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Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.

Zwischenruf einer Lehrerin: Unser Beruf ist extrem belastend geworden!

Entgegen aller Vorurteile ist der Lehrerberuf keineswegs geruhsam. Eine Berliner Lehrerin über die Härten ihres Jobs.

Franziska Klumpp

Der Lehrerberuf ist schön, nur bei Regen nicht, weiß die Berliner Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse aus eigener Erfahrung als langjährige Schulleiterin einer Grundschule in Berlin-Neukölln. Bei der Verbeamtungszeremonie letzte Woche, bei der seit 18 Jahren das erste Mal wieder junge Berliner Lehrerinnen und Lehrer verbeamtet wurden, bekannte sie: Nach drei Regenpausen habe sie sich hin und wieder doch gefragt, warum sie sich das eigentlich antue.

Liebe Frau Senatorin, wenn es weiter nichts wäre als verregnete Pausen! Wenn es weiter nichts wäre als Pausen, die mit Elterntelefonaten, Besprechungen, Kopieren und Organisieren verbracht werden statt in Ruhe mit einer Tasse Kaffee! Wenn es nicht mehr wäre als Arbeiten in oft heruntergekommenen Schulgebäuden und mit alten und zu wenigen Computern! Wenn es weiter nichts wäre als Klassenstärken von über 30 Schülerinnen und Schülern, davon immer mehr mit häuslichen Problemen, Lernschwierigkeiten und verschiedenem Förderbedarf! Wenn es weiter nichts wäre als ständig zunehmende Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben zusätzlich zu den 26 Unterrichtsstunden pro Woche! Wenn es nicht mehr wäre als die Vorbereitung von Prüfungen und die schier endlosen Korrekturen von Klausuren, die wieder einmal die Ferien, das Wochenende oder die letzten Nächte gekostet haben! Wenn es weiter nichts wäre als die allabendliche Unterrichtsvorbereitung, während andere Leute Feierabend haben, den „Tatort“ sehen oder einem Hobby frönen!

Die Dauerbelastung der Berliner Lehrkräfte

Wenn es weiter nichts wäre als das Fehlen jeder Aufstiegsperspektive oder die fehlender Anerkennung durch Schulleitung, Schulaufsicht und Senatsverwaltung, die Jahr für Jahr neue außerunterrichtliche Aufgaben ersinnen, ohne dass je etwas dafür wegfiele! Wenn es weiter nichts wäre als das!

Aber all das zusammen, liebe Frau Senatorin, bedeutet eine Dauerüberlastung der Berliner Lehrkräfte, die dazu führt, dass immer mehr in Teilzeit arbeiten. Denn anders ist das Pensum kaum zu schaffen, wenn man – fast hätte ich es vergessen! – neben all dem auch für jede einzelne Schülerin und jeden Schüler da sein möchte, freundlich, geduldig und einfühlsam.

Wenn man wissen möchte, wie es den Beschäftigten einer Branche geht, blättere man einfach in den Blättchen der jeweiligen Berufsverbände. Wer wirbt darin wofür? Im PROFIL, dem Magazin für Gymnasium und Gesellschaft des Deutschen Philologenverbandes, sind es vor allem Burn-out-Kliniken, die in jeder Nummer großformatig mit Verheißungen werben wie „Erschöpft und ausgebrannt? Wir sind für Sie da!“

Die meisten Lehrer haben eine Sieben-Tage-Arbeitswoche

Eine andere verspricht „Endlich wieder Ruhe finden – wir helfen bei Depressionen, Burn-out und Angst- und Stresserkrankungen“.

Arbeitszeitstudien, wie z.B. 2020 die Studie Lehrerarbeit im Wandel (LaiW) des Deutschen Philologenverbandes belegen immer wieder, dass ein Großteil der Lehrer eine 7-Tage-Arbeitswoche hat. Nur etwa die Hälfte der Befragten gab an, eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden und vier von zehn Lehrkräften klagten über Schlafprobleme.

