Archiv für den Monat: Oktober 2017

„Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts“

Des Rätsels Lösung: „Wie Schule endlich gelingen kann“

Rainer Werner

Manchmal erhofft man sich als Lehrer auch von außerschulischen Instanzen eine Erleuchtung.

Als ich am letzten Sonnabend am Kiosk den SPIEGEL-Titel überflog („Neues Lernen / Wie Schule endlich gelingen kann“), war ich elektrisiert. Sollte es dem SPIEGEL gelungen sein, das Geheimnis zu lüften, um das sich Bildungsexperten seit Jahrzehnten bemühen? Als ich die Titelgeschichte dann las, war ich bitter enttäuscht. Hinter den „zehn Wegen für Bildung und Erziehung“ verbirgt lediglich das, was Menschen, die sich auch nur oberflächlich mit Schulpolitik befassen, schon dunkel geahnt haben:  Schüler lernen lieber in einem intakten als in einem maroden Schulgebäude. Inklusion gelingt nur, wenn man den Schulen die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Das Schulessen sollte bekömmlich sein und am besten in der Schule frisch zubereitet werden. Der Ganztagsbetrieb muss pädagogisch gestaltet werden, usw.

An einer Stelle keimte bei mir Hoffnung auf, als der Artikel die bahnbrechende Studie des Bildungsforschers John Hattie erwähnt. Dass die Lehrperson „charismatisch und kompetent“ sein muss, ist dabei nicht einmal seine wichtigste Erkenntnis. Viel wichtiger ist die Einsicht, dass Unterrichten ein Handwerk darstellt und dass der pädagogische „Handwerker“ dann die größten Erfolge erzielt, wenn er sich der richtigen Instrumente bedient. Hattie spricht von „Einflussfaktoren“, deren Wirksamkeit im Unterricht man messen kann. Davon ist in Ihrem Artikel leider nicht die Rede, obwohl sich dahinter das Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts verbirgt.

Warum kommt es auf den Unterricht an? Sie nennen eine Zahl, die eigentlich die ganze Nation aufrütteln müsste: 5,9 Prozent der Jugendlichen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. In objektiven Zahlen sind das ungefähr 50.000 Schüler. Jetzt hätte man doch fragen können, warum es den Schulen nicht gelingt, die Schüler des untersten Leistungssegments zumindest zum niedrigsten Schulabschluss zu führen, der ja kinderleicht ist. Um diese Frage beantworten zu können, hätte man einen Blick auf das Ranking der Bundesländer in der schulischen Bildung werfen können. Nach dem „Bildungsmonitor 2017“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“ in Köln belegen sechs Bundesländer bei der Schulqualität die letzten Plätze, die von rot-grünen Regierungen geführt werden. Berlin hat seit Jahren die rote Laterne inne. Interessant ist dabei auch ein Städtevergleich. Während das Schulsystem der Hauptstadt den letzten Platz belegt, schneiden Großstädte wie Frankfurt /M., Stuttgart und München relativ gut ab. Der hohe Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte in Berlin kann nicht die Ursache für das schlechte Abschneiden sein, wie die Berliner Verantwortlichen gerne behaupten. Der Ausländeranteil in den drei anderen genannten Großstädten ist nämlich höher als der in Berlin. Es muss also an der Pädagogik liegen, die in sozialdemokratisch regierten Ländern den Schulen verordnet wird.

