Archiv des Monats: September 2014

Fachliche Inkompetenz kompensieren

Datum:  26.08.2014
Über die vielen Universalgenies an deutschen Schulen
Glosse von Harald Martenstein

Seit Jahren werden die Schulnoten in Deutschland immer besser. An der Spitze steht Berlin. In den wenigen Jahren von 2006 bis 2012 hat sich in Berlin die Zahl der Abiturienten mit dem Notendurchschnitt 1,0 vervierfacht. (…)
Auffällig viele Schüler, die in Mathematik eine schlechte Note haben, eine 5 oder 6, wählen für die Präsentationsprüfung im Abitur ausgerechnet ihr Horrorfach Mathe. Der Schüler bekommt eine Aufgabe und hat vier Wochen Zeit, dann muss er die Lösung dieser Aufgabe öffentlich vorführen. (…)
Das Abitur wird immer einfacher, damit es soziale Gerechtigkeit gibt. Das Abitur soll kein Privileg von Besserlernenden oder Besserwissenden mehr sein, alle Schüler sollen es bekommen. (…)
Da habe ich eine wunderbare Idee zur Bekämpfung der Armut: Die Regierung sollte Geld drucken und jedem Bundesbürger eine Million Euro in die Hand drücken. Das ist das gleiche Prinzip.

zum Artikel:  ZEITmagazin Nr. 33/2014, 26. August 2014, Harald Martenstein


Hinweise zu obiger Glosse:
Die Sommer-Uni -2014- der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen

(…) Prof. Klein hielt daran fest, dass die Fokussierung auf Kompetenzen zu beunruhigenden Auswüchsen geführt habe – etwa bei Abiturklausuren. Sein Beleg: das neue Abiturfach Präsentation, das mittlerweile in einigen Bundesländern eingeführt worden ist. Besonders gern würden hierfür von den Schülern (und Lehrern) mathematische Aufgabenstellungen gewählt, um die „fachliche Inkompetenz der Schüler zu kompensieren“, kritisierte er. Schließlich zählten bei der Benotung in erster Linie Schlüsselkompetenzen der Präsentation und nicht mathematisches Fachwissen. „Dahinter steht die Nivellierung der Ansprüche.“ Das habe mit Kompetenzorientierung nichts zu tun, sondern sei eine systematische Strategie, um „möglichst viele Schüler mit aller Gewalt über die Latte zu heben“, meinte Prof. Olaf Köller.

Prof. Dr. Hans Peter Klein hat seit 2001 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt inne und ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften.
Prof. Dr. Olaf Köller war von 2004 bis 2009 Gründungsdirektor des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das im Auftrag der Kultusministerkonferenz Bildungsstandards für die Schulen entwickelt hat. Seit 2009 ist er Leiter des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik (IPN) in Kiel.

mehr: bildungsklick, 11.09.2014, Streitgespräch: Was hat die Kompetenzorientierung gebracht?

„Von der Schule für alle steht in der Konvention nichts“

Am Rand zu stehen ist schrecklich

Der Erziehungswissenschaftler und Inklusionskritiker Bernd Ahrbeck über die Scheu, behinderte Menschen behindert zu nennen, und die emanzipative Kraft des Leistungsprinzips

Jan Fleischhauer und Jan Friedmann in Ahrbecks Büro an der Humboldt-Universität in Berlin

(…) SPIEGEL: Die Inklusionsbefürworter verweisen auf Studien, die belegen, dass behinderte Kinder mehr lernen, wenn sie gemeinsam mit nicht behinderten Kindern unterrichtet werden.

Ahrbeck: Es kommt sehr darauf an, von welcher Art von Behinderung wir reden. Ein Kind im Rollstuhl wird dem Unterricht mit der nötigen Intelligenz mühelos folgen können. Ein Kind mit Downsyndrom hingegen wird in der Regel kaum etwas davon haben, wenn es mit Nichtbehinderten lernt. Das Ergebnis des bislang größten Schulversuchs in Hamburg zu lern-, sprach- und verhaltensgestörten Kindern war ernüchternd: Die inklusiv unterrichteten Schüler erreichten nach der vierten Klasse keinen Anschluss an das sonstige Lernniveau. Dafür hatte die allgemeine Leistung deutlich gelitten.