Da klingt es wie Hohn, wenn bei der erwähnten Verbeamtungszeremonie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey die jungen Beamten auf die rot-weißen Kordeln an ihren Verbeamtungsurkunden hinwies, die ein Zeichen seien für „die Lebenszeitverbeamtung und ruhigen Schlaf“.

Dank der verfehlten Einstellungspolitik und der Sparmaßnahmen des Berliner Senats, gepaart mit permanenten „Bildungsreformen“ und ständig wachsenden Aufgaben jenseits des Unterrichts, ist der Lehrberuf in den letzten Jahrzehnten ein extrem belastender und gesundheitsschädlicher Beruf geworden.

Vor allem Lehrkräfte mit Kindern sehen sich genötigt, ihre Arbeitszeit drastisch zu reduzieren. Niemand kann 50 bis 60 Stunden pro Woche arbeiten, wenn auch eigener Nachwuchs Ansprüche an Zeit, Kraft und Zuwendung stellt. Nur die wenigsten Lehrkräfte halten bis zur Pensionierung durch, wenn sie in Vollzeit arbeiten. Aber vielleicht können sich die nun neu bestallten Beamten ja, wenn sie erst einmal im Hamsterrad Schule angekommen und bald darauf am Ende ihrer Kräfte sind, an der eigenen rot-weißen Kordel aus dem Sumpf der Verzweiflung ziehen.

Die Autorin ist seit 1999 im Berliner Schuldienst und unterrichtet an einem Pankower Gymnasium die Fächer Englisch, Deutsch und Latein. Dieser Beitrag erscheint auf der Website Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Er ist zuerst in der Berliner Zeitung erschienen.

Bildungssenator*in gesucht

Der Landeselternausschuss sucht für den Senat von Berlin ab sofort eine*n neue*n Bildungssenator*in für den Bereich Bildung.   ;)

Der Landeselternausschuss Berlin fordert eine Reihe von Maßnahmen, mit der die Qualität der Schulbildung in Berlin maßgeblich verbessert wird und die dem Lernort Schule die Bedeutung verleiht, die er verdient. Dazu gehört, dem Thema Bildung endlich die verdiente Aufmerksamkeit zu widmen, die bisher selten über einen Wahlkampf hinaus Bestand hatte.

Website: Landeselternausschuss Berlin, Norman Heise


Bereits am 11.05.2014 schrieb Harald Martenstein über die Schulpolitik in der Hauptstadt im Tagesspiegel:
Die Berliner Schüler werden von gleichgültigen und skrupellosen Politikern und Bürokraten nicht aufs Leben vorbereitet. Alles was auf sie wartet, ist eine Katastrophe.

Der Tagesspiegel hat in der vergangenen Woche gemeldet, dass an den Berliner Schulen die Leistungsanforderungen ein weiteres Mal gesenkt werden. In der Vergangenheit gab es in Berlin nämlich, verglichen mit anderen Bundesländern, hohe Durchfallquoten bei den Abschlussprüfungen. Um das Problem zu lösen, haben sie durch einige Verwaltungsmaßnahmen das Durchfallen nahezu unmöglich gemacht. Eine „5“ in Mathematik können die Schüler beim mittleren Abschluss zum Beispiel mit einer „3“ in Deutsch ausgleichen, früher war eine „2“ notwendig. […] Um zu erreichen, dass wirklich jeder Schüler im Fach Deutsch eine „3“ erreichen kann, wurde der schriftliche Anteil der Prüfung, also Diktate, Aufsätze und dergleichen, auf nahezu null zurückgefahren. Es genügt offenbar, einige Worte sprechen zu können. Vielleicht wird daraus eine Art Sport unter den besonders ehrgeizigen Schülern – wer schafft es, sogar in Berlin durch die Prüfung zu fallen? […]

