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Deutsch-Förderkurs „bei Herr Maier“

Wenn selbst Lehrer die Rechtschreibung nicht beherrschen

Genitiv, Dativ, Satzbau oder Kommasetzung: Viele Lehrer oder Lehramtsstudierende sind schlecht in Grammatik und Rechtschreibung.

F.A.Z., 16.02.2020, Rüdiger Soldt

Auf dem Aufgabenblatt einer Schule in Baden-Württemberg steht:

„Lese den Text und schreibe eine Zusammenfassung.“

Falscher Imperativ. Lies, müsste es heißen. Und weder Schülern noch Lehrern fällt es notwendigerweise auf, wenn ein

Deutsch-Förderkurs „bei Herr Maier“

angeboten wird. Wo es um Rechtschreibung und Grammatik geht, wird gern im kulturpessimistischen Ton über die heutige Schülergeneration geschimpft. Das ist aber eine recht oberflächliche Betrachtung. Denn Schwierigkeiten mit Genitiv, Dativ, Satzbau und Zeichensetzung haben heute nicht wenige Germanistikstudenten, die auf Lehramt studieren, und auch immer mehr Lehrer, die seit vielen Jahren unterrichten. […]

In der Germanistik wird über das Problem erodierender Orthographiekenntnisse seit Mitte der neunziger Jahre diskutiert. Erste Erhebungen über den tatsächlichen Kenntnisstand von Lehramtsstudenten gibt es seit etwa zehn Jahren. Der Linguist und Sprachdidaktiker Albert Bremerich-Vos [Professor i.R., Universität Duisburg-Essen] untersuchte 2016 die Sprachkompetenzen von Studenten, er analysierte 900 studentische Texte. Den Studenten hatte er die Aufgabe gestellt, aus einem feuilletonistischen Zeitungsartikel die zentrale These herauszuarbeiten. 30 Prozent der Texte enthielten mindestens sechs Orthographie- und mindestens fünf Kommafehler. Nur 20 Prozent der Texte wurden als gut eingestuft. Vielen Studenten war es übrigens auch nicht gelungen, die These herauszufiltern.

In dem Forschungsprojekt zur Untersuchung des studentischen Sprachvermögens, verfasst von Dirk Scholten-Akoun [Universität Duisburg-Essen, Zentrum für Lehrerbildung], heißt es: „Mehr als ein Viertel der Lehramtsstudierenden verfügt zu Beginn des Studiums nicht oder nicht in akzeptablem Umfang über die sprachlichen Mittel, die ihnen eine Weiterentwicklung ihrer Schreibkompetenz hin zur wissenschaftlichen Schreibkompetenz erlauben.“ Die Forscher untersuchten die Sprachkompetenzen an drei Universitäten in Nordrhein-Westfalen, die in der Studie anonymisiert wurden. Das Ergebnis zeigt besorgniserregende Defizite:

Elf bis 27 Prozent der Studenten haben erheblichen Förderbedarf in Rechtschreibung, von denen mit Migrationshintergrund sogar bis zu 49 Prozent. Nur ein Zehntel der Studenten beherrscht Grammatik und Rechtschreibung nahezu perfekt und fehlerfrei. Ein Drittel hat Probleme in der Textauslegung und Rechtschreibung. […]

Die Germanisten und Praktiker aus der Lehrerausbildung sind von den Äußerungen zur Rechtschreibung des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, wenig überzeugt. Er sagte, es sei nicht mehr so wichtig, Rechtschreibung zu pauken, weil es ja „kluge Geräte“ gebe, die Grammatik und Fehler korrigierten. […]

Die Fachdidaktikerin Dr. Ulrike Behrens, Institut für Germanistik [an der Universität Duisburg-Essen]: „Wenn die Rechtschreibprobleme von Schülern und Lehrern auf die Digitalisierung oder Whatsapp geschoben werden, ist mir das viel zu simpel. […] Die Schule ist der Ort, wo die Rechtschreibnormen thematisiert werden müssen, darauf können wir nicht verzichten.“ […] Behrens weiter: „Ob die Künstliche Intelligenz das Lernen von Rechtschreibregeln irgendwann überflüssig machen wird, bezweifle ich.“

Es sei schon besser, wenn die Schüler weiterhin lernten, im Kopf zwischen Komma und Koma zu unterscheiden.

zum Artikel: F.A.Z., 16.02.2020, Rüdiger Soldt, Deutschstunde bei Herr Maier

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Position zur Berliner Schulpolitik

Es muss etwas geschehen….

Tagesspiegel, 09.09.2019, von Martin Dorr, Dr. Thomas Gey, Dr. Eva-Maria Kabisch, Annaliese Kirchberg, Christine Sauerbaum-Thieme, Thomas Thieme, Brigitte Thies-Böttcher, Rolf Völzke, Rainer Werner

Zur offensichtlichen Schulmisere in Berlin ist in diesen Tagen und Wochen bereits viel Richtiges gesagt und öffentlich diskutiert worden. Da wollen auch wir als Experten aus der Praxis nicht schweigen. Wir sind engagierte Schulleitungen, Senatsbeamte, Lehrerbildner und Lehrkräfte, Quereinsteiger und andere Profis aus dem Bildungsbereich, pensioniert oder/und noch aktiv, die sich seit dem Frühjahr 2019 getreu dem Motto von Heinrich Böll zusammengefunden haben, um konkrete Vorschläge zur Verbesserung zu erarbeiten und in den Diskurs mit der Öffentlichkeit und der Senatsverwaltung einzubringen. Uns eint – trotz unterschiedlicher Positionen im Einzelnen – die Sorge, ja Fassungslosigkeit über den desaströsen Zustand der Berliner Schule und damit über das Versagen der Bildungspolitik über Jahre hinweg mit vorhersehbaren fatalen Ergebnissen. Die lange Liste der Versäumnisse, der falschen Entscheidungen und aktionistischen Ablenkungsmanöver hat jetzt ein Ausmaß erreicht, das wir als erfahrene Schulexperten, die seit langem vielfach auf die sich abzeichnenden Probleme hingewiesen haben, einfach nicht mehr hinnehmen können. Wir haben unsere Verantwortung nicht mit dem Ruhestand oder an der Schultür abgegeben – sie bleibt.

Grundsätzliches

Angesichts der neu begründeten „Task-Force“ mit Olaf Köller befürchten wir weitere endlose Debatten in den mit den bekannten Personen besetzten Runden, nicht immer mit echter Schulerfahrung, dafür mit ideologischen Scheuklappen. Diese Einschätzung entspringt einer langen leidvollen Erfahrung. Stattdessen erscheint uns ein kluger, realitätsnaher Stufenplan kurzfristig, mittelfristig und langfristig umsetzbarer Maßnahmen dringend notwendig. Ein überzeugender Zeitplan mit klaren Zielsetzungen, bei dem die Umsetzung regelmäßig überprüft und ggf. nachjustiert wird, auch und gerade unter Einbeziehung von Praktikern, ist geboten. Dazu gehören selbstverständlich objektive Kriterien und der Verzicht auf Schönrednerei.

Im Fokus müssen wieder die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte stehen, nicht zuerst ein ideologisch fixierter Glaube an bestimmte pädagogische Rezepte, die Befriedigung von Interessenvertretungen, die Sorge um den politischen Machterhalt oder gar um den eigenen Posten.

