, die diese Unternehmen geschaffen haben, zudem „die Funktionsweise der Gesellschaft“, indem sie Fehlinformationen und „Falschmeldungen“ verbreiten. Wie Parker es ausdrückt, verändern die sozialen Medien „buchstäblich die Beziehung zur Gesellschaft und zueinander“.
Dies ist keine bloße Spekulation mehr: Soziale Medien haben sich bereits als „Polarisierungsmotor“ und als mächtiges Werkzeug zur Aufstachelung zur Gewalt erwiesen.
Palihapitiya erklärte, dass er und seine Kollegen sich zwar einredeten, dass nichts Schlimmes passieren würde, aber zugleich „im Hinterkopf“ doch wussten, dass genau das passieren würde.
Aber die Belohnungen waren offenbar zu groß, um aufzugeben: Je süchtiger die Menschen nach ihren Plattformen waren, desto mehr Nutzerdaten konnten ihre Firmen sammeln und desto mehr Geld würden sie mit dem Verkauf von hochgradig gezielter und personalisierter Werbung verdienen.
Die Vorstellung, dass Social-Media-Firmen sich selbst kontrollieren würden, war immer Wunschdenken: Die Geschäftsmodelle dieser Firmen beruhen auf der Verletzung von Grundrechten.
Deshalb müssen alle Länder, die ihrer Verantwortung für den Schutz ihrer Bürger ernsthaft nachkommen wollen – und auch die internationale Gemeinschaft insgesamt – zusammenarbeiten, um einen neuen Rechtsrahmen für diese Plattformen zu schaffen und durchzusetzen. Der erste Schritt besteht darin, dem Beispiel Australiens zu folgen und die Altersgrenzen für die Nutzung dieser Plattformen anzuheben.
Beitrag siehe: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/weil-das-angebot-suchtig-macht-staaten-mussen-kinder-vor-social-media-schutzen-12809999.html
Siehe auch: TAZ, 7.12.2024, Christina Koppenhöfer, „Was Kindern nicht gut tut“, https://taz.de/Social-Media-erst-ab-16/!6051179/