Schüler, die nicht lernen mussten, sich anzustrengen. Schüler, die fast nichts wissen. Schüler, denen niemand die Chance gegeben hat, an Misserfolgen zu wachsen. Schüler, die nach vielen vergeudeten Jahren ein Zeugnis in der Hand halten, das wertlos ist. Kein Unternehmen wird das Zeugnis ernst nehmen. Wer eine Stelle will, muss erst mal eine Prüfung absolvieren, diesmal eine echte, keine Berliner Pseudoprüfung. Das hat der Schüler aber nicht gelernt. […] Hinter der Schulreform steckt nicht Menschenfreundlichkeit. Es stecken Gleichgültigkeit und Skrupellosigkeit dahinter. Hauptsache, unsere Statistik stimmt, 98 Prozent erfolgreiche Prüfungen. […]

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 11.05.2014, Harald Martenstein, Berliner Niveaulimbo

siehe auch: Berlins Schulen besser machen als sie sind!

Mit Ruhe, Regeln, Ritualen und Empathie erfolgreich gegen den Bildungsnotstand – eine Buchrezension

von Inge Lütje

Am 9. Mai erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, verfasst von Uwe Ebbinghaus, eine Rezension des Buches „Wahnsinn Schule – Was sich dringend ändern muss“. Autoren dieses Buches sind der Schulleiter der Friedrich-Bergius-Oberschule in Berlin, Michael Rudolph, und Susanne Leinemann, Bildungsredakteurin für die „Berliner Morgenpost“. Das Buch ist das Ergebnis der jahrelangen Tätigkeit von Rudolph als Lehrer, zunächst seit 1978 an Brennpunktschulen in Kreuzberg und Neukölln, später als stellvertretender Schulleiter und dann als Direktor der Bergius-Schule, die, bevor er sie 2005 übernahm, wegen des schlechten Rufes und daraus folgend zu geringer Anmeldungen von der Schließung bedroht war. Wir haben es also mit einem ausgewiesenen Kenner der Schulentwicklung in Berlin und der Schülerschaft der heutigen integrierten Sekundarschule (Klasse 7 bis 10, ohne gymnasiale Oberstufe) zu tun.

Uwe Ebbinghaus kann der in dem Buch anschaulich und durch viele Beispiele nachvollziehbar beschriebenen Pädagogik und Methodik, die die Bergius-Schule zu einer über den Bezirk hinaus anerkannten Institution gemacht hat, durchaus Positives abgewinnen. Er würdigt die „schonungslose Diagnose“ des Schulleiters, seine „intellektuelle Redlichkeit“, mit der er „die stärksten Argumente gegen sein strenges Regime selbst ins Spiel bringt“, sein „glaubhaftes Anliegen, seinen Schülern, unabhängig von ihrer Herkunft, eine berufliche Zukunft zu ermöglichen“. Doch bereits mit der Überschrift „Feuerzangenbowle statt Fack ju Göhte“ legt er dem Leser ein negatives Urteil nahe, denn der Roman steht für eine seelenlose Pädagogik, für schrullige, autoritäre Pauker der Kaiserzeit. (Dass Heinrich Spoerl die einfallsreichen und witzigen Streiche der Schüler in den Mittelpunkt stellt, mit denen sie das autoritäre Gehabe ihrer Lehrer untergraben, entgeht Ebbinghaus augenscheinlich.) Diese Einschätzung wird im Verlauf der Rezension noch durch weitere Äußerungen untermauert: Da wird die Bergius-Schule als „Kadettenanstalt“ bezeichnet, die pädagogischen Maßnahmen werden mit „ans Militär erinnernde[n] Disziplinarmaßnahmen“ verglichen und der Verfasser stellt bereits in der Überschrift die Frage: „[…] ist sein System wirklich fair?“, eine rhetorische Frage, auf die er in seinem Text nicht weiter eingeht. 