Der Schwerpunkt muss angesichts von Abbrecherquoten und Verfehlung der Mindeststandards auf den Klassenstufen 1-10 liegen. Hier wird das Fundament für den Erfolg jedweder künftigen Ausbildung gelegt. Dabei sollten mit einer entsprechenden Konzeption die wichtigen Scharnierstellen in einer Schülerlaufbahn intensiver in den Blick genommen werden: Die Übergänge von der Kita zur Grundschule, von der Grundschule zur weiterführenden Schule sowie in die gymnasiale Oberstufe bzw. die duale Ausbildung. Der Übergang vom Abitur in den Studienbeginn und die duale Ausbildung insgesamt sollten einbezogen werden und mehr Beachtung finden im Austausch mit den „Abnehmern“ – Universitäten und Fachhochschulen sowie ausbildende Unternehmen.

Als Folge davon sollte der Ressortzuschnitt in der Bildungsverwaltung neu überdacht werden: Angesichts der Situation gehören Schule, Wissenschaft und berufliche Bildung in ein Ressort.

Inhaltliche Schwerpunkte müssen daher neben dem Schulbau und der Schulsanierung vor allem Unterrichtsqualität, Lehrpersonal und Lehrerbildung sowie Verwaltungshandeln/Schulinspektion sein.

An die Stelle des derzeit vorherrschenden reinen Quantitäts- und Quotendenkens und des trickreichen Umgangs mit Statistiken muss eine ehrliche und überprüfbare, vor allem inhaltliche Qualitätsverbesserung treten. Es geht nicht darum, dass „irgendwie“ von „irgendwem“ unterrichtet wird, sondern um guten, professionellen, nachhaltigen Unterricht.

Wie wäre es außerdem mit einer parallelen Initiative z.B. durch eine Serie in den Medien, die Berliner Schulstandorte und -konzepte als Best-Practice-Beispiele in den Blick nimmt, die trotz der großen Schwierigkeiten erfolgreich gute, lösungs- und leistungsorientierte Arbeit leisten, kreativ und zukunftsweisend?

Was getan werden muss…

Die nachfolgend genannten Aspekte haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, schienen in unserer Runde aber vordringlich.

Einiges zur Unterrichtsqualität

Wir fordern, die Qualität des Unterrichts im Kontext von Lehrer- und Verwaltungshandeln/ Schulinspektion grundlegend zu verbessern. Und zwar:

Die Wiedereinführung der Vorschule für alle Schülerinnen und Schüler ist dringlich geboten. Dabei geht es zum einen um den möglichst angeglichenen Sprachstand in der Unterrichtssprache Deutsch beim Übergang in die Grundschule, zusätzlich um das Eingewöhnen an und Einüben von wichtigen Verhaltensweisen, Ritualen und Arbeitsformen. Hier könnten z.B. auch Quereinsteiger durchaus sinnvoll eingesetzt werden und erste Praxiserfahrungen vor dem eigentlichen Unterrichten sammeln (in Frankreich hat Präsident Macron die Erweiterung der école maternelle ab dem Schuljahr 2019/20 verpflichtend gemacht).

Die gegenwärtige Überbewertung unterschiedlichster Methoden, mehrfachen hektischen Methodenwechsels innerhalb einer Unterrichtsstunde – je nach tagesaktuellem Mainstream – in der Lehrerbildung geradezu gefordert und oft ohne wirklichen Bezug zum Unterrichtsthema/Objekt oder zur Situation der Lerngruppe – wirkt im Hinblick auf die notwendige Übung in Konzentration, der Möglichkeit von Festigung und Wiederholung des Gelernten sowie Ergebnissicherung und Überprüfung kontraproduktiv. Die Lerninhalte müssen wieder Vorrang vor dem methodischen Schaulaufen haben. Schüler müssen am Ende einer Unterrichtsstunde wissen, worum es gegangen ist und was sie neu gelernt haben. Nichts gegen kluge methodische Varianten, aber dazu gehört dann auch ein guter instruktiver Frontalunterricht, der häufig mehr leistet und gerade für die Schülerinnen und Schüler, die es schwerer haben, wichtig ist. Entsprechende Studienergebnisse (siehe Hattie- Studie) liegen vor.

Regelmäßige benotete Leistungsüberprüfungen ab Kl. 3 sind notwendig, um gegenüber Schülerinnen/Schülern wie Eltern den erforderlichen Leistungsanspruch deutlich zu machen und vor allem frühzeitig gezielt fördern zu können.

Bis einschließlich Kl. 10 ist die konsequente Vermittlung und Sicherung von Sprachbeherrschung mündlich wie schriftlich in allen Fächern vordringlich wie auch sichere mathematisch-naturwissenschaftliche Grundlagen und historisch-politisches Grundwissen – also ein für jeden Einzelnen verfügbares solides Wissensfundament mit Methoden- und Argumentationsbausteinen im Sinne einer gemeinsamen kulturellen Basis. Die aktuell groß herausgestellte sogenannte „Qualitätsoffensive“ mit dem Hinweis z.B. auf regelmäßige Lese- und Schreibübungen benennt lediglich Selbstverständlichkeiten eines professionellen Unterrichts und ist eigentlich ein Offenbarungseid hinsichtlich der langjährigen Vernachlässigung erfolgreicher schulischer Chancenvermittlung.

Gerade mit Blick auf die Heterogenität der Schülergruppen ist darüber hinaus die konsequente Sicherung einer angemessen ruhigen, strukturierten Unterrichtsatmosphäre unverzichtbar. Dabei kommt dem Rückhalt durch Schulleitung und Kollegium entsprechende Bedeutung zu, auch bei notwendigen Sanktionen. Die ruhige Lernsituation ist besonders für schwächere und zurückhaltende Kinder und Jugendliche entscheidend. Hier genau können sich dann auch soziales Lernen und Teamfähigkeit beweisen und bewähren.

Einiges zum Lehrpersonal

Lehrkräfte gehören in den Unterricht und sind nicht zuerst Moderatoren oder Sozialarbeiter. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich auf ihre eigentliche Profession auch tatsächlich konzentrieren zu können. Ihnen gebührt Unterstützung, Respekt und Anerkennung. Daran fehlt es an vielen Stellen. Dazu gehört der Rückhalt im Kollegium, durch Schulleitung, Schulaufsicht und Eltern, wenn es um Beleidigungen, ungebührliches Verhalten o.Ä. geht.

Der Einsatz von Quereinsteigern im eigenverantwortlichen Unterricht sollte – auch zu ihrem eigenen Schutz – erst nach 6-monatiger angeleiteter Praxis erfolgen. Bei der Auswahl im Vorfeld muss die Eignung Vorrang vor der Quantität haben. Der aktuelle Senatsbeschluss zu den Quereinsteigern sieht wiederum nur kurzfristige Maßnahmen in den Ferien und weiterhin ausschließlich berufsbegleitendes „learning by doing“ vor – das reicht nicht!

Die Ausbildung der Referendare sollte wieder durch Seminarleiter sichergestellt werden, die für die jeweilige Schulart auch ausgebildet sind und die Fakultas besitzen. Entsprechendes gilt für den Vorsitz in den Zweiten Staatsprüfungen.

Inklusion gelingt nur bei Vorhandensein ausgebildeter Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Hier verbieten sich Notlösungen wie die derzeit gelegentlich praktizierte, dass sogar Quereinsteiger ohne jede Vorbereitung und Unterrichtserfahrung vor diese Aufgabe gestellt werden. Dann stehen alle Bemühungen um Inklusion nur auf dem Papier.

Beim binnendifferenzierten Unterricht herrscht vielfach Unsicherheit darüber, welche Folgen die Differenzierung für die Benotung hat. Hier bedarf es verbindlicher Festlegungen, um die Anforderungen an Notengebung ansatzweise zu erfüllen und die Benotung vor allem im Sinne der „Chancengleichheit“ transparent und vergleichbar zu machen.

Eine deutliche Erhöhung der Studienplätze für das Lehramt ist unverzüglich anzustreben. Dringend notwendig sind auch konkretere fachlich-inhaltliche Vorgaben in der Lehrerbildung.

