„So viel Potenzial geht verloren”

Im exklusiven Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement erklärt Professor John Hattie, Bildungsforscher und Speaker beim 1. Schulleitungssymposium Baden-Württemberg in Heilbronn am 11. November 2024, auf was es wirklich ankommt bei erfolgreichem Unterricht – und warum das deutsche Schulsystem so viel Potenzial vergeudet.

Hattie hat Daten von 400 Millionen Schülern und Beobachtungen aus 20.000 Unterrichtsstunden analysiert. „Wie oft hat ein Lehrer einen Schüler aufgefordert, laut zu denken? Die Antwort war: nie.“ Leidenschaftlich erinnert er daran, dass es die Aufgabe der Schule ist, Schülerinnen und Schüler für das Lernen zu begeistern.

Redaktion: Herr Professor Hattie, in “Visible Learning: The Sequel” betonen Sie, dass die Qualität der Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen einen größeren Einfluss auf die Lernergebnisse hat als spezifische Lehrmethoden. Wie können Lehrkräfte, insbesondere angesichts von Lehrkräftemangel und der daraus resultierenden Überlastung, sicherstellen, dass sie qualitativ hochwertige Interaktionen aufrechterhalten, um das individuelle Lernen von Schüler:innen zu unterstützen?

Prof. Dr. John Hattie: Die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sowie zwischen den Schüler:innen untereinander sind von entscheidender Bedeutung, da sie ein Umfeld fördern, in dem Fehler und Unwissenheit willkommen sind. Ausschlaggebend ist es, qualitativ hochwertige Interaktionen zu pflegen, die die Botschaft vermitteln: Lernen ist nicht immer einfach. Es geht darum, Selbstvertrauen zu vermitteln, um Herausforderungen überwinden und das Unbekannte erforschen zu können. Dieser Ansatz ermutigt die Schülerinnen und Schüler, laut zu denken, Fragen über ihr Lernen zu stellen und motiviert zu bleiben, um die Erfolgskriterien der Unterrichtsstunde zu erfüllen. Der Schlüssel zur Vermeidung von Überlastung besteht darin, kontinuierlich zu beobachten, wie der Unterricht sich auswirkt. Indem man bewertet, welche Lehrkräfteinputs, welches Feedback und welche Interaktionen tatsächlich einen Unterschied machen – und diejenigen reduziert, die das nicht tun – konzentriert man sich auf die Wirkung und nicht auf die Quantität. 

Redaktion: Sie haben häufig betont, dass die Einstellung einer Lehrkraft – also, wie sie über Lehren und Lernen denkt – wichtiger ist als spezifische Lehrstrategien. Welche Schritte können Schulen und die Lehrkräftebildung unternehmen, um Lehrkräften zu helfen, diese wirkungsvollen Denkrahmen zu entwickeln?

Hattie: Es geht weniger darum, was Lehrkräfte tun, sondern vielmehr darum, wie sie über die Auswirkungen ihres Handelns denken. Wir haben mehrere wirkungsvolle Ansätze für den Unterricht identifiziert, darunter auch die Haltung: „Ich glaube, dass meine Rolle in dieser Klasse darin besteht, meine Wirkung zu bewerten.” Bei dieser Denkweise werden drei wichtige Fragen zum Einfluss der Lehrkräfte gestellt: Was habe ich gut unterrichtet, und was nicht? Wen habe ich gut unterrichtet und wen nicht? Und wie sehr hat sich das Lernen der Schüler:innen verbessert? Im Wesentlichen geht es also um das Was, das Wer und das Wieviel. Durch berufliche Weiterbildungen können wir diese Denkweisen umreißen, bestimmte Überzeugungen und Glaubenssätze neu formulieren und ihre Auswirkungen auf das Lernen der Schüler:innen aufzeigen. Zum Beispiel schaffen Lehrer:innen, die hohe Erwartungen haben, eine deutlich andere Unterrichtsatmosphäre und Lernergebnisse als diejenigen mit niedrigen Erwartungen. Es sind die Erwartungen, die diese Unterschiede bewirken.

Redaktion: In Deutschland wird viel über soziale Ungleichheit im Bildungssystem diskutiert, insbesondere hinsichtlich der frühen Selektion in unterschiedliche Schulzweige. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinder aus privilegierten Verhältnissen eine signifikant höhere Chance haben, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. Wie bewerten Sie mit Ihrer langjährigen Expertise in der Bildungsforschung die Situation?