Diese Beurteilung wird dem Anliegen von Rudolph und seinen Kolleginnen und Kollegen in keiner Weise gerecht. Um deren Pädagogik und Methodik sachgerecht einschätzen zu können, muss es zunächst eine Bestandsaufnahme geben. Worin besteht – so der Titel des Buches – der „Wahnsinn Schule“? Und um welche Schule bzw. Schüler handelt es sich? Zusammengefasst beschreiben die Autoren die betreffende Schülerschaft so: für viele gilt Bildungsferne, prekäre Verhältnisse, Migrationshintergrund, auffällige Verhaltensprobleme. Weiterhin konstatieren die Autoren eine zunehmende Schuldistanz und mangelnde Lernbereitschaft, Zuspätkommen, Gewalt gegen Mitschüler, keine Achtung vor Erwachsenen, viel zu große Klassen mit einer beängstigenden Leistungsspanne, Störer, geringe Konzentrationsfähigkeit. Aber: „Diese Schüler sind nicht weniger intelligent, nicht weniger begabt als Schüler aus bürgerlichen Elternhäusern. Doch sie brauchen eine andere Art von Unterstützung“ (S. 187). Und sie stellen fest, „[…] dass viele Schüler in offenen, selbstorganisierten Unterrichtsformen, die sie häufig in der Grundschule erlebt haben, zu wenig gelernt haben, zu einfach abtauchen konnten“ (S. 30). Anschaulich wird das durch ein Beispiel: Jeder neue Schüler, der ja bereits sechs Schuljahre hinter sich hat, wird im persönlichen Eingangsgespräch unter anderem gefragt: „Kannst du mir sagen, was 3 mal 9 ist?“ (S. 15). Das Ergebnis, so Rudolph, sei niederschmetternd: Nur ein Drittel nennt das richtige Ergebnis, ein weiteres Drittel kann, oft nur mit großer Anstrengung und unter Zuhilfenahme der Finger, eine korrekte Antwort geben und vom letzten Drittel kommt nichts. Die Daten der jüngsten PISA-Studie, des IQB-Bildungstrends und des Vergleichstests „VERA“ geben dieser Einschätzung recht, die Ergebnisse sind, vor allem für die integrierten Oberschulen, alarmierend. Treffend spricht Rudolph von „Kollateralschäden“ der aktuellen Bildungspolitik, die aber von dieser „banalisiert“ (S. 35) würden, und er stellt fest: „Unsere Kinder verlernen zunehmend, sich anzustrengen“ (S. 42). Diese verheerenden Ergebnisse müssten eigentlich nicht nur die Bildungspolitiker auf den Plan rufen, sondern die gesamte Gesellschaft!

Welche Konsequenzen hat Rudolph zusammen mit seinem Kollegium aus dieser Bestandsaufnahme gezogen, als er 2005 als Rektor antrat? Gleich am Anfang seines Buches schreibt er: Hier soll „nicht ein einziges pädagogisches Konzept propagiert werden, denn uns ist immer bewusst: Es geht auch ganz anders. Jede Schule ist eine andere“ (S. 12). Und er fährt fort: Aber alle Wege sollten „ein gemeinsames Ziel haben: Wissen zu vermitteln und ein gutes Sozialverhalten zu entwickeln. Es geht um Leistung und um das Miteinander. Es gibt zwei Fragen, die sich […] jedes Kollegium immer wieder stellen muss […]: Haben meine Schüler genügend gelernt? Handeln sie umsichtig?“ (S. 13). Zusammengefasst heißt sein Konzept: „Leistung fordern, Sozialverhalten fördern, Berufsfähigkeit erreichen“ (S. 117). Auf diesen drei Säulen beruht die pädagogische und methodische Arbeit.