Vor allem die Rückkehr zur Verbeamtung ist entscheidend! Berlin als einziges Bundesland, das nicht verbeamtet, steht sonst in einem aussichtslosen Konkurrenzkampf bei der Werbung um Lehrkräfte, belegt u.a. durch die starke Abwanderung nach Brandenburg.

Einiges zu Verwaltungshandeln/Schulinspektion

Grundsätzlich muss die Kommunikation der Verwaltung mit den Adressaten Schulen, Lehrkräften, Eltern, Schülerinnen/Schülern verbessert werden, also regelmäßig, zuverlässig, qualifiziert und auf Augenhöhe.

Die Kriterien der Schulinspektion für „guten Unterricht“ sind zu überarbeiten. Diese orientieren sich derzeit zu sehr an äußeren – nicht selten ideologischen – und zu wenig an nachprüfbaren inhaltlich-fachlichen Aspekten. Ebenso sollten die Verfahrensweisen überdacht werden. Auch hier gilt:
Evaluieren können nur diejenigen, die Ausbildung und Erfahrung in der jeweiligen Schulart mitbringen.

Eine Konkretisierung der Rahmenlehrpläne ist überfällig. Die derzeitige Inhaltsleere führt dazu, dass Standards nicht mehr verlässlich erreicht werden und dass die Planung von Unterrichtsinhalten vor allem für Quer- und Seiteneinsteiger, denen die schulische Erfahrung fehlt, aber letztlich für alle Lehrkräfte erschwert wird. Warum nicht als verlässliche und vergleichbare Basis wieder eine gewisse konkrete Kanonbildung mit Bandbreite mit fachwissenschaftlich und methodisch-didaktisch sinnvollen Beispielangeboten festlegen? Dies würde zudem – abgesehen von einer Erhöhung der Vergleichbarkeit – die Lehrkräfte entlasten, weil sie nicht jedes Jahr zu Schuljahresbeginn schulinterne Curricula erstellen müssten.

Im Übrigen sind wir der Meinung, dass die Berliner Schule, wenn jetzt konsequent mit höchster Priorität seitens der Landesregierung umgesteuert wird, noch zu retten ist – das haben alle, die hier lehren, lernen , leisten verdient. Lassen Sie uns die Berliner Schule verbessern – kompetent und professionell, leistungsorientiert und zugewandt und mit einer offenen, positiven, fröhlichen Perspektive!

Zum Artikel:  https://www.tagesspiegel.de/berlin/position-zur-berliner-schulpolitik-in-sorge-ueber-die-desastroesen-zustaende/24992038.html

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung der Autoren auf Schulforum-Berlin.

Lernerfolgsfaktoren

Pädagogische Beziehung – Der Geheimcode für Lernerfolg

Trotz medialer Digitalisierung bleiben Lehren und Lernen analoge Prozesse. Die Unterrichtsforschung lenkt aktuell den Blick auf den unterschätzten Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung. Ihre Qualität gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung – und an ihr lässt sich arbeiten.

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe nebenstehende Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.

Die Digitalisierung der Schule ist in aller Munde. Nichts, was sich dadurch nicht bessern soll: die Leistungen der Schüler, ihre Motivation, vielleicht gar die Bildungsgerechtigkeit. So schwärmte ein Didaktiker kürzlich davon, dass Tablet und Internet nicht lediglich neue Werkzeuge seien. Der wahre Mehrwert digitaler Medien bestehe keineswegs darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern vielmehr „völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen“. Die heraufziehende „Kultur der Digitalität“ tauche „die gesamte Gesellschaft in eine neue Denk-Nährlösung, in der auch solche Begriffe wie „Lernen“ und „Wissen“ neue Bedeutungen erhalten“.
Klingt schier überwältigend – aber stimmt eigentlich, was so einnehmend daherkommt? Steht mit der Digitalisierung wirklich eine Bildungsrevolution ins Haus? Wird man schulisches Lernen in 10 Jahren allen Ernstes nicht mehr wiedererkennen? Hellsehen kann sicher niemand – man wird beobachten müssen, wie sich die Dinge entwickeln. Der aktuelle Forschungsstand weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Digitale Lerneffekte auf dem Prüfstand

So besagt die XXL-Metastudie „Visible Learning“ des Neuseeländers John Hattie (2009/2017): Im Vergleich zur durchschnittlichen Lernprogression von Schülern (Effektstärke 0,4) bleiben die Lerneffekte durch Digitalisierung (mit Ausnahmen) leicht unterdurchschnittlich. Nicht Medien und Ressourcen sind entscheidend, sondern der Aktivierungsgrad der Schüler und die Lehrerimpulse zu gründlicher Stoffdurchdringung. Ob etwa jeder Schüler einen eigenen Laptop hat, ist relativ unbedeutend (0,16); wenn jedoch interaktive Lernvideos den Unterricht ergänzen, kann dies recht hilfreich sein (0,54). Auch im naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es anscheinend Wichtigeres als IT-Einsatz (0,23), während sich bei besonderen Förderbedarfen digitale Hilfsmittel als förderlich erweisen (0,57).

Das lässt zumindest vermuten: Der analoge (weil anthropologisch bedingte) Flaschenhals beim Lernen lässt sich weder umgehen noch ignorieren; durch ihn muss zunächst hindurch, wer in der Welt halbwegs mündig ankommen will, auch in der zunehmend digitalisierten. Deshalb titelte ja der Medienwissenschaftler Ralf Lankau: „Kein Mensch lernt digital“. Das Potential des neuen Handwerkszeugs für die Schule ist dabei unbestritten. Üben und Anwenden können für Schüler reichhaltiger und individueller werden, Einsichten lassen sich vielfältiger vertiefen, es gibt mehr Möglichkeiten für Feedback und Kollaboration. Ein vollkommen anderes, etwa selbstgesteuertes Erarbeiten neuer Zusammenhänge aber ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil: Das pädagogische Mantra der Eigenverantwortlichkeit hat im Licht der Empirie arg an Ansehen verloren.

Pädagogische Beziehung – altmodisch oder neuer Hit?

Dagegen lenkt Hatties riesige Datenbasis über Lehr-Lern-Effekte den Blick auf etwas gerne Unterschätztes: „Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern.“ Oder wie der Neurowissenschaftler Joachim Bauer so formuliert hat: „Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins.“ Als Kurzformel für die Schule: Unterricht ist vor allem Beziehungssache!

Es hängt nämlich ungemein stark vom Beziehungsklima der Lehrkraft ab, ob ich mich als Schüler auch an schwierige Sachverhalte herantraue oder aber vorzeitig aufgebe, ob ich mich auch mit lästigen Themen beschäftigen mag, ob ich meine Müdigkeit oder den Ärger mit meinen Tischnachbarn vorübergehend vergessen kann.

Umgekehrt beeinflussen Menschenbild und Kontaktfreudigkeit der Lehrkraft auch die eigene Berufszufriedenheit. Ob man immer wieder mit den verschiedensten Schüler gut zurechtkommt, ob Unterrichten einem auch nach Jahrzehnten noch Freude macht – das hängt stark davon ab, ob man junge Menschen in all‘ ihrer Unfertigkeit und Wildheit grundsätzlich mag (auch und gerade die „Schwierigen“); ob man sich für sie individuell interessiert und in sie hineinversetzen kann; ob man Lerngruppen gelassen und sicher zu führen vermag, auch durch schwierige Themen und turbulente Situationen.Potsdamer Lehrerstudie 2005

Lehrer-Schüler-Beziehung – was ist das eigentlich?