Hattie: Es gibt kaum Belege dafür, dass die Aufteilung von Schüler:innen in verschiedene Leistungsgruppen etwas anderes ist als ungerecht und von begrenztem Nutzen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der deutschen Bundesbildungsministerin, in dem ich über das deutsche Auswahlsystem befragt wurde. Ich sagte, ich sei beeindruckt, wie sie die Zukunft eines 30 Jahre alten Menschen vorhersagen könne, wenn er oder sie gerade einmal 11 Jahre ist. Dieses System führt dazu, dass so viel Potenzial verloren geht, weil es den Schüler:innen  den Zugang zu einem reichhaltigen, anspruchsvollen Lehrplan verwehrt, sie daran hindert, mit Gleichaltrigen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu lernen – ein Skill, den sie ihr ganzes Erwachsenenleben lang brauchen werden! Und es erstickt die Fähigkeit, sich an Variabilität anzupassen, im Keim. Stattdessen brauchen wir Systeme, die auf Chancengleichheit ausgerichtet sind, in denen die Schüler:innen Unterschiede akzeptieren und aus verschiedenen Perspektiven lernen können, und in denen Spätzünder:innen nicht zurückgelassen werden. Da sich die Adoleszenz bis zum Alter von 27 Jahren hinzieht, werden viele Menschen mehrere Karrierewege und Chancen haben, mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber diese Möglichkeiten sind begrenzt, wenn ihre Zukunft im Alter von 11 Jahren vorbestimmt ist.

Redaktion: In Ihrer Studie betonen Sie, wie wichtig es ist, ein Lernumfeld zu fördern, in dem Fehler als Chance für Wachstum gesehen werden. Wie können Schulen diese gesunde Fehlerkultur fördern?

Hattie: Zunächst ist es entscheidend, ein Umfeld mit hohem Vertrauen und Sicherheit zu schaffen, in dem Schülerinnen und Schüler sich ermutigt fühlen, zuzugeben, was sie nicht wissen, einschließlich ihrer Missverständnisse und Fehler. Schulen sollten Orte sein, an denen es in Ordnung ist, etwas nicht zu wissen, und an denen man sich traut, Herausforderungen anzugehen. Wie bereits eingangs erwähnt: Sowohl die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern als auch zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander sind von entscheidender Bedeutung, denn sie fördern ein Klima, in dem Nichtwissen willkommen ist. Lehrkräfte können dies vorleben, indem sie selbst offen Fehler zugeben und korrigieren. Wir können Schülerinnen und Schüler einladen, Fehler bereits vor dem Unterricht zu identifizieren. Wir können sie dazu auffordern, sich selbst einzuschätzen, um zu sehen, was sie bereits wissen und was nicht. Wir können Beispiele mit absichtlichen Fehlern präsentieren und die Schülerinnen und Schüler bitten, diese ausfindig zu machen und zu verstehen, oder Fehler gezielt durch zusätzliche Herausforderungen in Lernaufgaben provozieren. Dieser Fokus auf Fehler verbessert nicht nur die Problemlösungsfähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, Wissen zu transferieren.

Redaktion: Ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit ist die Rolle des Feedbacks im Unterricht. Wie würden Sie gutes Feedback definieren, und wie kann es effektiver gestaltet werden, um das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu maximieren?

Hattie: Wirksames Feedback ist solches, das gehört, verstanden und umgesetzt wird. Allzu oft konzentrieren wir uns auf das Feedback der Lehrkraft – Quantität, Qualität, Zeitpunkt –, während der eigentliche Schwerpunkt auf dem Feedback liegen sollte, das die Schülerinnen und Schüler erhalten. Schülerinnen und Schüler streben nach Feedback, durch das sie besser werden, daher müssen wir der Anleitung zum nächsten Schritt Vorrang einräumen. Es ist wichtig, darauf zu achten, wie die Schülerinnen und Schüler dieses Feedback aufnehmen, interpretieren und nutzen. Feedback ist auch dann am effektivsten, wenn es Fehler anspricht – weshalb eine vertrauensvolle, sichere Unterrichtsumgebung von essenzieller Bedeutung ist. Schülerinnen und Schüler müssen sich wohl fühlen, so dass sie ihre Missverständnisse, Fehler und Unsicherheiten zugeben können. Nur so kann Feedback tatsächlich seine Wirkung entfalten.