(…) SPIEGEL: Die Integration behinderter Kinder war den Vereinten Nationen immerhin so wichtig, dass sie ein Recht daraus gemacht haben. Die entsprechende Konvention hat Deutschland 2009 ratifiziert, nun wird sie umgesetzt.

Ahrbeck: Das ist zweifellos begrüßenswert. Die Uno-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Unterzeichner dazu, Behinderte im Leben und in ihrer Entwicklung zu stärken. Dazu gehört auch das Recht auf Bildung und Schulbesuch. Von der Schule für alle steht in der Konvention nichts.

SPIEGEL: Ziel sei die „vollständige Integration“, heißt es. Dafür solle der Staat ein Umfeld schaffen, „das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“.

Ahrbeck: Nicht für jeden ist das Gleiche gleich gut. Gerade Kinder mit emotionalen und sozialen Problemen, die in der Schule größte Schwierigkeiten haben, brauchen kleine Gruppen, eine überschaubare Umgebung und enge persönliche Beziehungen. An anderer Stelle der Konvention steht, niemand dürfe wegen spezieller Maßnahmen, die er benötigt, diskriminiert werden. Da ist zum Beispiel die Gebärdensprache genannt. Wie sollen denn gehörlose Kinder in Gebärdensprache kommunizieren, wenn sie nicht andere Kinder haben, die Gebärdensprache können? Das heißt, sie brauchen einen Ort, an dem sie mit Gleichaltrigen, die ähnliche Probleme haben, zusammenkommen. Das wird nicht die Schule um die Ecke sein.

SPIEGEL: Warum interpretieren dann viele Bildungspolitiker die Uno-Konvention als Votum gegen die Förderschule?

Ahrbeck: Weil sie hoffen, über diesen Hebel doch noch ihre Idee von der Einheitsschule durchsetzen zu können. Schule ist dazu da, Talente zu entfalten und zu Leistung zu ermutigen. Dabei ist es notwendig, Unterschiede zuzulassen, auch institutionell. Wenn der Aufstieg durch Leistung nicht möglich ist, entscheiden andere, viel problematischere Faktoren über das Fortkommen – Geld zum Beispiel oder Beziehungen. Ich frage Sie: Welche Chancen hat dann noch ein Migrantenkind, dessen Mutter gerade mal lesen und schreiben kann, den Begrenzungen seiner Herkunft zu entfliehen? Wer das Leistungsprinzip aufgibt, nimmt vielen Menschen, die nicht so rosig gebettet sind, eines der mächtigsten Werkzeuge zur Emanzipation.

(…) SPIEGEL: Man könnte, wie manche Inklusionsbefürworter, auch zu dem Schluss kommen, dass Behinderung einfach eine Form des Andersseins ist, so wie das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung.

Ahrbeck: Wir müssen aufpassen, dass wir Behinderung nicht banalisieren. Manche Beeinträchtigungen sind für die Betroffenen sehr belastend. Der Germanist und Philosoph Andreas Kuhlmann, ein sehr musisch veranlagter Mensch, sagte über sich, er hätte wahnsinnig gern Musik gemacht. Ein Instrument zu spielen war ihm aber aufgrund einer starken Spastik verwehrt. So jemandem nahezulegen, sein Zustand lasse sich als Teil einer begrüßenswerten Vielfalt auffassen, dürfte ihm wenig helfen. Ich frage mich, was man Menschen eigentlich antut, wenn man sie nicht mehr mit den Begriffen bezeichnen darf, von denen sie genau wissen, dass sie ihrer Realität entsprechen. (…)

zum Artikel:  Der Spiegel, 34,2014, Spiegel-Gespräch, Jan Fleischhauer und Jan Friedmann, Am Rand zu stehen ist schrecklich


Prof. Ahrbeck, lehrt Verhaltensgestörtenpädagogik an der Humboldt-Universität Berlin. Er forscht seit Jahren zum Umgang mit Behinderungen, vor wenigen Wochen hat er ein Buch über Sinn und Unsinn der Inklusion veröffentlicht: „Inklusion. Eine Kritik“. Kohlhammer Verlag, Stuttgart; 160 Seiten