„Leistung fordern“: Die Ausgangsfrage von Rudolph lautet: „Wie bringt man Kinder voran, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens aufwachsen und damit eine viel schlechtere Ausgangsposition haben?“ (S. 183). Seine Antwort: Der Unterricht beginnt pünktlich (nach eigener Erfahrung aus 35 Jahren Lehrertätigkeit an einem Gymnasium keine Selbstverständlichkeit!) mit einer Begrüßung im Stehen, nicht erlaubt sind Handys, Basecaps, Kaugummi, Essen und Trinken; wer diese Gebote ignoriert, muss mit Maßnahmen rechnen; das Arbeitsmaterial liegt auf dem Tisch; Rituale, Regeln und Ruhe ermöglichen einen konzentrierten Unterricht, es wird viel gelernt, geübt und wiederholt: „Die Basis muss sitzen – denn aus der Basis erwächst das freie Denken“ (S. 36). Und „Wenn man etwas weiß, wenn man den Stoff begriffen hat, dann stellt man Zusammenhänge her […]“ (S. 38). Rudolph schreibt: „Wir haben nicht nur versucht, unseren Schülern etwas beizubringen, sondern auch, ihnen neue Welten zu eröffnen“ (S. 117). Als Beispiele nennt er die gelesene Lektüre: „Krabat“, „Der kleine Prinz“, „Nathan der Weise“, Bücher von Fontane und Inge Deutschkron und „Die Glocke“. Er warnt davor, Schüler zu unterschätzen, „besonders Hauptschüler“ (S. 117). Und er betont, dass Schüler zum Lernen die direkte, individuelle Ansprache „von Mensch zu Mensch“ (S. 204) brauchen.

„Sozialverhalten fördern“: Lernen, so Rudolph, sei nur möglich, wenn Schüler sich in einer Schule wohlfühlen, wenn sie das Gefühl haben, gut aufgehoben zu sein. Erziehung sei die Voraussetzung für das Lernen. Sein Fazit: „Ohne Erziehung kann man keine gute Schule führen. Besonders nicht, wenn man einen größeren Anteil verhaltensauffälliger Schüler hat“ (S. 51). Die Antwort eines Schülers gibt ihm Recht, der, von einem Journalisten gefragt, wie er es in der Schule finde, antwortet: „Das sei die beste Schule, auf der er jemals gewesen sei […]. Weil ich hier nicht machen kann, was ich will […]“ (S. 123). Rudolph stellt fest: „Die Regeln und Grenzen gaben ihm offenbar zum ersten Mal die Möglichkeit, sich wirklich zu entwickeln“ (S. 123). Die Regeln sind einfach und sie werden den Schülern in ihrer Bedeutung für einen gelingenden Schulalltag erläutert: Pünktlichkeit, Höflichkeit, Fleiß, keine Gewalt, keine Respektlosigkeit, keine Drogen. Kommt es zu Verstößen, folgen Konsequenzen.

Diese werden von Ebbinghaus als „Disziplinarmaßnahmen“ bezeichnet und stehen im Mittelpunkt seiner Kritik. Dabei nennt Rudolph nur zwei: Bei Missachtung des Handyverbots wird dieses vier Wochen eingezogen und wer morgens zu spät kommt, findet eine verschlossene Schultür vor, muss sich beim Hausmeister melden und wird zu Säuberungstätigkeiten herangezogen. Erst zur zweiten Stunde darf er in den Unterricht, den er ja sonst, als Zuspätkommender, stören würde.