Redaktion: Herr Professor Hattie, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Siehe:  https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/deutsches-bildungssystem-john-hattie-schulleitungssymposium-baden-wuerttemberg-heilbronn

Siehe auch: FAZ, 30.11.2024, Fokus auf das Lernen statt auf das Lehren, von Heike Schmoll. https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/langeweile-im-unterricht-die-lust-am-lernen-wird-schuelern-schon-frueh-abgewoehnt-110123306.html

Siehe auch: Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht. Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion, Miriam Lotz & Frank Lipowsky, https://www.frank-lipowsky.de/wp-content/uploads/Lotz-Lipowsky_Hattie-Unterricht.pdf

Zur Person

John Hattie ist emeritierter Professor an der Graduate School of Education der Universität von Melbourne, Australien. Der gebürtige Neuseeländer befasst sich vor allem mit Einflussfaktoren auf Lernerfolg und gilt als Verfechter evidenzbasierter Forschungsmethoden. Weltweit bekannt wurde John Hattie durch seine umfassende Metaanalyse vorliegender Forschungsarbeiten, aus denen er ableitete, welche Faktoren für den Lernerfolg in der Schule maßgeblich sind. Durch sein 2009 erstmals erschienenes Buch „Visible Learning“ fanden seine Thesen international Beachtung und Anerkennung.

Siehe auch weitere Beiträge von John Hattie auf Schulforum-Berlin

Generation Angst

Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.

Jonathan Haidt, 2024, Rowohlt Verlag

Aber selbst wenn Schüler ihre Mobiltelefone einmal nicht checken, beeinträchtigt allein schon deren Präsenz  ihr Denkvermögen. (S. 164f)

Die visuell orientierten Plattformen gründen allesamt auf dem von Facebook entwickelten Geschäftsmodell: Maximierung der auf der Plattform verbrachten Zeit, um die Extraktion von Daten und den Wert der Nutzer für die Inserenten zu maximieren. (S. 191)

Warum behandelt jemand seine Kunden so? Weil die Nutzerinnen und Nutzer für die meisten Social-Media-Unternehmen gar nicht wirklich die Kunden sind. Wenn Plattformen freien Zugang zu Informationen oder Dienstleistungen anbieten, dann meist deshalb, weil die Nutzer das Produkt sind. Ihre Aufmerksamkeit ist eine kostbare Substanz, die extrahiert und an die zahlende Kundschaft verkauft wird – die Werbekunden. Die Unternehmen konkurrieren untereinander um die Aufmerksamkeit und tun – wie Spielkasinos – alles, um ihre Nutzer an sie zu binden, selbst wenn sie ihnen dabei schaden. (S. 282f)

Das auf Werbung basierende Geschäftsmodell macht die Nutzer zum Produkt, das an den Haken genommen und eingeholt werden soll.

Jüngere Nutzerinnen und Nutzer sind besonders wertvoll, weil man Gewohnheiten, die man sich schon früh zulegt, oft lebenslang beibehält; die Unternehmen brauchen sie also, um die Nutzung ihrer Angebote auch in Zukunft sicherzustellen. (S. 285f)

Smartphonefreie Schulen

Als Shane Voss die Leitung der Mountain Middle School in Durango, Colorado, übernahm, litten die Schüler und Schülerinnen „unter heftigem Cybermobbing, Schlafmangel und ständigen sozialen Vergleichen“. Voss ordnete in der Schule ein Smartphoneverbot an. 76 Prozent der öffentlichen Schulen in den Vereinigten Staaten, gaben bei einer Umfrage im Jahr 2020 an, dass sie den Gebrauch von Smartphones während des Unterrichts untersagen.
Die Belege dafür, dass Smartphones in der Nähe der Schüler (Schultasche, Hosentasche…) das Lernen beeinträchtigen, sind heute so eindeutig, dass die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, im August 2023 einen Bericht herausgab, der sich mit den negativen Auswirkungen von digitalen Technologien, insbesondere Smartphones, auf die Bildung in aller Welt beschäftigt. Siehe dazu: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/unesco-bericht-zu-it-in-schulen-fordert-mehr-bildungsgerechtigkeit.html

Der Bericht weist darauf hin, dass es erstaunlich wenige Belege dafür gibt, dass digitale Techniken das Lernen in einem typischen Klassenzimmer verbessern. Angemerkt wird zudem, dass der Gebrauch von Smartphones mit einem verminderten Lernerfolg und vermehrten Störungen in der Klasse einhergeht. (S. 308ff)