Pädagogische Beziehung ist also ein Geheimcode für Wirkerfolg wie Berufszufriedenheit, bildet aber in der Lehrerausbildung eine Art Grauzone. Dabei ist Beziehungsqualität weder Schicksal noch etwas Magisches – Lehrkräfte können auch in diesem eher emotionalen Bereich dazulernen. Zwar ist die Lehrer-Schüler-Beziehung imer persönlich geprägt, sie sollte aber zugleich professionellen Charakter haben. Schüler brauchen die Lehrperson als mitmenschliches Gegenüber beim Lernen – sie wollen als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen, unterstützt und geführt werden.

Konkret drückt sich das etwa darin aus, dass man an seinen Schülern interessiert ist und jeden auf seine Art schätzt; dass man Beiträge der Schüler aufgreift und vertiefende Rückfragen stellt; dass man die Stärken und Schwächen einzelner Schüler kennt und entsprechend anerkennen oder ermuntern kann; dass man außerhalb des Unterrichts auch für Persönliches ansprechbar ist; auch, dass man alle Abläufe im Klassengeschehen mitbekommt, eigene Fehler eingestehen kann, möglichst wenig ärgerliche oder abwertende Affekte zeigt. Nicht gemeint ist hingegen, Schülern der quasi „beste Freund“ sein zu wollen.

Das Geheimnis guter Klassenführung

Aber ich hab‘ doch 30 ganz verschiedene Schüler – wie kann ich da zu jedem Einzelnen in Beziehung treten? Und das womöglich sechsmal am Tag? Glücklicherweise haben Lernende gleich welchen Alters etwas Gemeinsames: Sie sind innerlich auf die kompetente Lehrperson ausgerichtet und wollen deren Beachtung und Bestätigung erfahren. Der Lehrer muss nur darum wissen – und seine Rolle als gute Autorität un-ver-schämt spielen. Wenn diese Beziehung stimmt, dann reisst man eine Lerngruppe einfach mit, auch bei Hitze, auch durch öden Stoff. Wirkungsvolles classroom management ist also nichts Technisches, sondern beruht auf einer inneren Haltung des Anführens – sie wirkt in jeder Äußerung, durch jede Entscheidung.

Kann man das denn lernen?

Diese zwischenmenschliche Dimension lässt sich nicht per Rezeptsammlung erwerben, aber im Berufsleben enorm ausbauen. Sie ist indes auch empfindlich, leicht hemmbar, schnell störanfällig. Berufsanfänger sind oft unsicher, ob die Schüler sie ernstnehmen; routinierte Lehrer leiden unter Lehrplanstress. Aber auch persönliche Eigenheiten einer Lehrkraft können stören: Perfektionismus etwa, oder eine allzu distanzierte Art; oder wenn sie um die Anerkennung von Schülern ringt oder Konflikte mit ihnen vermeiden will, sich also führungsscheu verhält.

Generell nimmt man als Lehrerin oder Lehrer Unterrichtsstörungen schnell persönlich: Man denkt dann, diese Schülerin fragt immer so komisch, die kann mich sicher nicht leiden; oder jener Schüler will mir mit seinen dauernden Witzen die Stunde kaputt machen; oder keiner schätzt meine aufwändigen  Vorbereitungen. Und dann wird man schlecht gelaunt – oder schießt gar mit Kanonen auf Spatzen. Tatsächlich möchte das Mädchen vielleicht nur zeigen, welch tolle Gedanken sie sich zum Thema macht; und der Junge könnte von eigenen Verständnisschwierigkeiten ablenken wollen. Alfred Adler, Pionier der pädagogischen Tiefenpsychologie, hat wichtige Anregungen gegeben, wie man Störungen als subjektive Lösungen durchschauen – und ungünstige Energie in nützliche Bahnen lenken kann.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Beitrag aus: https://www.goethe.de/de/spr/mag/21537868.html Das Goethe-Institut e. V. ist eine weltweit tätige Organisation zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland, zur Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und zur Vermittlung eines umfassenden Deutschlandbildes durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben.

Erfahrungsbericht einer Referendarin aus Berlin

Im Schatten der Quereinsteiger

Was passiert, wenn man versucht, eine ganz normale Berliner Grundschullehrerin zu werden.

TSP, 23.10.2018, Referendarin in Ausbildung

Tausende Quereinsteiger wurden in den vergangenen fünf Jahren in Berlins Schulen eingestellt. Viele von ihnen absolvieren ein berufsbegleitendes Referendariat. In den Schulen und Fachseminaren treffen sie auf Lehramtsanwärter mit „echtem“ Lehramtsstudium. In manchen Fächern – wie etwa in Geschichte – überwiegen noch die regulären Referendare, in anderen Fächern bilden sie die Minderheit. Was dann passiert, hat eine Betroffene aufgeschrieben. Wir drucken ihren Erfahrungsbericht anonym, weil sie sich noch in der Ausbildung befindet.

Ich studierte fünfeinhalb Jahre in Nordrhein-Westfalen für die Grundschule die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch und sammelte ein Jahr Erfahrungen in Praktika und Projekten. Als gebürtige Berlinerin „musste“ ich 2011 die Stadt verlassen, weil der NC auf eins Komma irgendwas stand. Schon damals wussten die Politiker garantiert, dass die Zahl der zu dieser Zeit ausgebildeten Lehrer auf keinen Fall ausreichen konnte. Etwa zwei Jahre später begannen sie, Quereinsteiger einzustellen.

In Mathematik durchgebissen
Im Grundschulalltag, das wusste ich, müssen viele Lehrer Mathematik unterrichten. Ich wollte darauf gut vorbereitet sein und entschied mich freiwillig auch für dieses Fach – ein Jahr bevor es Pflicht wurde. Wie oft bereute ich diese Entscheidung während der ersten vier Jahre und wollte mehrmals das Studium aufgeben, denn ich bin kein Mathemensch. Das Mathe-Pauken dominierte also das gesamte Bachelorstudium, was mir auch die ersten grauen Haare einbrachte. Mit eiserner Disziplin und auch viel Hilfe von Unterstützern bestand ich im vierten Jahr meines Studiums die letzte Matheprüfung. Das war eine sehr prägende Zeit.

Damals wusste ich ja nicht, dass bald in Berlin Menschen komplett ohne ein Lehramtsstudium Mathe unterrichten würden. Ich habe in dieser schweren Zeit tatsächlich etwas gelernt, und mein abstraktes Denkvermögen schärfte sich viel mehr als zu meiner eigenen Schulzeit. Allerdings würde ich fordern, dass das Studium mehr auf die Didaktik der Mathematik als auf die reine Mathematik ausgerichtet werden sollte, um den Kindern den Stoff besser vermitteln zu können.

Zurück in Berlin
Nach meinem Abschluss bin ich nach Berlin zurückgekehrt, da ich die Heimat vermisste. Schon kurz nach dem Beginn meines Referendariats habe ich es bereut, denn die Situation hier ist absurd.

Einige Beispiele: In meinem allgemeinen Seminar gibt es mit mir fünf Personen von insgesamt 14, die auf Lehramt studiert haben. In einem meiner Fachseminare war ich die Einzige und habe mein Wissen mit den wissenshungrigen Quereinsteigern geteilt – mehr als mein Seminarleiter, der selbst gar kein Grundschullehrer ist.

Es ist nicht unüblich, dass die Seminarleiter gar keine praktische Erfahrung in der Schulstufe haben, für die sie die Lehramtsanwärter ausbilden, weil sie von der Oberstufe abgeordnet wurden.

Alphabetisieren – ohne Didaktik
Manche der Quereinsteiger hatten Erfahrungen als Vertretungslehrer, andere hatten vor dem Beginn des Referendariats noch nie vor einer Klasse gestanden – das wird als „harter Einstieg“ bezeichnet. Unter ihnen waren Kollegen, die wurden Leiter einer ersten Klasse, ohne je Erfahrungen in Alphabetisierung oder Elementarmathematik gesammelt zu haben. In der Grundschule zählt die Schuleingangsphase aber zur Königsdisziplin, die sich sogar nicht alle erfahrenen Kollegen fachlich und organisatorisch zutrauen.