Rudolph wird vorgeworfen, dass diese Regelungen „patriarchalisch“ seien, dass seine Schule als der verlängerte Arm der in arabischsprechenden Familien strengen Erziehung handele, diese damit zementiere. Ebbinghaus fordert „zeitgemäßere“ Maßnahmen, „die vielleicht auch in irgendeinem Bezug zu dem jeweiligen Vergehen oder Versäumnis“ stünden. Was immer Ebbinghaus sich darunter vorstellt (vielleicht die Entwicklung einer Bastelanleitung für Wecker?): Putzen ist keine schmachvolle Tätigkeit, sondern trägt dazu bei, dass sich alle in einer gepflegten Umgebung wohlfühlen. Der Psychologe Ahmad Mansour berichtet in einem Interview in „Der Tagesspiegel“ vom 11. Mai von einem jungen Flüchtling, der ihm erzählt hat: „Wenn ich drei Mal zu spät komme, darf ich nach Hause gehen.“ Mansour kommentiert: „Das war für ihn keine Strafe, das war für ihn eine Belohnung.“ Verglichen damit nimmt Rudolph seine Schüler ernst: „Die Botschaft muss sein: Es ist nicht alles egal […]“ (S. 167). „Wer erziehen will, muss viel mit den Schülern reden. Das Gespräch ist die Grundlage für alles Weitere“ (S. 60). Und: „Man muss die Schüler als Person respektieren, […] man darf sie nicht abstempeln und niemals aufgeben“ (S. 169), denn: „Die Schule ist – anders als das spätere berufliche Leben – ein Ort der neuen Chancen […]“ (S. 61). Aus diesem Grund versucht Rudolph, auch Schüler mit schweren Vergehen, bei denen er mit der Polizei zusammenarbeitet, an der Schule zu halten. Man müsse „[…] mit ihnen reden, sie reflektieren lassen, was geschehen ist, indem sie alles aufschreiben und selber Wege aufzeigen, die herausführen können. Und darauf vertrauen, dass der Knoten irgendwann platzt, […]“ (S. 230). Rudolph legt auch großen Wert auf die Zusammenarbeit mit den Eltern. Diese „[…] müssen immer eine Chance haben, sich mit der Schule in Verbindung zu setzten. Wir als Schule brauchen die Mithilfe der Eltern“ (S. 162). Offen gibt er zu: „Und ja, es gibt auch Fälle, bei denen wir scheitern. Aber versuchen muss man es immer, man darf keinen Schüler aufgeben“ (S. 62).

„Berufsfähigkeit erreichen“: 40 bis 50 Prozent der Schüler wechseln nach der 10. Klasse auf eine Schule mit gymnasialer Oberstufe und machen Abitur – eine im Vergleich mit anderen Sekundarschulen erstaunlich hohe Anzahl. Und es liegt auch auf der Hand, dass solchermaßen vorbereitete Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Schule mit dem MSA verlassen, leichter einen ihren Wünschen und ihrem Leistungsvermögen entsprechenden Ausbildungsplatz bekommen.

Anders als Uwe Ebbinghaus in seiner Rezension suggeriert, liegt der Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit in der Bergius-Schule also nicht auf Gehorchen, Funktionieren, Disziplinieren und Bestrafen. Sondern hier versucht ein Schulleiter im Schulterschluss mit dem Kollegium, mit Hausmeister, Sekretärin und Eltern täglich aufs Neue, Heranwachsenden Wissen und Kenntnisse zu vermitteln, sie zum Denken anzuregen und ihnen Verantwortung für ein Leben in der Gemeinschaft zu übergeben. Nimmt man die rhetorische Frage von Ebbinghaus ernst: „[…] ist sein System wirklich fair?“, so kann man nur aus vollem Herzen mit „Ja!“ antworten.

Das Buch ist anschaulich und verständlich geschrieben, es regt zum Denken an und überzeugt durch die Entschiedenheit, mit der die Bedeutung des Lernens für die positive Entwicklung Jugendlicher dargelegt wird. Deshalb sind ihm viele Leser zu wünschen: Referendare, die mit ihrem Rollenverständnis hadern, die Autorität mit autoritär verwechseln; Schulleiter, die den sich übereilenden sogenannten Bildungsreformen etwas entgegensetzen wollen; Lehrerinnen und Lehrer vor allem an integrierten Sekundarschulen, die täglich konfrontiert werden mit Schuldistanz, fehlender Anstrengungsbereitschaft und Respektlosigkeit und die merken, dass diese Verhaltensweisen nicht mit offenen, selbstorganisierten Unterrichtsformen und individualisiertem Lernen behoben werden können; auch in den Lehrerverbänden und der Senatsschulverwaltung sollte das Buch diskutiert werden, wobei ich mir da wenig Hoffnung auf ein positives Echo mache.