Die Smartphones der Schüler stecken voller Apps, die dafür konzipiert sind, die Aufmerksamkeit junger Menschen zu erregen und diese mit Benachrichtigung-Pings aus dem Klassenzimmer in die virtuelle Welt zu locken. Das ist der größte Störfaktor für Lernen und Beziehungen. (S. 311)

[D]as was sie [z.B. Eltern] tun, hat viel mehr Wirkung als das, was sie sagen; achten sie also auf ihren eigenen Umgang mit dem Smartphone. Seien sie ein Vorbild, das seine Aufmerksamkeit nicht ständig zwischen dem Smartphone und dem Kind aufteilt. (S. 333)

Kinder gedeihen, wenn sie in Gemeinschaften der wirklichen Welt verwurzelt sind, nicht in körperlosen virtuellen Netzwerken. Das Aufwachsen in der virtuellen Welt fördert Angst, Anomie und Einsamkeit. Die große Neuverdrahtung der Kindheit von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit war ein katastrophaler Fehler.

Es ist Zeit, das Experiment zu beenden. (S. 361)

Textauswahl aus „Generation Angst“ durch Schulforum- Berlin

Weitere Artikel von Johnathan Haidt: https://jonathanhaidt.com/articles/

Siehe auch: FAZ, 18.09.2024, „Depressionen sind Teil der Kindheit geworden“. Zach Rausch hat sich ausführlich damit befasst, wie soziale Medien und Smartphones auf Kinder und Jugendliche wirken. Seine Befunde sind alarmierend.

Die Wirren der „Bildungs“-Stiftungen

Im Berliner „Tagesspiegel“ vom 17.07.2024[1] kommt der Geschäftsführer der „Wübben Stiftung Bildung“, Markus Warnke, in einem Interview zu maroden Schulen, fehlenden Plätzen, Schülern, die Mindeststandards nicht erfüllen, zu Wort. Im Interview bringt er das Gespräch auf die Einführung einer „Schüler-Identifikationsnummer“ sowie auf eine „datengestützte Unterrichtsentwicklung.“

Bei der Frage: Gibt es Bundesländer, in denen durch gute Bildungspolitik Erfolge erzielt werden? antwortet er: […] „In Hamburg wird [im Gegensatz zu Berlin] alles aus einer Hand gesteuert. Da ist die Schulbehörde nicht nur für die Lehrkräfte und den Unterricht verantwortlich, sondern auch für die Ausstattung, etwa mit digitalen Geräten.“

Damit ist er bei seinem eigentlichen Thema, was er voranbringen möchte, „Die Digitalisierung der Schule“. Um den Leser und zahlenden Bürger in seinen Ausführungen zu gewinnen, fährt er fort: „Das alles kostet nicht unbedingt viel Geld, die Ressourcen sind sowieso vorhanden, sie müssen nur effizienter genutzt werden“ – und zwar nach den Vorstellungen der „Stiftungen“. Die von Warnke als Geschäftsführer vertretene „Wübben Stiftung Bildung“ ist Mitglied im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“, zusammen mit weiteren Stiftungen wie der „Bertelsmann Stiftung“, „Deutsche Telekom Stiftung“, „Vodafone Stiftung Deutschland“ u.a. Deutlich wird: Hinter diesen Stiftungen stehen mächtige Unternehmen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Warnke in dem TSP-Interview vorschlägt, dass er von Kanada die „datengestützte Unterrichtsentwicklung“ sofort übernehmen würde, um anzuschließen: „Es kann doch nicht sein, dass der Schutz von Daten wichtiger ist als das gelingende Aufwachsen unserer Kinder.“ Wie zynisch!

Das „gelingende Aufwachsen“ mit einer Unzahl an gesammelten individuellen Schülerdaten sieht nicht nur der dänische Bildungsminister Mattias Tesfaye kontrovers. Für ihn hat die viele Zeit der Kinder und Jugendlichen am Bildschirm zur „Zerstörung der Bildung“ beigetragen. „Wir waren viel zu naiv und erstaunt darüber, was die größten Technologieunternehmen zu bieten haben“.[2]

Deutlich wird: Die hinter den Stiftungen stehenden Unternehmen wollen nicht nur den Verkauf der IT-Hard- und Software, sie wollen auch an die gespeicherten Schülerdaten – Big Brother is watching you!