Die Quereinsteiger haben feste Verträge, sind versichert, unterrichten zwei bis sieben Stunden mehr als wir und verdienen mehr Geld. Eine Kollegin meinte einmal zu mir, dass sie für ein Gehalt der Lehramtsanwärter mit Lehramtsstudium den Quereinstieg sicher nicht begonnen hätte. Als normal ausgebildeter Lehramtsanwärter, von dessen Wissen die Quereinsteiger profitieren, kommt man sich da immer wieder vom Senat veralbert vor.

Benachteiligt als regulärer Referendar
Ein weiterer diskriminierender Aspekt: Wir dürfen zum Beispiel nicht mehr als zehn Stunden arbeiten, werden gezwungenermaßen Beamte auf Probe für anderthalb Jahre, obwohl klar ist, dass wir es hier in Berlin nicht bleiben werden. Als Beamte müssen wir uns selbst versichern. Entweder privat, wo man nicht so leicht wieder herauskommt oder freiwillig gesetzlich, was mit etwa 17 Prozent viel Geld ist. Selbst wenn wir wollten, dürften wir nicht mehr Stunden in der Schule arbeiten, aber vier Stunden einen Nebenjob im Supermarkt übernehmen oder Taxi fahren, während die Taxifahrerin, die studierte Geschichtswissenschaftlerin ist, als Quereinsteiger in die Schule geht. Obwohl wir in der Ausbildung sind, können wir als Beamte kein Ausbildungsticket kaufen und bekommen sonst auch keine Vergünstigungen oder etwa eine reguläre Kreditkarte, da der Arbeitsvertrag ja begrenzt ist.


Vergrößerung: Mit KLICK auf das Bild

Als ich mit meinem Gehalt auf Wohnungssuche war, wollte man mir meistens auf dieser Grundlage auch keine Wohnung anvertrauen, obwohl die Frau im Schulamt meinte, dass wir mit 1200 Euro doch gut verdienen als Auszubildende. Meine etwas ungehaltene Antwort darauf war, dass ich doch bereits etwa sechs Jahre meiner Ausbildung selbst finanziert habe und jetzt das Recht haben sollte, mit meinem Gehalt eine kleine Wohnung finanzieren zu können. Und das Ganze in einer Stadt, in der tausende Lehrer fehlen.

„Unterrichten statt kellnern“
Ich würde gerne mehr Stunden geben und somit mehr verdienen, und es wäre auch möglich gewesen, dass mich die Stadt wie einen Quereinsteiger mit mehr Stunden angestellt hätte. Bei meiner Bewerbung beim Senat hat mich aber niemand darauf hingewiesen – trotz Lehrermangels und anderer Krisen. Unter meinen regulären Kollegen gibt es drei von fünf, die dieses Angebot sofort angenommen hätten. Aber die Stadt hat nicht reagiert und uns stattdessen zu Beamten gemacht. Über die Gründe denke ich bis jetzt, über ein Jahr später, noch nach. Entweder geht es hier um Geld, weil man bei den „dummen“ regulären Lehramtsanwärtern gerne die Abgaben spart oder es wurde einfach nur verschlafen. Lieber wirbt man, mittlerweile jedenfalls, bei ehemaligen Lehrern für den Schuldienst oder auch bei Lehramtsstudenten: „Unterrichten statt kellnern“, nennt sich das dann. Als festangestellte Kollegen haben Quereinsteiger einen freien Tag im Halbjahr, sind im öffentlichen Dienst und haben mehr Geld am Ende des Monats.

Alles ist auf Quereinsteiger ausgerichtet
Alles ist auf sie ausgerichtet, denn sie sind in der Mehrheit. Die Seminare sind für studierte Lehrer fast nur Wiederholung, bieten aber gleichzeitig nicht genug Input für Neulinge. Auch wenn ich viele motivierte Quereinsteiger kenne, die sich viel Mühe geben, ist es teilweise erschreckend, wie der Lernzuwachs von manchen Kollegen nach einem Jahr aussieht.

Trotzdem arbeiten sie oft Vollzeit vom ersten Tag an: Das ist, als ob man einen Dachdeckerlehrling ein Dach decken ließe, dessen Vorwissen darin besteht, dass ein Dach oben auf einem Haus ist und aus Schindeln besteht. Wie man jetzt auf das Dach steigt und die Schindeln wetterfest anordnet, wird schon irgendwie klar werden beim Dachdecken. Und es gibt ja genug Kollegen, die die Arbeit noch mal kurz erklären können.

Die aktuelle wie die alte Berliner Regierung verantworten es, wenn es in ein paar Jahren normal ist, dass Kinder sogar mit den basalen Grundfertigkeiten Schwierigkeiten haben werden.

zum Beitrag:  TSP, 23.10.2018, Erfahrungsbericht einer Referendarin aus Berlin: Im Schatten der Quereinsteiger

Lehrerfortbildungen: „Allerlei Nutzloses wie Skurriles“

Lehrerfortbildung – Zwischen Spreu und Weizen trennen

Lehrerfortbildungen werden zu sehr vielen Themen angeboten, bei vielen lässt sich der Effekt für einen besseren Unterricht jedoch nicht erkennen.

FAZ, Bildungswelten, 18.10.2018, von Michael Felten

Wie Lehrer unterrichten, das weiß man im Groben. Aber wie sie sich fortbilden, wie sie ihre Kenntnisse auffrischen – fachlich, pädagogisch, organisatorisch -, das entzieht sich dem öffentlichen Blick weitgehend. Schaut man dennoch hin, stößt man auf allerlei Nutzloses wie Skurriles.

Grundschullehrerin Jana etwa nimmt an einem mehrtägigen Lehrgang teil, Thema „Kommunikation in Konfliktsituationen“. Kürzlich hatte sie doch einen schwierigen Mobbingfall in der 4. Klasse, und im Kollegium brodelt es ja ohnehin dauernd. Weich beginnt der Fortbildungstag mit fernöstlichen Sphärenklängen, dann wird die Zeit mit Kennenlernspielchen vertrödelt; später debattiert man das Thema zwar in Kleingruppen an, werden im Plenum typische Konfliktthemen gesammelt, Vermutungen über Lösungsstrategien angestellt, einige Fälle im Rollenspiel in Szene gesetzt und diskutiert. Aber alles bleibt im Vagen, es gibt keinerlei Input von Experten – am Schluss allerdings lange Evaluationsbögen.

Ein anderes Beispiel, Studienrat Jochen: Auf Drängen seiner Schulleitung besucht er eine der obligatorischen Angebote zur Schulentwicklung – vier achtstündige Tage innerhalb eines Halbjahres. Die Fortbildner stellen sich zunächst vor, referieren kurz, dass Lehrer zukünftig nur noch Lernbegleiter sein könnten, und verteilen Fragebögen (Dauer 1,5 h). Danach sollen die Teilnehmer ihre Schule in einem Plakat darstellen (2 h). Nachmittags gibt’s dazu einen gallery walk, so können sich Schulen finden, die zueinander passen (1 h), dies wird anschließend in einer Fragerunde diskutiert (2 h). Als Hausaufgabe soll überlegt werden, wie sich zukünftige Fortbildungsinhalte ins Kollegium transferieren lassen. Diese Innovationen kennt zwar noch keiner, erst recht weiß keiner, ob sie etwas taugen werden – aber niemand fragt, will unangenehm auffallen, gar als altmodisch dastehen.

