„Vernichtendes Gutachten über Gemeinschaftsschule“ in BW

Studie zur Gemeinschaftsschule
Schwäbisches Himmelfahrtskommando

Ein Gutachten stellt dem Vorzeigeprojekt Gemeinschaftsschule ein vernichtendes Urteil aus. Vor allem das individuelle Lernen erweise sich als denkbar ineffektiv.
16.08.2015, Heike Schmoll, Berlin

Die Gemeinschaftsschule ist das Vorzeigeprojekt der grün-roten Landesregierung in Stuttgart schlechthin. Sie soll nicht nur das gemeinsame Lernen ganz unterschiedlich begabter Schüler ermöglichen, sondern dient angesichts der sinkenden Schülerzahlen an vielen Orten des Flächenlandes Baden-Württemberg dazu, den Schulstandort zu sichern. Viele Gemeinschaftsschulen finden sich deshalb im ländlichen Raum, ganz gleich, welche Partei den Gemeinderat gerade regiert.
Nun wurde ein vernichtendes Gutachten über die Gemeinschaftsschule bekannt, das vom Kultusministerium bisher unter Verschluss gehalten wird, den Vermerk „nur intern verwenden“ trägt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorliegt. Danach gelingt weder die neue Unterrichtsform des selbständigen Lernens mit Lehrern als Lernbegleitern noch die Inklusion oder die besondere Förderung der Schwächsten und Stärksten. Auch die Leistungsbeurteilung ist mehr als fragwürdig. In den Fremdsprachen kommt das Sprechen zu kurz. (…)

Selbst einer der entschiedensten Befürworter aus der Bildungsforschung, der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl, kritisiert inzwischen, dass die Gemeinschaftsschule nicht gut aufgestellt sei. Es gebe überhaupt noch keine Forschungen zum individuellen Lernen und nicht einmal einheitliches Unterrichtsmaterial. Die Gemeinschaftsschule gehört also zu den bildungspolitischen Himmelfahrtskommandos, die überstürzt eingeführt wurden. (…)

Mitarbeiter des Lehrstuhls Bohl haben im Rahmen einer alltagsnahen Begleitforschung (in einer zweiten Tranche soll eine Längsschnittbefragung folgen) jetzt die Arbeit der Tübinger Vorzeigeschule unter die Lupe genommen. Sie haben eine Inklusionsklasse mit 19 Schülern und eine weitere Lerngruppe mit 26 Schülern untersucht. Ausgerechnet das individuelle Lernen, das in der Gemeinschaftsschule bei den Kernfächern in zwei der vier Wochenstunden praktiziert werden soll, aber auch im Wahlpflichtbereich viel Raum einnimmt, hat sich als denkbar ineffektiv erwiesen. In Englisch, Deutsch und Mathematik arbeiten die Schüler an der Geschwister-Scholl-Schule ausschließlich ihre sogenannten Lernpakete ab, das sind Wochenarbeitspläne mit einem konkreten Pensum, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt sein muss. Offenbar werden dafür auch Unterrichtsstunden genutzt, die eigentlich gar nicht für das individuelle Arbeiten vorgesehen waren. Sie machen sich weder Gedanken über ihre Arbeitsstrategie, noch nehmen sie sich ein konkretes Pensum vor. Auch die Lehrer unterstützen in den Arbeitsphasen wenig. (…)

Während leistungsstärkere Schüler mit der Selbständigkeit gut umgehen können und auch Lernstrategien beherrschen, geraten die schwächeren noch mehr ins Hintertreffen als ohnehin schon. Den Lehrern fehlt der Überblick, welcher Schüler woran arbeitet, welche Fortschritte er macht und die Kontrolle der Ergebnisse kommt zu kurz. Wenn überhaupt, schauen die Lehrer nach Vollständigkeit, Orthographie, Grammatik und Seitenzahl, während „die inhaltliche Qualität der Schülerarbeiten hintangestellt wurde“. Und das an einer Schule, die derlei Lernmodelle schon seit langem praktiziert?

Fragwürdig ist in den Augen der Forscher auch die in Tübingen praktizierte Leistungsmessung. Schüler, deren Gesamtergebnis in der Klassenarbeit unter 40 Prozent liegt, können die Klassenarbeit in neu konzipierter Form wiederholen und das Ergebnis der schlechten Arbeit ersetzen. Doch eigentlich verbietet die Notenbildungsverordnung, dass bereits benotete Leistungsergebnisse gestrichen oder ersetzt werden. So müssten also beide Noten in die Gesamtbewertung einfließen. Hinzu kommt, dass die Benotung in unterschiedlichen Niveaustufen nach Angaben der Forscher zu wenig individuell ist und sich mit den Anforderungen der Bildungsstandards für die drei Schularten Gymnasium, Realschule, Hauptschule nicht deckt. Es wird auf diese Weise zwar annähernd ein Leistungsstand in einem Fach in der Bewertung abgebildet, aber keine Lernentwicklung. (…)

Positiv wird notiert, dass die Eltern einbezogen werden und das Kollegium motiviert und kritikfähig sei.

zum Artikel:  FAZ, 16.08.2015, Heike Schmoll, Studie zur Gemeinschaftsschule, Schwäbisches Himmelfahrtskommando

siehe auch:   Stuttgarter Zeitung, 17. 08. 2015, Renate Allgöwer, Gutachten für Tübinger Gemeinschaftsschule – Schlechte Noten für Gemeinschaftsschule


Die Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen ist eine von insgesamt zehn Gemeinschaftsschulen, die von der Universität Tübingen und den Pädagogischen Hochschulen Freiburg, Heidelberg und Weingarten seit dem Jahr 2013 begleitet werden. Der Abschlussbericht mit Grundsatzaussagen zu der neuen Schulart wird im Januar 2016 erwartet. Jede der zehn Starterschulen hat im November einen schulspezifischen Zwischenbericht erhalten. Bekannt wurde jetzt der Bericht der Geschwister-Scholl-Schule. Im Schulamt gilt sie als Vorzeigeeinrichtung. Es gibt im gesamten Bundesland z.Z. 271 Gemeinschaftsschulen.