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Bildungsforschung John Hattie: Weniger Lehrplan, mehr Leidenschaft!

Kaum eine Studie aus der Bildungsforschung hat in den letzten 15 Jahren so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die Hattie-Studie. Über zwei Millionen Mal wurde das zugehörige Buch „Visible Learning“ verkauft. Das Schulportal sprach mit dem neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie über die Schwächen des deutschen Schulsystems, Kompetenzen im KI-Zeitalter und darüber, warum viele Schulen die Ergebnisse seiner Studie missverstehen.

Alexander Brand, 28. Januar 2025

Schulportal: John Hattie, Sie haben bei Ihrem letzten Besuch in Deutschland deutliche Kritik am gegliederten Schulsystem geübt. Warum ist Ihnen das ein so wichtiges Anliegen?
John Hattie: Ich habe vor Kurzem eine Neuauflage meiner Forschungssynthese „Visible Learning“ [siehe Bücherliste] veröffentlicht. Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Vergleich zur Erstauflage vor 15 Jahren war, dass jegliche Art von dauerhafter Gruppierung in Schulen im Durchschnitt keinen Effekt hat. Das zeigen die Metaanalysen. Es macht also unterm Strich keinen Unterschied, ob die Kinder getrennt oder gemeinsam lernen.

Warum dann die Kritik?
Mir geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Natürlich haben mir bei meinem Besuch in Deutschland viele Leute gesagt, dass Schülerinnen und Schüler auch die Schulform wechseln können. Aber wenn ein Kind jahrelang nicht mit einem Gymnasiallehrplan in Berührung kommt, ist es fast unmöglich, diese Lücke später zu schließen. Das System nimmt den Kindern diese Chance. Das dient nicht unserer Gesellschaft oder unserer Demokratie. Natürlich mögen Lehrkräfte weniger heterogene Klassen. Sie erleichtern uns die Arbeit. Aber die Schule ist nicht für die Lehrkräfte da. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wo das Talent steckt – auch wenn es sich erst später zeigt. Wir müssen das Beste aus jedem Kind herausholen.

Wie sollten Schulen in Deutschland stattdessen mit Heterogenität umgehen?
So wie praktisch jedes andere Land der Welt damit umgeht! Ich will nicht so tun, als wäre das einfach, aber das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Wir wissen zum Beispiel, dass Peer-Tutoring, also die gegenseitige Unterstützung von Schülerinnen und Schülern, den größten Effekt auf die Person hat, die unterstützt. Wir wissen auch, dass Schülerinnen und Schüler beim kooperativen Lernen bestimmte Kompetenzen brauchen, um mit Heterogenität umzugehen. Diese werden aber in unseren Schulen in der Regel nicht vermittelt. In 60 bis 80 Prozent der Schulzeit vermitteln wir Faktenwissen. Auch unsere Prüfungen belohnen Faktenwissen.

Wie viel Fachwissen sollte Schule noch vermitteln?
Ich werde oft gefragt, wenn ich um die Welt reise, ob ich in Ausschüssen zur Reform des Lehrplans mitarbeiten würde, und ich habe eine feste Regel: Ich sage, ich komme gerne, solange dem Ausschuss erlaubt ist, die Hälfte des Lehrplans zu streichen. Ich weiß nicht, wie der deutsche Lehrplan aussieht, aber der australische Lehrplan ist ausgedruckt 3.500 Seiten lang. Das ist Unsinn. Der Lehrplan in Neuseeland war, als ich 2011 ging, für jedes Fach, für jede Jahrgangsstufe 39 Seiten lang. Heute ist er auf 76 Seiten angewachsen. Wir brauchen keinen Lehrplan mit 3.000 Seiten!

Manche behaupten, in Zeiten von Google und Co. brauche es gar kein Faktenwissen mehr.
Nein, dem stimme ich nicht zu! Ohne Fachwissen kann man keine Probleme lösen. Wissen und Kompetenzen sind keine Gegensätze. Es ist kein Entweder-oder. Ich habe vor ein paar Wochen mit neun Koautoren ein Buch veröffentlicht, in dem wir argumentieren, dass es eine Balance von Wissen und Kompetenzen braucht. Wenn man sich die meisten Lehrpläne auf der Welt anschaut, dann sprechen sie alle von Kompetenzen oder Problemlösung. Aber was wird tatsächlich unterrichtet, was wird bewertet? Wissen. Ich möchte, dass Kinder eine tiefe Leidenschaft entwickeln können. Wenn wir den Stoff in den Lehrplänen reduzieren, dann gibt das den Schulen die Freiheit, die Themen zu behandeln, die die Schülerinnen und Schüler interessieren und die sie dann vertiefen können.

Studien zeigen, dass sich Schülerinnen und Schüler in Deutschland in etwa 30 Prozent der Unterrichtszeit langweilen. Müsste Schule stärker auf forschendes, projektbasiertes und entdeckendes Lernen setzen?
Das größte soziale und emotionale Problem in unseren Schulen ist eindeutig Langeweile, aber problembasiertes oder forschendes Lernen ist die falsche Antwort. Oder anders gesagt: Die Idee hinter solchen Unterrichtsmethoden ist gut, aber sie werden oft zum falschen Zeitpunkt eingeführt. Wenn wir uns die Forschung zu problembasiertem Lernen, forschendem Lernen oder entdeckendem Lernen anschauen, stellen wir fest, dass die Effektstärken sehr gering sind – weil sie oft zu früh eingesetzt werden. Wenn Kinder nicht über das nötige Wissen verfügen, um in problembasiertes Lernen einzusteigen, wird es eine Katastrophe.