Bisweilen bilden sich auch ganze Lehrerkollegien fort. Das Programm sucht nicht immer der Schulleiter selbst aus, häufig delegiert er – nicht unbedingt an jemanden, der sich in Schulentwicklungsfragen gut auskennt, ein innovatives Image und flexibles Karrieredenken genügen. Die Schüler bleiben dann einen Tag lang zuhause, und irgendwelche Moderatoren – womöglich ohne jede Unterrichtserfahrung, vielleicht gar „Unterrichtsflüchter“ – präsentieren dem Lehrerkollegium einen bunten Mix aus Selbstverständlichem, Anregendem und Unmöglichem. Und spätestens auf dem Heimweg beschleicht die meisten Teilnehmer das Gefühl, dass die Veranstaltung tatsächlich fort-bildend war – sprich, von ihren eigentlichen Problemen und Bedarfen wegführte. Die gängige Abkürzung für schulinterne Lehrerfortbildung lautet denn auch zweideutig SchiLF.

Oder aber die Veranstaltung hat viele eingelullt. Sie sind so erschöpft vom überfordernden Schulalltag, dass die in der „Zukunftswerkstatt“ breit diskutierte Vision einer „Schule von morgen“ wie ein Heilsversprechen nachhallt: mehr Teamarbeit, mehr Bewegung, mehr Humor, mehr Autonomie, mehr Bauästhetik, mehr Inklusion – nicht zuletzt Musik in den Pausen. Und erst zuhause findet man auf dem Schreibtisch den Brief der Schulverwaltung, der eine Anhebung der Stundenzahl ankündigt.

Schuld an solchen Verirrungen tragen natürlich auch die Kultusministerien – deren Kriterien für Schulqualität sind keineswegs immer der Forschung letzter Schrei. In NRW etwa spielen bei den regelmäßigen Schulinspektionen („Qualitätsanalyse“) die tatsächlichen Schülerleistungen gar keine Rolle, haben nicht-unterrichtliche Faktoren wie „Schulkultur“ oder „Führung und Management“ ein erhebliches Übergewicht, gilt für den Unterricht selbst das unsinnige Paradigma, wonach das beste Lernen selbstgesteuert sei.

Die Frage ist, wie lange wir uns eine solch enorme Verschleuderung von manpower, Schülerlernzeit und Steuergeldern noch leisten wollen. Dabei lässt die Unterrichtsqualität ja vielerorts erheblich zu wünschen übrig. Der jüngste minimale PISA-Aufschwung ist ein Gutteil Augenwischerei: In vielen Bundesländern zeigen sich am Grundschulende, zum Mittleren Schulabschluss, beim Abitur teilweise gravierende Kompetenzdefizite der Schüler – Tendenz steigend. Und bundesweit mangelt es an „Leistungsspitzen“, haben wir ein Übermaß an „Risikoschülern“.

Das liegt eben nicht nur am Lehrermangel. Auch die Professionalität des Lehrpersonals wurde lange vernachlässigt – die Schulaufsicht agierte vielfach ideologisch, die Basis gab sich gerne forschungsskeptisch. Die Folge: vielfach nur mäßig guter, bisweilen durchaus schlechter Unterricht. Das Vorwissen der Schüler wird zu wenig gründlich aktiviert, ihr Feedback zu Stolperstellen kaum eingeholt; es gibt zu selten Angebote für unterschiedliche Niveaustufen, das Lernklima wäre oft ausbaufähig.

Dabei könnten unsere Schüler mehr. Und auch Lehrkräfte wären durchaus fortbildungsinteressiert, halten aber viele Angebote für unsinnig: zu wenig anwendbar, zu wenig langfristig angelegt, zu wenig kollegial orientiert. Das liegt nicht zuletzt an der Armseligkeit vieler bisheriger Reformen: „Schulprogramme und Leitbilder haben Schülern nicht geholfen. Es geht kaum um Unterrichtsverbesserung, und die zwischenmenschlichen Beziehungen werden zu wenig beachtet.“ So das Resümee des Erziehungswissenschaftlers Jörg Schlee.

Psychospielchen und Innovationshuberei tragen eben herzlich wenig dazu bei, wenn man die „Kunst des beybringens“ alltagstauglich modernisieren will. Lehrer brauchen vielmehr solides Handwerkszeug dafür, wie man auch die „Neuen Kinder“ im Klassenverband effektiv unterrichten kann, wie man alltagstauglich der wachsenden Heterogenität Herr wird, wie man „Störenfriede“ entwicklungsförderlich knackt. Der Fall der Berliner Bergius-Schule hat gezeigt, dass Schulen bisweilen ihre Qualität erst dann steigern können, wenn sie sich über indoktrinierende Inspektoren hinwegsetzen.

Nun ist die Wirkung von Lehrerweiterbildung tatsächlich schwierig zu beurteilen. Teilnehmer mögen sich auf einer Veranstaltung wohlfühlen – sie verlief vielleicht unterhaltsam, der Trainer war cool, ein Flirtversuch gelang; ihr Unterricht muss dadurch aber keinen Deut besser werden. Und selbst wenn Lehrer nach einer Veranstaltung mehr fachliches oder methodisches Wissen haben, kann das ja erst der Anfang sein – der praktizierte Unterricht soll schließlich besser werden. Und das zeigt sich letztlich daran, dass die Schüler lieber und nachhaltiger lernen, dass sie solideres Grundlagenwissen erwerben, ihren Horizont erweitern, ihre Sozialität ausbauen.

Dank der Hattie-Studie, dieser weltgrößten Datensammlung über Unterrichtseffekte, kann sich jedenfalls niemand mehr damit herausreden, man könne nicht so genau sagen, welche Lehrmethoden welche Lernwirksamkeit hätten. Die Lehrerkollegien im Lande gehören über diese Befunde nur noch informiert, und diese sind auch gründlich aufzuarbeiten, methodisch wie pädagogisch.

Das aber kommt höchst zögernd voran, anscheinend sind die Klärungen der empirischen Unterrichtsforschung in manchen Amtsstuben nicht gern gesehen. Vielleicht, weil die Botschaft geradezu revolutionär ist: Das Märchen vom selbstgesteuerten Lernen und eigenverantwortlichen Arbeiten etwa wird drastisch dekonstruiert, die Lehrperson hingegen als souveräne, aktivierende und feinfühlige Führungskraft ebenso rehabilitiert wie fokussiert. „Im Zentrum steht ein Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen. Er muss ihr Lernen sehen können, um sein Lehren daran orientieren zu können.“ So die Hattie-Bilanz des Unterrichtsforschers Ewald Terhart.

Nach den antipädagogischen Irrungen der letzten Jahrzehnte dürfte solche Kunde den Lehrberuf deutlich attraktiver machen. Denn das fehlt ganz vielen Lehrer-fort-bildungen: Dass unter den Mühen des Alltags die pädagogische Begeisterung wieder freigelegt wird – für das Bilden und Erziehen überhaupt, für das Faszinierende an Heranwachsenden, für das Spannende an „schwierigen“ Schülern. Die neugegründete, von namhaften Forschern unterstützte „Initiative Unterrichtsqualität“ (IUQ) gibt dazu bundesweit Anstöße.

Außerdem liegt mit dem Programm EMU (evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung) ein kluges, vom Team um den Unterrichtsforscher Andreas Helmke im Auftrag der KMK entwickeltes Instrument vor, wie Lehrkräfte ihre Unterrichtsqualität ohne schulaufsichtliche Bevormundung verbessern können: durch verbindliches, kollegiales, auf valide empirische Kriterien gestütztes Hospitieren. Solch‘ gegenseitiges Besuchen und Kommentieren steigert Hatties Befunden zufolge den Unterrichtseffekt enorm. Kooperation an der Basis scheint bürokratischer, womöglich gar ideologischer Kontrolle weit überlegen.

