Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022[1]
Hintergrund: Mobbing ist eine spezifische Gewaltform, die sich dadurch auszeichnet, dass sie wiederholt und mit der Absicht zu schädigen ausgeübt wird. Zwischen den beteiligten Schülerinnen und Schülern besteht ein Machtungleichgewicht, welches es den Gemobbten schwer macht, sich allein und ohne Hilfe Dritter gegen das Mobbing zur Wehr zu setzen. Das Machtungleichgewicht zwischen Lernenden kann beispielsweise durch unterschiedliche körperliche Größe und Stärke, aber auch durch Aspekte wie die soziale Eingebundenheit entstehen. Mobbinghandlungen können beispielsweise Beleidigungen, Schläge, Tritte, das Verbreiten von Gerüchten oder soziale Ausgrenzung umfassen. Tritt das Mobbing medial vermittelt auf (z.B. über soziale Netzwerke oder Chatgruppen), wird es Cybermobbing genannt. (S. 46f)
Zentrale Besonderheiten des Cybermobbings im Vergleich zum schulischen Mobbing außerhalb des digitalen Raumes liegen darin, dass die gemobbten Lernenden beim Cybermobbing oft nicht wissen, wer das Mobbing ausübt. Diese Anonymität kann das Machtungleichgewicht, welches zwischen Mobbenden und Gemobbten besteht, noch weiter erhöhen. (S. 47)
Die tägliche Nutzung digitaler Medien und dabei insbesondere die häufige soziale Interaktion im digitalen Raum kann das Risiko für Mobbing (sowohl traditionell als auch medial vermittelt) erhöhen. (S. 48)
Die Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) ist als Querschnittstudie angelegt, die alle vier Jahre im Schulsetting stattfindet und Schülerinnen und Schüler im Alter von ca. 11, 13 und 15 Jahren (mittlere Abweichung von 0,5 Jahren) befragt. In Deutschland sind diese Altersgruppen überwiegend in den Jahrgangsstufen 5, 7 und 9 vertreten. In der HBSC-Studie wurden in Deutschland bisher in den Schuljahren 2009/10, 2013/14, 2017/18 sowie im Kalenderjahr 2022 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern befragt. (S. 49)
Aus der Erhebungswelle 2022 liegen Daten von N = 6.475 Lernenden an 174 Schulen vor (50,3 % Mädchen, 47,5 % Jungen, 1,7 % Heranwachsende, die sich als gender-divers identifizieren. (S. 49) In Bezug auf die Ausübung von Mobbing berichteten Lernende an Sekundarschulen häufiger als Lernende an Gymnasien und Hauptschulen davon, andere in der Schule gemobbt zu haben. Lernende an Gymnasien gaben seltener als Lernende an Gesamt- und Sekundarschulen an, andere online gemobbt zu haben. (S. 54)
Verbreitung von schulischem Mobbing und Cybermobbing im Jahr 2022
Knapp 14 % der befragten Heranwachsenden gaben an, 2022 in der Schule gemobbt worden zu sein und/oder andere gemobbt zu haben. Damit machte 2022 ungefähr jede bzw. jeder siebte Lernende direkte Mobbingerfahrungen. Bedenkt man, dass Mobbing nicht nur diese direkt betroffenen Lernenden, sondern auch alle, die Mobbing in ihrer Klasse beobachten und erleben, negativ beeinflussen kann, unterstreicht dieser Befund, dass Mobbing nach wie vor für viele Kinder und Jugendliche ein alltägliches Problem ist. (S. 58)
Die Betrachtung der Mobbingverbreitung nach Schulformen zeigt, dass Mobbing an allen Schulformen stattfindet. Lernende an Gymnasien berichteten 2022 tendenziell weniger Mobbing als Lernende an anderen Schulformen. Lernende an Hauptschulen berichteten besonders häufig davon, online gemobbt worden zu sein. Die Erfahrung, selbst gemobbt zu werden, wurde aber an allen Schulformen angegeben. Dies steht in Einklang mit früheren Untersuchungen und illustriert, dass Maßnahmen zur Mobbingprävention und -intervention an allen Schulformen bedeutsam sind. (S. 59)
Aufgrund der COVID-19-Pandemie hat die Frage nach der Entwicklung der Mobbingverbreitung von 2017/18 bis 2022 besondere Relevanz. Die vorliegenden Befunde legen aber nahe, dass die Pandemie zu keinen bedeutsamen Veränderungen in der Verbreitung des schulischen Mobbings geführt hat. […] Die Verbreitung des Cybermobbings hat jedoch zugenommen. Der Anstieg betrifft dabei vor allem 13-jährige Lernende und Jungen. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Online-Medien verbringen, hat 2022 weiter zugenommen. […] Da das schulische Mobbing nicht abgenommen, aber das Cybermobbing zugenommen hat, ist die Mobbingproblematik insgesamt im Vergleich zu 2017/18 im Jahr 2022 größer. (S. 60)
Schlussfolgerungen:
Die vorliegende Studie zeigt, dass Mobbing für viele Kinder und Jugendliche eine alltägliche Erfahrung ist. Insgesamt sind die Fortsetzung und weitere Implementierung von Anti-Mobbing-Maßnahmen an Schulen unumgänglich, um Mobbing und der damit verbundenen Gewalt [2] erfolgreich entgegenwirken zu können. Entsprechende Maßnahmen sollten neben den Lernenden selbst auch die Lehrkräfte und das ganze System Schule adressieren. Dabei sollten den Lehrkräften verschiedene erfolgreiche Anti-Mobbing-Strategien vermittelt werden, die sie situationsspezifisch auswählen können und sie sollten darin bestärkt werden, auf ihr eigenes pädagogisches Handeln auch bei Mobbingvorfällen zu vertrauen. […] Schülerinnen und Schüler sollten innerhalb ihrer Klassen ermutigt werden, den gemobbten Lernenden beizustehen und den mobbenden Lernenden damit motivierende positive Rückmeldungen zu entziehen. […] [G]eschulte und verfügbare Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter können dazu beitragen, schulweite Anti-Mobbing-Maßnahmen durchzuführen und somit Lehrkräfte entlasten und Ansprechpersonen für Schülerinnen und Schüler darstellen. […] Zudem müssen Heranwachsende Ansprechpersonen haben, an die sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn sie negative Erfahrungen online machen oder in der Schule oder online gemobbt werden oder Mobbing beobachten. (S. 62)
[1] Aus: Fischer SM, Bilz L (2024) Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022. J Health Monit 9(1): S. 46–67. DOI 10.25646/11871 https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JHealthMonit_2024_01_HBSC.pdf?__blob=publicationFile, S. 46-67
[2] Aus: TSP, 25.3.2024, „Ein falscher Blick führt sofort zum Knall“: Berliner Schulleiter berichten über die Gewalt an ihren Schulen (tagesspiegel.de)
In Berlin verzeichnet die Kriminalstatistik bei Gewaltdelikten an Schulen für das Jahr 2023 einen Anstieg um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Drei Schulleiter und eine Schulleiterin berichten über Gewaltdelikte an ihrer Schule:
„Bei jeglicher Gewalt in der Schule gilt die Prämisse: Alles muss zur Strafanzeige gebracht werden, auch Kleinstvorfälle. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass ihr Tun unmittelbare Konsequenzen hat. Das Verfahren ist dreischrittig. Es besteht aus klaren Regeln, klarer Kommunikation, sofortigen Strafen. Damit soll schon der Versuch von Grenzüberschreitungen im Keim erstickt werden. […] Was kann die Politik tun? Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört die Frühförderung: Je besser vorbereitet die Kinder eingeschult werden, desto geringer ihr Frust und die Gefahr, dass sie diesen in Gewalt umsetzen.“
„Die Zündschnur von einer kurzen verbalen Auseinandersetzung bis zur handfesten Schlägerei ist kürzer geworden. Offenbar kennen die Kinder in dem Augenblick keine andere Möglichkeit, zu reagieren.“
„Wir erstatten auch Meldungen im Rahmen des Kinderschutzes, wenn wir den Eindruck bekommen, dass in der Familie Videospiele oder TV-Formate konsumiert werden, die die Kinder noch gar nicht sehen dürfen. Mit dieser Herangehensweise haben wir wirklich ganz gute Erfahrungen gemacht. Für uns ist auch wichtig herauszufinden, welche Rolle Gewalt in der Familie spielt. Mitunter wollen sie den Blick in die Familie gar nicht zulassen. Viele sind aber unwahrscheinlich dankbar, wenn das Problem erst mal auf dem Tisch ist und ihnen Hilfe angeboten wird.“
„Bereits in der ersten Klasse sitzen Kinder, die nicht mehr neugierig, kaum beschulbar sind. Die Ursache liegt in sozialer Verwahrlosung. Mit diesen Kindern wird zu wenig gesprochen, sie bekommen ein Handy in die Hand, noch bevor sie ihren Windeln entwachsen sind. So werden sie ruhig gestellt. […] Hinzu kommt häufig die unkontrollierte und unkommentierte Nutzung der (a)sozialen Medien mit ihren zum Teil menschenfeindlichen Darstellungen. […] Die häusliche Gewalterfahrung spielt ebenfalls eine große Rolle. Es gibt Kinder, die lernen zu Hause, dass Gewalt eine Lösungsstrategie ist“.
Der Leserbrief eines Gymnasiallehrers zum Thema im Tagesspiegel:
Liebe Frau Vieth-Entus!
Danke für Ihren hinterfragenden Artikel „Mehr Gewalt an Schulen | Worüber wundert ihr euch?“ im Tagesspiegel vom 19. März 2024.
Ihre Sätze
„Auf der Suche nach den Ursachen werden vor allem die Isolation während der Pandemie und die sozialen Medien als Gewalttreiber genannt.“
„Hier ist auch der Ort, an dem sich bereits Neunjährige pornografische Videos per Tiktok zuschicken oder per Cybermobbing Mitschülerinnen und Mitschülern das Leben zur Hölle machen.“
Warum aber gibt es diesen Digitalisierungshype, warum sollen dann die Schulen (oder gar die Schüler) digitalisiert werden? Sind die teuren Ideen, jeden Schüler mit einem digitalen Endgerät auszustatten und schnelles WLAN für alle in den Schulen zu installieren etc., nicht eine staatliche Subvention, eine Absegnung dieser Irrungen? Vereinsamung und asoziale Medien — Tiktok und Zocken am Handy/Tablet/Laptop/PC statt Kicken mit Kumpels, Pornos statt Bücher, Chatten und Mobbing statt persönlicher Umgang (inklusive Konflikte und deren Lösung) mit Gleichaltrigen — nun auch auf Staatskosten in der Schule, demzufolge rund um die Uhr, sieben Tage die Woche? Roboter, künstliche (!) Intelligenz und „Lern“programme statt Menschen und Zuwendung für alle Kinder und Jugendlichen?
Ich wundere mich über gar nichts, wäre meine Antwort auf Ihre Frage.
Beste Grüße,
Thilo Steinkrauß