Hier kommt wieder Hattie ins Spiel. Er hat nämlich nachgewiesen, dass die sog. schülerzentrierten Lernmethoden, man nennt sie auch Selbstlernmethoden, wenig wirksam sind. Das Unterrichtsgespräch – lange Zeit als Frontalunterricht gebrandmarkt – ist diesen „modernen“ Methoden allemal überlegen. Es ist nach wie vor die effektivste Lernform – übrigens auch in den Augen der Schüler. Bildungsforscher haben auch herausgefunden, dass die schülerzentrierten Methoden Kinder aus der Unterschicht und aus dem migrantischen Milieu besonders benachteiligen, weil sie auf die helfende und leitende Hand des Lehrers besonders angewiesen sind. Jetzt fragt man sich, warum die sozialdemokratischen Bildungspolitiker diese Methoden, deren Unwirksamkeit doch erwiesen ist, bevorzugen. Sie müssen dies tun, weil in den heterogenen Lerngruppen, die durch das „gemeinsame Lernen“ entstehen, ein Unterrichtsgespräch nicht mehr möglich ist. Die Spreizung der Begabungen ist so stark, dass sich zwischen den guten und den schlechten Schülern eine Kluft auftut, die bis zu zwei Schuljahre Fachwissen umfassen kann. Im Grunde liegt die Krux darin, dass der Anspruch, ein sozial gerechtes Schulsystem zu formen, die Gesetzmäßigkeiten der Pädagogik außer Kraft setzen muss. Ein wichtiges pädagogisches Axiom ist nämlich die Erfahrung, dass Lehren und Lernen in homogenen Lerngruppen besser gelingt als in heterogenen. Die SPD-Politiker wissen dies sehr genau, sie dürfen es aus ideologischen Gründen nur nicht zugeben. Dazu ein erhellendes Zitat der „Arbeitsgemeinschaft für Bildung“ in der SPD. Sie forderte 1999, auf einen innerdeutschen PISA-Vergleich zu verzichten: „Es ist ohne Test vorherzusagen, dass Länder mit selektiven Schulsystemen, die den Schulstrukturreformen der letzten 30 Jahre widerstanden haben, bessere Schülerleistungen in allen Schulformen haben werden.“ – Mit anderen Worten: Man nimmt fachliche Nachteile für die Schüler in Kauf, wenn sie nur sozial gerecht gemischt unterrichtet werden. Das Tragische daran ist, dass die SPD inzwischen sogar der von ihr in den 1960er Jahren gegründeten Gesamtschule misstraut, weil sie durch ihre Fachleistungskurse die „Selektion der Kinder“ perpetuiere. Dabei ist die Gesamtschule unter den egalitären Schulformen noch die leistungsfähigste.

Der SPIEGEL-Artikel beschäftigt sich auch mit der digitalen Bildung an den Schulen. Dabei wird die landläufige Meinung kolportiert, digitale Bildung sei modern und alles, was modern ist, sei auch gut für den Unterricht. Dabei gibt es keine belastbare Studie, die belegen könnte, dass die Lernergebnisse der Schüler durch digitales Lernen besser würden. Bei Hattie rangiert die Computerunterstützung des Lernens unter 138 Einflussfaktoren auf Platz 71. Wenn man das Beispiel aus dem SPIEGEL-Artikel betrachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei der digitalen Lernhilfe aus dem Englischunterricht einer Bremer Schule um Klippschul-Didaktik handelt. Nach der Lektüre eines englischen Textes müssen die Schüler unter vier Alternativen (Novelle, Kurzgeschichte, Gedicht, Zeitungsartikel) die richtige Textform anklicken. Kein Gymnasiallehrer könnte es wagen, seinen Schülern eine derart primitive Quiz-Software zuzumuten, die nur einfachste Multiple Choice – Aufgaben enthält. Ich wage die Prophezeiung: Wenn die Lernsoftware weiterhin so einfach gestrickt bleibt, wird sie sich nur in Haupt-, Sekundar- und Berufsschulen durchsetzen. Das einzige, was am Gymnasium sinnvoll genutzt werden kann, ist das Smart-Board als Tafelersatz, weil man mit dessen Hilfe schnell Informationen aufrufen und verarbeiten kann. Ansonsten werden zumindest in den Kulturfächern und den Fremdsprachen anspruchsvolle Texte weiterhin im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. Und diese Texte erschließt man im intellektuellen Gespräch und nicht mit Hilfe einer Lernsoftware.