Doch was soll mit den Hasardeuren in der Lehrerweiterbildung geschehen? Vielleicht sollte man das nach einem Bielefelder Bildungsforscher benannte Dollase-Kriterium anwenden: Jedem Referenten und Moderatoren auferlegen, jährlich einen Monat lang eine schwierige Mittelstufenklasse zu unterrichten – etwa als Vertretungslehrer. So würde sich ganz schnell Spreu von Weizen trennen.

Der Autor ist pensionierter Gymnasiallehrer und arbeitet als unabhängiger Lehrerweiterbildner.

Praxistest: „Unterrichtsmethoden“ und „Lernarrangements“

Das Kreuz mit der Gruppenarbeit

F.A.Z., BILDUNGSWELTEN, 06.09.2018, Remigius Bunia
Der tägliche Wahnsinn: Selbst an der gymnasialen Oberstufe eines betuchten Berliner Bezirks ist das Unterrichten ein Balanceakt.

Wie viele andere, die unfreiwillig ihre langjährige Karriere an der Universität beenden mussten, entschied ich mich dazu, Lehrer zu werden. Nirgendwo sonst sucht ein Arbeitgeber derart verzweifelt nach Bewerbern, dass ein Hochschulabschluss allein genügt, um eine unbefristete Stelle zu erhalten. Zum Halbjahr 2017/2018 trat ich eine Stelle als Mathematik- und Deutschlehrer an einem Berliner Gymnasium im betuchten Ortsteil Grunewald an. Nur sechs Monate später kündigte ich wieder.

Es gibt einiges, worüber ich klagen kann und wozu sich viele geäußert haben. Es sind vor allem die lauten Klassen, die nicht zuhören: Ich erlebte täglich, dass die Kinder im besten Fall 30 Sekunden am Stück zuhören konnten. Es war normal, dass Erik – mit ADHS diagnostiziert – Mike mit Stiften bewirft, dass Klara im Unterrichtsraum ohne Unterbrechung singt, dass der dreizehnjährige Maximilian mit dem Anwalt seiner Eltern droht, weil er sich setzen soll, und dass kein Kind versucht, etwas zu lernen. Das geschieht im Unterricht. Während der Pausen sind dieselben Schüler vernünftige Wesen, mit denen man über Kleidung, Börsenkurse und den Zustand des öffentlichen Nahverkehrs plaudern kann. Die gängige Theorie, die das zu erklären sucht, sieht in den Medien und vor allem im Smartphone den Schuldigen. In Wahrheit ist es jedoch die Schule selbst, die zu diesem täglichen Wahnsinn erzieht.

Die unmittelbaren Konsequenzen sind katastrophal. Die wichtigste Folge sind die mangelnden fachlichen Kompetenzen der Kinder. Der Hauptgrund für meine Kündigung war, dass ich gezwungen war, in der Mittelstufe einen Unterricht zu halten, der zu einem Desaster in der 11. und 12. Klasse führen muss. Die Jugendlichen beherrschen Mathematik in der Oberstufe auf einem erbärmlichen Niveau. Während meiner Schulzeit galt das Lösen von Gleichungen als Minimalvoraussetzung, um in die 11. Klasse zu gelangen. Doch wurden die Anforderungen so weit gesenkt, dass für viele Schüler meines Mathematikgrundkurses selbst lineare Gleichungen nichts als rätselhafte Buchstaben- und Zeichenreihen bildeten. Damit nicht ein ganzer Jahrgang nur Vieren und Fünfen erhielt, vergab ich Zweien und Dreien für Leistungen, mit denen man an ein naturwissenschaftliches Studium nicht einmal denken kann. Den Jugendlichen dieses Grundkurses hätte man die gesamte Mittelstufe ersparen können, und sie wären auf demselben Niveau gelandet. Im Fach Deutsch wiederum verfügten die Jugendlichen der 11. Klasse über so wenig Allgemeinwissen, dass sie beispielsweise Zeitungstexte überregionaler Zeitungen – trotz guter Sprachfähigkeiten – nicht kontextualisieren können.

Eine andere Folge liegt im Sozialverhalten. Wenn von 30 Kindern 15 Unruhe stiften, also gewalttätig sind, herumlaufen, rufen oder einander rassistisch beleidigen, ist es schwer, fair zu sein. Ich habe in dem halben Jahr an der Schule als Lehrer mehr ungerechte Entscheidungen getroffen als in meinem gesamten Leben zuvor; und bei meinem Abschied haben mir einige ausgerechnet dafür gedankt, dass ich noch einer derjenigen Lehrkräfte gewesen sei, die sich um Fairness bemüht hätten. Die meisten der anderen Lehrer, auch das ist meine Erfahrung, sind völlig abgestumpft, kämpfen sich mit Geschrei oder absurden Sanktionen durch den Tag und zeigen den Kindern, dass dieser Staat sich – zumindest an den Schulen – um Gerechtigkeit nicht schert. Anders ist offenbar der schulische Alltag nicht zu bewältigen. Bei einer schriftlichen Umfrage, die ich in der 8. Klasse erhob, klagten viele Kinder über die Unfreundlichkeit und die Kälte der Lehrkräfte.

Was ist die Ursache der Misere? Als Lehrer im Quereinstieg musste ich das Referendariat absolvieren. Das ist eine Lern- und Arbeitsphase, in der man erfährt, wie man nach Vorstellungen des Staates unterrichten muss. Am Ende der knapp 18 Monate steht das Zweite Staatsexamen an, das man nur besteht, wenn man die didaktischen Vorgaben korrekt umsetzt. So hatte ich als Quereinsteiger zwar einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten, aber es galt die Bedingung, die Prüfung zu bestehen.

Das Referendariat ist übel beleumdet. Unter den Lehrern und Lehrerinnen in meinem Freundeskreis, die bis heute an Schulen unterrichten, haben es viele als traumatisch empfunden. In Berlin wird man drei sogenannten Seminarleitungen unterstellt, denen man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Vielleicht ist es eine Fügung gewesen, dass meine drei Seminarleiterinnen außerordentlich engagiert und kompetent waren; vielleicht muss man in Berlin, wo dieselben Personen Lehrkräfte für Problemschulen und Luxusgymnasien ausbilden, nah an der Realität bleiben. Mit der Hauptseminarleiterin stritt ich schon am dritten Tag lauthals, und trotzdem fiel ich nicht in Ungnade. Alle drei Seminarleiterinnen taten im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles, um für gute Lehrkräfte zu sorgen.

Doch der Rahmen, in dem sie agieren, verhindert guten Unterricht. Ich lernte, wie man in Deutschland zu unterrichten hat. Die zahlreichen „Methoden“ oder „Lernarrangements“ zählen zum Gesamtkonzept des „offenen Unterrichts“. Sie sind, davon bin ich überzeugt, die wichtigste Ursache für die Defizite, mit denen wir an deutschen Schulen kämpfen. Was heißt offener Unterricht? Das Kind soll die Strategien, wie es den Stoff bewältigen will, selbst entwickeln. Man nimmt an, dass ein Kind kognitiv aktiver ist, wenn es vor Rätsel gestellt wird und so besser lernt. Diese Kernidee beruht auf einem kapitalen Missverständnis der konstruktivistischen Neurologie, die zu Recht sagt, ein Mensch, der lerne, sei dabei aktiv. Aus dieser trivialerweise richtigen Beschreibung hat die Pädagogik irrtümlich gefolgert, das Kind müsse im Klassenraum herumlaufen, damit es gut lerne.