Es gibt den richtigen Zeitpunkt für direkte Instruktion und Faktenwissen und den richtigen Zeitpunkt für problemorientiertes Lernen. Der Fehler vieler Schulen ist, dass sie bei einem Problem sofort eine Entweder-oder-Lösung sehen. Es geht darum, den richtigen Zeitpunkt zu finden, wann welche Methode sinnvoll ist. Dieses Pendeln zwischen Extremen – erst nur das eine, dann nur das andere – bringt uns nicht weiter.

Viele Lehrkräfte schätzen die Klarheit der von Ihnen ermittelten Effektstärken für Unterrichtspraktiken. Was wirkt, was wirkt nicht? Jetzt sagen Sie ja: So einfach ist das nicht.
Als ich meine Studie zum ersten Mal veröffentlichte, habe ich eine Rangliste der wirksamen Interventionen erstellt. Seit etwa acht Jahren verwende ich sie nicht mehr, und zwar genau aus dem Grund, den Sie nennen. Natürlich möchte ich, dass Lehrkräfte evidenzbasierte, erfolgversprechende Interventionen wählen. Aber es kommt darauf an, wie sie diese umsetzen. Nehmen Sie etwa die Methode „Lernen durch Lehren“, die eine sehr hohe Effektstärke hat. Wenn sie aber schlecht umgesetzt wird, wird sie keinen Effekt haben. Ich bereue es nicht, diese Rangliste erstellt zu haben, weil sie viel Aufmerksamkeit erregt hat, und die Leute haben angefangen, über diese Themen zu sprechen. Aber sie haben oft die Nuancen übersehen.

Gibt es andere Nuancen Ihrer Forschung, die in der Bildungslandschaft übersehen wurden?
Ja, die Bedeutung von geringen Effektstärken! Nehmen wir die Hausaufgaben in der Grundschule. Manche denken, weil sie eine niedrige Effektstärke haben, seien sie unwichtig. Viele Schulen haben Hausaufgaben aufgrund meiner Forschung abgeschafft. Aber das ist falsch. Eine geringe Effektstärke bedeutet zunächst nur, dass wir noch nicht die richtige Umsetzung gefunden haben. Hausaufgaben haben etwa in der Sekundarstufe einen viel größeren Effekt. Der Unterschied ist, dass Hausaufgaben in der Sekundarstufe meist das Üben dessen beinhalten, was schon gelernt wurde. In der Grundschule sind es eher Projekte oder Aufgaben, bei denen die Eltern stark involviert sind, was den Effekt negativ beeinflusst. Es geht also nicht darum, Hausaufgaben abzuschaffen, sondern darum, die Art der Aufgaben zu überdenken.

Auch der Einsatz digitaler Medien im Unterricht schneidet in Ihrer Forschungssynthese nicht besonders gut ab.
Seit 1976 ist Technologie im Bildungsbereich präsent, aber die Effektgrößen sind durchweg klein geblieben. Warum ist das so? Der Bildungsforscher Larry Cuban und andere argumentieren, dass Lehrkräfte Technik vor allem zur Effizienzsteigerung nutzen: Tablet statt Arbeitsblatt, Lehrvideo statt Demonstration. Das ist an sich kein Problem, aber die Art und Wiese, wie sie unterrichten, hat sich dadurch nicht grundlegend verändert.

Laufen wir jetzt beim Einsatz künstlicher Intelligenz Gefahr, einen ähnlichen Fehler zu machen?
Künstliche Intelligenz ist die größte Veränderung in meinem Leben, aber die Schulen werden die Letzten sein, die sich damit befassen. Wir sind sehr widerstandsfähig. Bei meinem Besuch in Berlin habe ich mich mit Bildungsministerinnen und -ministern sowie KI-Experten aus ganz Europa getroffen. Und ich war fast den Tränen nahe: Alles, worüber sie sprachen, waren die Apps, die sie entwickeln. Es gibt bereits über 200.000 Apps für Lehrkräfte. Aber sie werden nicht genutzt. Mehr Apps allein reichen nicht aus, um das Potenzial von KI auszuschöpfen. Wir müssen aufhören, nur über die großartigen Dinge zu sprechen, die KI für uns tun kann, und anfangen, darüber zu diskutieren, welche Fähigkeiten Lehrkräfte und Lernende benötigen, um KI sinnvoll zu nutzen.

Und die wären?
Ich arbeite noch an einer Liste. Aber das Erste, was man lernen muss, ist, gute Fragen zu stellen – sonst gibt die KI nur schlechte Antworten. Doch den Schülerinnen und Schülern wird derzeit nicht beigebracht, wie man Fragen stellt. Untersuchungen zeigen, dass Lehrkräfte täglich 200 bis 300 Fragen stellen, die mit weniger als drei Wörtern beantwortet werden können. Eine Schulklasse stellt pro Tag nur etwa zwei Fragen zu Dingen, die sie nicht versteht. Wohl gemerkt, nicht ein Schüler, sondern eine ganze Klasse stellt nur zwei Fragen pro Tag!

Zweitens: Qualitätskontrolle. In fast allen Klassenzimmern der Welt liegt die Qualitätskontrolle – also die Frage, ob eine Aussage richtig oder gut genug ist – in den Händen der Lehrkraft. Aber Schülerinnen und Schüler müssen lernen, die Antworten der künstlichen Intelligenz zu überprüfen. Mein Punkt ist, dass die Kompetenzen, die für die erfolgreiche Nutzung von KI erforderlich sind – wie Urteilsvermögen –, nicht die Kompetenzen sind, die wir derzeit vermitteln. Das ist die Debatte, die wir führen sollten.

Siehe auch: „So viel Potential geht verloren“, Hattie in einem Interview mit dem Online-Magazin Schulmanagement.