Wiederholend und in aggressiver Form vertreten dies Mitglieder im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“[3]. So forderte bereits Jörg Dräger, bis Ende 2021 Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, eine „Pädagogische Revolution“, um die digitalen Medien der im Hintergrund der Stiftungen agierenden IT-Industrie in den Schulen unterzubringen – „Digitale“ Bildung ist ihr Geschäft, nicht Schüler-Lernhilfe!

Sørine Vesth Rasmussen von der Kinderschutzorganisation Børns Vilkår: Sie bekomme immer wieder mit, dass andere Länder sich am dänischen Modell der Digitalisierung in Schulen orientierten. „Tut das bloß nicht. Es ist eine Falle“, sagt sie. Es sei unglaublich schwer, einen Rückzieher zu machen, wenn man einmal Computer und Programme gekauft, Lehrer in deren Verwendung unterrichtet und ganze Schulsysteme in den Dienst kommerzieller Unternehmen gestellt habe.

Worum geht es? Dazu die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen: Es gehe darum, „für unsere Kinder einzustehen, bevor es zu spät ist.“

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin


[1] Tagesspiegel, 17.07.2024, Susanne Vieth-Entus u. Saara von Alten: „Es kann doch nicht sein, dass Datenschutz wichtiger ist als unsere Kinder“.

[2] FAZ, 16.07.2024, Julian Staib: Die Kinder Retten, bevor es zu spät ist. Kaum ein Land ist so digital wie Dänemark. Doch nun ruft die Regierung zum Kampf gegen soziale Netzwerke auf und will an den Schulen zurück zu Büchern, Papier und Stift. Immer mehr Länder in Europa und Übersee ziehen die Notbremse bei der Anwendung digitaler Technik in Schulen.

[3] Zu den Aktivitäten der „Bildungs“-Stiftungen siehe auch: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildungsgipfel-zwischen-wunsch-und-wirklichkeit.html

Ein Grundgesetz für Lehrer?

In der letzten Zeit haben wir einiges über unser Grundgesetz gehört. Seit 75 Jahren gibt es dem Zusammenleben der Menschen in Deutschland eine rechtliche Grundlage, nicht in den Details, aber in den grundlegenden Zügen. Es gilt für alle hier Lebenden, nicht zuletzt auch für Lehrer. Aber für diese müsste man es eigentlich noch ein wenig spezifizieren. Denn Lehrer haben ja in besonderer Weise mit unserem Gemeinwesen und unserer Zukunft zu tun – wir vertrauen ihnen immerhin unsere Jugend an.

Gastbeitrag von Michael Felten

Die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kinder sind recht unterschiedliche Typen, das ist erstens nicht zu ändern und zweitens gar nicht so übel. Denn auf diese Weise lernen Heranwachsende, mit der Verschiedenheit von Menschen zurecht zu kommen. Zudem ist unser Bildungswesen föderal strukturiert, Lehrer in Bayern und Lehrer in Bremen handeln also nicht nach exakt gleichen Devisen. Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass es – neben den Richtlinien und Dienstordnungen der Länder – einige Basisregeln der pädagogischen Zunft geben sollte. Nur sind diese nirgendwo aufgeschrieben – wohlan, ein Versuch sei gewagt.

Artikel 1: Lehrkräfte sind pädagogische Führungsfiguren.

Lehrerinnen und Lehrer sind weder beste Freunde noch Offiziere. Sie müssen vielmehr die Kunst beherrschen, gleich und ungleich zugleich mit jungen Menschen umzugehen. Sie müssen sich einerseits in kindliches Denken und Empfinden sensibel einfühlen, andererseits aber auch unerschrocken die Richtung weisen und Beurteilungen aussprechen können.

Artikel 2: Skepsis ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Lehrkräften.

Denn sie arbeiten in einer Art Bermuda-Dreieck: Schüler wollen möglichst wenig Hausaufgaben machen, Eltern wollen für ihr Kind zumindest das Abitur, und das Bildungsministerium will vor der Wahl dieses und nachher jenes. Lehrkräfte sollten deshalb innerlich unabhängige und kritische Personen sein, denn sie müssen denjenigen Weg finden, den sie für ihre jeweilige Lerngruppe und ihre speziellen Schüler verantworten können.

Artikel 3: Es gibt viele Möglichkeiten, lernwirksam zu unterrichten.