Wie müsste ein Artikel aussehen, der die Frage „Wie Schule endlich gelingen kann“ tatsächlich beantwortet? Er müsste tief in das Betriebsgeheimnis erfolgreichen Unterrichtens eindringen. Das geht nur so, dass man Schulen unterschiedlichster Qualität miteinander vergleicht. An den Berichten der staatlichen Schulinspektion, die inzwischen in allen Ländern Pflicht sind, kann man die Qualität ablesen. Wenn man einige Monate lang im Unterricht hospitiert, gewinnt man einen guten Eindruck, ob die Schüler etwas gelernt haben und woran es liegt. Wenn man dann noch die Ergebnisse der jeweiligen Schule bei den VERA-Vergleichstests, beim Mittleren Schulabschluss und beim Abitur heranzieht, kann man ein seriöses Urteil darüber fällen, warum Schule gelingt – oder auch nicht.

Ich vermute, dass sich bisher noch keine seriöse Zeitung oder Zeitschrift auf dieses Unterfangen eingelassen hat, weil das Ergebnis ernüchternd wäre: Es würde einer kulturell akzeptierten Bildungskonzeption („längeres gemeinsames Lernen“, „Vermeidung von Selektion“) den Todesstoß versetzen. Dieser Kränkung des eigenen Selbstbildes möchte sich niemand aussetzen. Lebenslügen währen lange. Die Leidtragenden sind leider die Schüler.

Der Autor ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

zum Artikel und der web-Seite des Autors: https://guteschuleblog.wordpress.com/2017/09/25/des-raetsels-loesung-wie-schule-endlich-gelingen-kann/

Deutschlandweit summiert sich das Scheitern an der Schule auf rund 50.000 Jugendliche ohne Schulabschluss. Jährlich! Mit anderen Worten: Das Land leistet sich in jedem Jahr die Einwohnerschaft einer kompletten Kleinstadt, die allenfalls zu Aushilfsjobs in der Lage ist.

Der frühere Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky: Allein in seinem Stadtteil verließen „jedes Jahr Hunderte von jungen Männern ohne Perspektive“ die Schulen. Und es ist auch nicht zynisch, sondern die triste Wahrheit, zu sagen, dass nicht wenige davon später im Kriminalgericht Moabit wieder auftauchen. (TSP, 13.05.2017, Werner van Bebber)

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Die UNESCO ruft am 5.10.2017 zum 23. Mal zum Welttag der Lehrerinnen und Lehrer auf und erinnert an die bedeutende Rolle der Lehrerinnen und Lehrer für qualitativ hochwertige Bildung. Ziel des Welttages ist es, auf die verantwortungsvolle Aufgabe des Lehrpersonals aufmerksam zu machen und das Ansehen derer weltweit zu steigern.

Es hilft nur Ehrlichkeit

Schulen, die zu früh auf Eigenverantwortlichkeit und zu stark auf selbst gesteuertes Lernen setzen, können Kindern aus bildungsfernen Milieus schaden

Beitrag zum Welttag des Lehrers, von Michael Felten

Es ist sicher nicht vergnügungssteuerpflichtig, Schulministerin eines Bundeslandes zu werden, das zu den Pisa-Schlusslichtern zählt. Nicht zuletzt steht ja auch das Problem der Bildungsgerechtigkeit an. Denn in Deutschland soll es besonders stark von der sozialen Herkunft abhängen, ob Kinder zum Gymnasium wechseln und ob junge Erwachsene ein Studium ergreifen können.

Zwar wird in internationalen Vergleichen gerne mit Äpfeln und Birnen hantiert: Die Bildungsgänge sind andernorts nämlich oft ganz anders strukturiert. Und unserem Mikrozensus zufolge gibt es hierzulande durchaus Bildungsmobilität – überwiegend aufwärts. Gleichwohl bleibt die Frage, ob und wie die Schule die soziale Bildungsbeteiligung noch ausweiten kann.

Nun, womöglich kann auch der gemeine Lehrer selbst schon etwas tun, bevor das Ministerium in die Gänge kommt. Zunächst einmal: Hände weg von kontraproduktiven Unterrichtsmethoden! Zu frühe Eigenverantwortlichkeit, zu viel selbstgesteuertes Lernen, zu oft unstrukturierte Gruppenarbeit – was in der Lehrerausbildung vielfach noch Trend ist, überfordert gerade die schwächeren Schüler. Der linke Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke nahm dazu kein Blatt vor den Mund: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Während leistungsstärkere Schüler mit fast allen Lehrstilen zurechtkämen (zur Not unter elterlicher Mithilfe), bedürfe gerade das sozial benachteiligte Kind eines direkt anleitenden, ermutigenden Unterrichts. Wer also die Parole „Kein Kind zurücklassen!“ ernst meint, dessen Unterricht wird bisweilen zwar altmodisch wirken, aber hoch effektiv sein – spätestens die Hattie-Studie lieferte dafür den empirischen Beleg.