Und dem Kollegium der Friedrich-Bergius-Oberschule ist zu wünschen, dass es auch nach der Pensionierung von Herrn Rudolph in diesem Sommer weiterhin die tägliche Arbeit mit den Jugendlichen erfolgreich fortsetzen kann. 

Michael Rudolph, Susanne Leinemann, Wahnsinn Schule – Was sich dringend ändern muss, Rowohlt Berlin, Januar 2021, 256 Seiten, ISBN: 978-3-7371-0094-6

Der Beitrag erscheint auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Rezensentin.

Manche Bildungsakteure vermitteln den Eindruck, die Absenkung des Niveaus sei völlig in Ordnung.

Mach’s leichter, wenn es zu schwierig wird

Schwinden die Kompetenzen, senken wir die Anforderungen. Aber wissen wir auch, was wir damit auslösen? Von Felix Heidenreich

Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2021

Der amerikanische Golfverband lässt verlauten, man habe möglicherweise eine Strategie gefunden, um dem schwindenden Interesse der amerikanischen Jugend am Golfsport entgegenzuarbeiten: grössere Löcher. [15-Inch-Cups (38 Zentimeter)]

Man könnte lachen, würde sich diese Nachricht nicht so nahtlos in eine ganze Serie ähnlicher Neuigkeiten einreihen. An deutschen Grundschulen verschwindet beispielsweise nicht nur die Rechtschreibung, sondern gleich die Handschrift.

Die «vereinfachte Schreibschrift» soll den Schülern mit einer Art Synthese von Druckschrift und Schreibschrift den Einstieg erleichtern. Diese bereits erheblich reduzierte «vereinfachte Handschrift» wird wohl langfristig dem Schreiben in Blockbuchstaben weichen, das in den USA längst üblich ist – mit weitreichenden Konsequenzen für die Hand-Auge-Koordination.

Pessimistische Hirnforscher gehen davon aus, dass die anspruchsvolle Arbeit von Chirurgen um die Mitte des Jahrhunderts nur noch von Asiaten ausgeübt werden kann, die durch das Erlernen der komplizierten Schriftzeichen eine bessere Hand-Auge-Koordination ausbilden. Auch die Einführung des Lernprinzips «Schreiben, wie man hört» führt an deutschen Schulen zu bleibenden orthographischen Kalamitäten.

Ach, die Jugend

Diesen Beobachtungen könnte man mit der Anekdote entgegentreten, wonach der früheste erhaltene Papyrus aus dem alten Ägypten die Verzogenheit der Jugend und den zu erwartenden Niedergang der Kultur beklagt. Aber das «Immer-schon-Argument» ist womöglich zu einfach, um wahr zu sein. Denn die These lautet ja nicht, dass die Jugend (und nicht nur diese) den Ansprüchen nicht mehr genügt, sondern dass die Ansprüche systematisch den schwindenden Kompetenzen angepasst werden.

Diesen Prozess mit kulturpessimistischem Gestus zu beklagen, greift zu kurz. Er hat konkrete Ursachen: Mit der Bildungsgerechtigkeit steht es in Deutschland schlecht. Die Corona-Krise macht auch hier bereits lange bestehende Probleme wie unter einem [Vergrößerungs]glas sichtbar. Vor allem aber: Der Prozess lässt sich nicht von aussen beobachten.