Das hört sich banal an, ist es aber nicht. Vielerorts galt lange Zeit die Parole, es gebe eine allein seligmachende Lehr-Lern-Methode, etwa das selbstorganisierte, eigenverantwortliche Lernen von Schülern. Die Forschung hat das widerlegt, einzelne Autoritäten haben dies auch eingestanden – aber die Lehrkräfte im Lande sollten auch davon wissen. Überhaupt sollten sie sich auf dem Laufenden darüber halten, was die Forschung darüber weiß, welche Wege eher nach Rom führen – und welche eher nicht. Entscheidend darf nicht sein, ob eine Methode einen wohlklingenden Namen hat oder gut aussieht. Sondern ob die Lernprozesse der Schüler nachhaltig, ob sie tiefenwirksam sind.

Artikel 4: Menschen sind wichtiger als Zahlen.

Neuerdings wird ja all unser Tun vermessen – und gewiss, auch im Bildungswesen liefert Evaluation interessante Daten. Aber Kennwerte sind in Schule lange nicht alles. Unterricht ist ganz wesentlich Beziehungssache, ein emotional grundierter Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden. Er funktioniert anders als die Abläufe in einer Brötchenbackstraße, lässt sich höchstens ansatzweise in der Sprache der Ökonomie beschreiben, wird durch Begriffe wie Output oder Income letztlich nicht erfasst.

Artikel 5: Bildung für morgen geschieht an Gegenständen im heute.

Allenthalben hört man, die Schule müsse völlig umgekrempelt werden – für das 21. Jahrhundert mit seiner Unsicherheit und Komplexität brauche es ganz neue Kompetenzen. Bildung könne deshalb nicht länger Wissenserwerb sein, vielmehr gehörten Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken und Kommunikation auf die Agenda. Nun, das waren natürlich immer schon ungemein wichtige Fähigkeiten – nur lassen sich diese nicht im Trockendock erwerben, sondern gerade im Rahmen von fachlichem Lernen.

Ohnehin war die Zukunft auch für frühere Generationen vor allem eines: ungewiss. Ernsthafte und anspruchsvolle Bildung in einer historisch reflektierten Gegenwart, das war immer schon das Beste, was eine Gesellschaft ihrer Jugend mitgeben konnte.

Der Autor, Michael Felten, Jg. 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst unterrichtet, ist Autor von Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien, arbeitet als freier Lehrerweiterbildner, Human Award 2014 der Uni Köln, www.eltern-lehrer-fragen.de

Der Beitrag erschien zuerst bei News4Teacher (5.6.2024), mit Lesermeinungen.

Handyspiele für Kinder und Jugendliche: Ballern, Sex und Antise­mitismus

Zehn fachkundige Tester von Stiftung Warentest haben über drei Monate intensiv 16 Spiele durchgespielt. Alle Spiele-Apps die getestet wurden sind ab unter 6, 6 oder 12 Jahren freigegeben. Es sind also sowohl Spiele für Kleinkinder, Schulkinder als auch Spiele-Apps für Jugend­liche dabei.

Unter den 16 getesteten Spiele-Apps fanden die Tester: Ballerspiele, Amokläufe, Sexszenen und furcht­erregende Monster und leider auch zahlreiche Hass­botschaften, viele davon antise­mitisch.

Die zehn umsatz­stärksten Spiele

Von den 16 populären Spiele-Apps für Android waren 15 kostenfrei und eines kosten­pflichtig. Ausgesucht wurden von der Stiftung Warentest die zehn umsatz­stärksten Spiele (Stand: 15. Januar 2024). Ausgeschlossen wurden Apps, die laut der Unterhaltungs­software-Selbst­kontrolle (USK) erst ab 16 Jahren geeignet sind.

Wie Spiele-Apps Kinder manipulieren und Druck erzeugen

Die meisten Spiele-Apps sind zwar an sich kostenlos, doch die Betreiber setzen stark auf In-App-Käufe, um Geld „einzuspielen“. Spieler können zum Beispiel virtuelle Waffen, Textilien oder Ressourcen wie Münzen, Edelsteine oder Sternen­staub kaufen. Bis zu 240 Euro können pro Kauf in den untersuchten Apps anfallen. Die Anbieter verwenden viele Design-Tricks, um die Spieler zu Käufen zu drängen – gerade Kinder sind solchen Mecha­nismen oft schutz­los ausgeliefert.