Sodann: Schluss mit unehrlichen Beurteilungen! Ob aus Angst vor Schülern oder vor dem Direktor: Wo Lehrer altersgemäße Ansprüche absenken, wo mangelhafte Leistungen mit „3“ oder „4“ beurteilt werden, da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit, sondern gerade das Gegenteil. Nicht nur, dass Zeugnisse so an Wert verlieren. Geringere Anforderungen führen auch dazu, dass Schüler sich weniger anstrengen – dabei wäre Fleiß das einzige Gegenmittel gegen milieubedingte Rückstände. Leistungsstarke oder bessergestellte Kinder hingegen werden immer einen Weg finden, um ihre Lernlöcher bei Bedarf zu stopfen.

Schließlich: Hören wir auf, Kinder in unpassende Bildungsgänge hinein zu zwingen, gleich ob aus Unprofessionalität oder aus Mitleid! Wen das Gymnasium dauerhaft überfordert, wer über Jahre erlebt, das letzte Rad am Wagen zu sein, für den werden die hochsensiblen Entwicklungsjahre zur Qual. Lernen soll aber nicht weh tun, hat der Kinderarzt Remo Largo gesagt. Das ist nicht nur eine Warnung an Grundschullehrer, den liebgewordenen Kleinen oder den ehrgeizigen Eltern zuliebe geschönte Eignungsgutachten zu schreiben. Angesprochen fühlen sollten sich auch Schulleiter, die offensichtlich ungeeignete Fünftklässler ins Gymnasium aufnehmen, anstatt Eltern zumindest informell klarzumachen, was sie ihrem Kind womöglich damit antun.

Aber ganz ohne die Schulministerin geht es natürlich doch nicht. Sie muss den Zugang zum Gymnasium grundsätzlich neu regeln. Die Schweiz etwa kommt bestens damit zurecht, dass nur jedes fünfte Kind die Höhere Schule besucht; deshalb hat das Land auch keinen Facharbeitermangel, eine berufliche Ausbildung stellt dort eben keinen Makel dar.

Natürlich spielen der Schulwunsch des Kindes und seiner Eltern eine wichtige Rolle – aber er darf nicht das einzige Kriterium sein. Sinnvoll wäre ein Kriterien-Mix, etwa im Sinne der Maxime „2 aus 3“: Wer das Gymnasium besuchen möchte, sollte außerdem noch eine andere Bedingung erfüllen: entweder ein positives verbindliches Grundschulgutachten oder Erfolg beim gymnasialen Probeunterricht, andernfalls standardisierte Tests oder Aufnahmeprüfung – zur Stressminderung gerne an der vertrauten Grundschule.

Und nicht nur für den gymnasialen Bildungsgang muss wieder die Parole gelten: Ohne Fleiß kein Preis. Die Ministerin muss umgehend den unsäglichen Hausaufgabenerlass ihrer Vorgängerin von 2015 kassieren. Demnach durften etwa Ganztagsgymnasien gar keine Hausaufgaben mehr aufgeben – auch nicht an Kurztagen, wenn der Unterricht schon mittags endet! Auch dieser rot-grüne Clou war in höchstem Maße sozial ungerecht: Er schadete den leistungsstarken Schülern weniger als den Schwachen – sie brauchten das Üben gar nicht oder erledigten es ohnehin freiwillig.

zum Artikel:  Kölner Stadt-Anzeiger, 5.10.2017, Gastbeitrag von Michael Felten, Es hilft nur Ehrlichkeit

Der Autor hat 35 Jahre an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er ist als freier Schulentwicklungsberater und Buchautor tätig.