Jeder, der hier das Wort ergreift, ist längst selbst Teil des Prozesses und spricht nicht von den anderen, möglicherweise von jüngeren Generationen, sondern immer auch schon von sich selbst. Sprachliche Schludrigkeiten, Unkonzentriertheit, der Mangel an handwerklicher Expertise, die Zunahme des nur vermittelt «Angelesenen» – all diese Phänomene betreffen uns alle. […]

Unsere Kinder lernen nicht mehr schreiben, weil sie es ja nicht können müssen. Bald werden sie wohl auch nicht mehr tippen müssen, sondern Spracherkennungsprogramme bedienen. Entsprechend schwindet die Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen oder einer musikalischen Ausbildung. […]

Nein, früher war weder alles besser noch «mehr Lametta», wie Loriot sagen würde. Und doch müssen wir feststellen, dass die Baselines sich in eine ungute Richtung bewegen. Bald werden unsere Kinder keine Lehrer mehr haben, denen am Satz «Ich erinnere es; es war in 2011» irgendetwas auffällt. […]

PD Dr. Felix Heidenreich lehrt Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Er ist Wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur und Technikforschung der Universität Stuttgart (IZKT)

Zum Artikel: Mach’s leichter, wenn es zu schwierig wird


Erleichterungspädagogik

Konrad Paul Liessman stellt zur „Reduktion und Vereinfachung“ der Sprache und dem „Entgegenkommen, vor allem wenn es auch als Unterrichtsprinzip reüssieren sollte“, die Frage:
„[B]edeutet eine stark vereinfachte Sprache nicht auch ein stark vereinfachtes Bewusstsein?“ (S. 134)
Und er fährt weiter fort:
„Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Dass der Erwerb dieser Techniken nicht jedem leichtfällt, ist kein Grund, das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren. Besser wäre es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen. (S. 147)
Aus: Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Prof. Liessmann lehrt Philosophie an der Universität Wien.


Bereits am 11.05.2014 schrieb Harald Martenstein über die Schulpolitik in der Hauptstadt im Tagesspiegel:
Die Berliner Schüler werden von gleichgültigen und skrupellosen Politikern und Bürokraten nicht aufs Leben vorbereitet. Alles was auf sie wartet, ist eine Katastrophe.

Der Tagesspiegel hat in der vergangenen Woche gemeldet, dass an den Berliner Schulen die Leistungsanforderungen ein weiteres Mal gesenkt werden. In der Vergangenheit gab es in Berlin nämlich, verglichen mit anderen Bundesländern, hohe Durchfallquoten bei den Abschlussprüfungen. Um das Problem zu lösen, haben sie durch einige Verwaltungsmaßnahmen das Durchfallen nahezu unmöglich gemacht. Eine „5“ in Mathematik können die Schüler beim mittleren Abschluss zum Beispiel mit einer „3“ in Deutsch ausgleichen, früher war eine „2“ notwendig. […] Um zu erreichen, dass wirklich jeder Schüler im Fach Deutsch eine „3“ erreichen kann, wurde der schriftliche Anteil der Prüfung, also Diktate, Aufsätze und dergleichen, auf nahezu null zurückgefahren. Es genügt offenbar, einige Worte sprechen zu können. Vielleicht wird daraus eine Art Sport unter den besonders ehrgeizigen Schülern – wer schafft es, sogar in Berlin durch die Prüfung zu fallen? […]

Schüler, die nicht lernen mussten, sich anzustrengen. Schüler, die fast nichts wissen. Schüler, denen niemand die Chance gegeben hat, an Misserfolgen zu wachsen. Schüler, die nach vielen vergeudeten Jahren ein Zeugnis in der Hand halten, das wertlos ist. Kein Unternehmen wird das Zeugnis ernst nehmen. Wer eine Stelle will, muss erst mal eine Prüfung absolvieren, diesmal eine echte, keine Berliner Pseudoprüfung. Das hat der Schüler aber nicht gelernt. […] Hinter der Schulreform steckt nicht Menschenfreundlichkeit. Es stecken Gleichgültigkeit und Skrupellosigkeit dahinter. Hauptsache, unsere Statistik stimmt, 98 Prozent erfolgreiche Prüfungen. […]

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 11.05.2014, Harald Martenstein, Berliner Niveaulimbo