In der Praxis heißt das zum Beispiel für die Mathematik, dass die Lehrkraft am Anfang der Stunde in den Unterrichtsraum kommt und eine Aufgabe verteilt: „Ihr wollt euer kreisrundes Badezimmer mit neuen Fliesen verlegen, wie viele Fliesen braucht ihr?“ Vorausgesetzt wird lediglich, dass die Kinder wissen, wie man die Fläche von Rechtecken bestimmt. Daraus sollen sie jetzt spontan ein Verfahren für Kreise ableiten. Wer die Aufgabe überhaupt versteht, probiert dreißig Minuten ohne Erfolg, die Lösung zu finden. Die übrigen Schüler vertun ihre Zeit vollends. Am Ende verrät die Lehrkraft die richtige Formel. Aus Sicht der vorherrschenden pädagogischen Theorie aktiviert das Raten die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder. Aus Sicht der Kritiker verschwendet man nicht nur Zeit, sondern verwirrt die Kinder, die auf die richtigen Lösungsstrategien nur beiläufig am Stundenende kurz blicken dürfen. Als Lehrer darf ich nicht erklären. Am besten wäre aus Sicht der Pädagogik, wenn die Lehrkraft unsichtbar bliebe. Die verschiedenen Methoden, die dabei helfen sollen, das zu verwirklichen, musste ich lernen und anwenden, und sie werden Tag für Tag an deutschen Schulen eingesetzt. Da gibt es zum Beispiel das „Lernbuffet“: Man legt im Raum Stapel mit Zetteln aus, auf denen Informationen zu finden sind, beispielsweise verschiedene Texte über den Dreißigjährigen Krieg. Die Kinder laufen 40 Minuten im Raum herum und lesen diejenigen Texte, die sie ansprechen. Damit ist eine Schulstunde absolviert.

Oder nehmen wir das „Karussellgespräch“: Die Klasse teilt sich in zwei Gruppen; jede Gruppe liest einen Text. Dann setzen sich die Kinder in eine komplexe Formation im Klassenraum, rücken von links nach rechts auf Stühlen und erklären einander die Texte. Ob die Kinder die Texte verstanden haben und ob sie sie erklären können, bleibt dem Zufall überlassen. Es war meine Erfahrung, dass nur sehr wenige Kinder in der Lage waren, nach einer schnellen Lektüre Kompetenzen und Inhalte korrekt an ihre Mitschüler und Mitschülerinnen zu vermitteln. Als Lehrer sollte ich eingreifen, aber es ist unmöglich, bei 15 Paarungen alle individuell über ihre Irrtümer aufzuklären.

Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, Lehrmaterial zu kreieren. Die schweren Schulbücher, die wir alle zu tragen haben, kommen selten zum Einsatz; stattdessen muss man für jede Stunde Arbeitsblätter entwerfen. Tue ich das nicht und versuche, etwas zu erklären, gelingt das nicht, weil die Kinder längst nicht mehr zuhören können. Denn Zuhören ist an vielen Grundschulen nicht mehr Teil des Unterrichtsalltags. In der Pause hingegen hören mir die Kinder zu; denn außerhalb des Unterrichts ist mündliche Kommunikation noch eine normale soziale Praxis geblieben.

Als ich mit einer Mutter aus Nordrhein-Westfalen über die Probleme sprach, äußerte sie ihre Überraschung darüber, dass in der Grundschule alle Kinder im Raum herumliefen und wild miteinander sprächen. Tatsächlich wird das Kind in der Grundschule in den Brunnen geworfen. Denn am Gymnasium versuchen Lehrkräfte immer wieder, Sachverhalte zu erklären und mit den Kindern mündlich zu kommunizieren. Aber wer eine deutsche Grundschule durchlaufen hat und nicht über ein Elternhaus verfügt, das die Schäden durch häusliche Hilfe kompensiert, ist bereits verloren. Die Schule hält die Kinder dazu an, im Klassenraum herumzulaufen. Im Vergleichstest des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zeigt sich dann, dass rund 40 Prozent der Viertklässler in Deutschland in den untersten zwei Niveaus in der Kompetenz Zuhören liegen und 25 Prozent davon praktisch gar nicht zuhören können.

Da alles in Gruppenarbeit unterrichtet werden soll, erklären Kinder Kindern in 20 Minuten neue Dinge, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrhunderte gebraucht hat. Das funktioniert nicht. Empirische Studien zum offenen Unterricht sind allerdings selten. Immerhin hat der Lüneburger Erziehungswissenschaftler Martin Wellenreuther einige der modernen Lernarrangements untersucht und festgestellt, dass sie fast allen Kindern enorm schaden. Nur hochbegabte Kinder lassen sich durch diese Verfahren anspornen und bringen etwas höhere Leistungen; am härtesten treffen die Verfahren Kinder, die ohnehin Mühe haben, sich selbständig durch Texte zu arbeiten, weil sie Deutsch erst in der Schule lernen. Brutal streicht Wellenreuther heraus, dass es lernpsychologisch irrsinnig ist, Kinder sich 40 Minuten mit falschen Lösungen beschäftigen zu lassen, um ihnen am Ende in fünf Minuten die richtige Lösung zu präsentieren. Die Kinder sind am Ende einfach nur konfus; kaum ein Kind kann sich die richtige Lösung merken, geschweige denn sie anwenden.

Dass etwas mit dem offenen Unterricht nicht stimmt, hat sich spätestens seit der breit angelegten Meta-Studie zu Lehrverfahren von John Hattie in Deutschland herumgesprochen. Demnach ist der sogenannte Frontalunterricht – also: der Lehrer erklärt, die Kinder üben dann – sehr effektiv. Leider hat Hattie nicht untersucht, wie schädlich der offene Unterricht – die Kinder raten 40 Minuten, der Lehrer lüftet am Ende das Geheimnis – ist. Das Problem ist, dass mit diesen Arrangements nur in wenigen Staaten experimentiert wird. Allen voran sind dies die Vereinigten Staaten und Deutschland. Im übrigen Europa hat man sich dieser verrückten Ideologie nicht angeschlossen.

Das Produkt sind unruhige Klassen. Dass ADHS in Deutschland und in Amerika oft medikamentös behandelt werden muss, ist eine Konsequenz dieser verfehlten Unterrichtsarrangements. Wer unter ADHS leidet, ist leicht abzulenken; und vor allem leidet er unter Langeweile mit fast physischen Schmerzen. Irrtümlich denken Laien, dass sich Menschen mit ADHS nicht konzentrieren können. Doch jedes Computerspiel und jede Stunde am Smartphone beweisen das Gegenteil. Und mit den Kindern mit ADHS meiner Klassen konnte man in der Pause konzentriert und lustig und ernst sprechen. Was man aber Kindern mit ADHS nicht antun darf, ist ein Klassenraum, in dem der Unterricht selbst immer wieder Ablenkung produziert. Doch genau so einen Unterricht zwingen wir den Kindern auf. Wenn Kinder im Unterricht durch ihr Unterrichtsbuffet rasen sollen, wenn Kinder ständig Tische für die nächste Lernmethode umstellen müssen, wenn alle in der Gruppenarbeit parallel durch den Raum rufen sollen, dann ist es kein Wunder, dass Kinder mit ADHS im Klassenraum irgendwann anfangen, mit Stiften zu werfen. Es gibt nicht einmal das Angebot, sich auf eine Sache für fünf Minuten einzulassen.

Der Autor ist Germanist und Diplom-Mathematiker.

Zu den Publikationen von Prof. Martin Wellenreuther: http://www.martin-wellenreuther.de/content/publikationen.html

siehe auch:  Lipowsky, F. & Lotz, M. (2015), Individualisierung verkennt das Potenzial sozialer Kontexte beim Lernen – Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden

Hervorhebungen im Fettdruck und eingefügte Links im Text durch Schulforum-Berlin.