Die Tester bemängelten das „manipulative Spieldesign der Apps“. Es verleite die Spieler dazu, immer mehr zu spielen und dabei auch immer mehr zu kaufen. So gebe es beispielsweise Belohnungen für das tägliche Spielen, „soziale“ Verpflichtungen gegenüber Mitspielenden oder Aufforderungen, sich zu bestimmten Zeiten ans Handy zu setzen. Spieledesigner versuchten demnach, die Kinder zum Kauf virtueller Gegenstände zu verleiten oder bauen Wartezeiten ein, die sich per Kauf überspringen lassen.

„Abwarten und leiden – oder Geld ausgeben“, so das Geschäftsmodell.

Die Daten­schutz-Prüfung ergab:

Alle 16 Spiele-Apps für Kinder im Test wiesen in ihren Daten­schutz­erklärungen gravierende Mängel auf. Das Gleiche gilt für die Allgemeinen Geschäfts­bedingungen.

Das Gesamturteil der Tester über 15 der 16 Spiele-Apps: „Inakzeptabel“.

Dass die Games-Industrie an den umsatzstarken Spiele-Apps im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes Änderungen vornimmt, ist mit Blick auf die Ergebnisse der Jahre 2017 und 2019 nicht zu erwarten: Nahezu der komplette Games-Umsatz auf Smartphones und Tablets wird durch „kostenlose“ Free2Play-Titel erwirtschaftet. Allein in Deutschland hatte die Branche im Jahr 2023 Einnahmen von über 3 Milliarden € mit In-App-Käufen.

Im Mobilegames-Bereich steht das Free2Play-Geschäft für 98 Prozent aller Einnahmen! Da bleibt der Kinder- und Jugendmedienschutz außen vor!

Die Tester fordern „Kinderschutz by default“ , d.h.: Verzicht auf In-App-Käufe und auf manipulative Techniken („Dark Patterns“) bei Spielen für Kinder. Dringend nötig sei auch eine bessere Kontrolle jugendgefährdender Inhalte.

Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) auf der Gamescom 2023 – Foto: Koelnmesse / Uwe Weiser

Noch Fragen?

Zusammenfassung der Informationen: Manfred Fischer

Die Bedeutung des Lehrers

Die Physikerin und Nobelpreisträgerin Anne l´Huillier berichtet in einem Interview im Tagesspiegel vom 26.3.2024 zum Thema: „Eine Frauenquote erzeugt nicht automatisch Gerechtigkeit“ über Vorurteile, Vorbilder und die ungewollten Konsequenzen positiver Diskriminierung. Zum Thema „Vorbilder“ zwei Fragen und die Antworten aus dem Interview:

Wer hat Ihnen Physik beigebracht?

Ich hatte in verschiedenen Phasen meines Lebens gute Lehrer, die eine große Rolle gespielt haben. Im letzten Jahr des Gymnasiums hatte ich eine sehr gute Lehrerin in Mathematik. Und dann hatte ich gegen Ende meines Studiums gute Dozenten in Atomphysik, wegen derer ich überhaupt erst in mein Forschungsgebiet gegangen bin. Das waren Claude Cohen-Tannoudji und Serge Haroche, beide haben später Nobelpreise bekommen. Sie waren hervorragende Lehrer, die das Fach wirklich interessant machten und mich inspirierten, mehr erfahren zu wollen.

Es gab in Deutschland nach der letzten Pisa-Studie eine große Diskussion darüber, warum es vielen Lehrern nicht gelingt, Schüler mitzureißen und zu begeistern. Was hat die Menschen, die Sie geprägt haben, zu guten Lehrern gemacht?

Ihr Enthusiasmus. Als ich hier in Lund zur Professorin ernannt wurde, habe ich in meiner Antrittsrede gesagt:

Man lehrt nicht was man weiß, sondern was man ist. Der Grundgedanke ist, dass nichts den Lehrer als Person ersetzen kann. Man kann nicht auf dieselbe Weise unterrichten, indem man auf einen Computer schaut, sondern man muss mit einer Person sprechen. Und diese Person lehrt viel mehr als nur das Fach, sondern auch ihre Persönlichkeit, die die Schüler beeinflusst.

Aus: https://www.tagesspiegel.de/wissen/physik-nobelpreistragerin-anne-lhuillier-eine-frauenquote-erzeugt-nicht-automatisch-gerechtigkeit-11217106.html