Archiv für den Monat: Oktober 2025

Schulen im Fadenkreuz der Lobbyisten

„Technology in education: A tool on whose terms?“

Fragestellung der UNESCO im Global Education Monitoring Report 2023.

Der Schulleiter, der auch geschäftsführender Vorstand der Heraeus-Bildungsstiftung und diese Mitglied im „Forum Bildung Digitalisierung“ ist, hält als Forderung für die Grundschulen fest: Nicht nur „Lesen, Schreiben und Rechnen“ gehören zur Allgemeinbildung sondern „unbedingt“ auch „digitale Grundkompetenzen“. Wie es um die Grundkompetenzen in „Lesen, Schreiben und Rechnen“ bei den Grundschülern bestellt ist, scheint für ihn kein Problem zu sein – hat er doch ganz anderes im Sinn.

Schaut man genauer hin entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel: Die Stiftungen wirken wie ein Türöffner“[2]. Zu jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit melden sich deren „Experten“ zu Wort, um ihre „digitalen Bildungskonzepte“ voranzubringen. Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Tatsächlich verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien. Ein Blick nach Schweden bringt Aufklärung.

Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[3], erklärte dazu in einer Stellungnahme:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

In ihrer Stellungnahme führen sie weiter aus:

„Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“

Ungeachtet dieser Stellungnahmen der Wissenschaftler führt der Schulleiter jedoch im Interview weiter aus: Die Lehrkräfte müssen in ihrer Ausbildung „lernen, wie man Unterricht mit digitalen Werkzeugen gestaltet, wie man Kollaboration anbahnt, wie man Lernplattformen nutzt.“ Das klingt so, als „müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken“ und bitteschön, im Sinne der im Hintergrund des Stifterverbunds „Forum Bildung Digitalisierung“ agierenden IT-Industrie.

Die Vereinzelung beim Lernen vor dem Bildschirm, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen sowie der stete Leistungsabfall in den Grundkompetenzen, all das wird kommentarlos hingenommen.

Treffend und komprimiert führte Susanne Klein in der Süddeutschen Zeitung[4] unter der Überschrift: „Digitales Geräteturnen“, aus: „Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Damit die Schulen nicht zur nächsten Reform verdonnert werden, die eine kurzsichtige Politik irgendwann zurücknehmen muss.“

Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg stellt dazu fest, „dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[5]

Und auch die UNESCO kritisierte im „Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms?“[6], dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern wirtschaftliche Interessen.[7]

Diese wirtschaftlichen Interessen in der umfassenden „Digitalisierung der Bildung“ charakterisierte Christian Füller als „Trojanisches Pferd“[8] und schrieb in der Hamburger GEW-Lehrer-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[9] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften `Teilhabe´ und `Kooperation´ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Worauf es ankommt

Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortet Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: „Ein […] Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“[10]

Textauswahl durch Schulforum-Berlin


[1] Interview mit der Berliner Zeitung vom 30.9.2025, „Wir haben keine Zeit mehr“ – Digitalisierung an Berliner Schulen stagniert, Ronja Ackermann (21.10. 2025)

[2] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, „Perfektes Zusammenspiel“, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel (21.10. 2025)

[3] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung. (21.10. 2025)

[4] Süddeutsche Zeitung, 15.9.2017, „Digitales Geräteturnen“, Susanne Klein (21.10. 2025)

[5] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html (21.10. 2025)

[6] Technologie in der Bildung EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN? (21.10. 2025)

[7] Siehe auch: https://die-pädagogische-wende.de/wp-content/uploads/2023/11/moratorium_pub_17nov23.pdf (21.10. 2025)

[8] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, „Perfektes Zusammenspiel“, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel (21.10. 2025)

[9] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich:

Im Forum Bildung Digitalisierung sind derzeit zehn große deutsche Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund Mitglied: Deutsche Telekom Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Dieter von Holtzbrinck Stiftung, Heraeus Bildungsstiftung, Joachim Herz Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland und Wübben Stiftung Bildung. Berlin ist Netzwerk, Bühne und Treffpunkt für die wichtigsten Debatten über Bildung.

Siehe auch: Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf (21.10. 2025)

[10] Siehe: Tagesspiegel vom 8.12.2023, S. 16, „Fragwürdige Bildungsstudie“

Raus aus der Bildungsfalle

Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden – Digitalisierung ist nicht die Lösung, sondern das Problem

Raus aus der Bildungsfalle, Tim Engartner, Westend Verlag, 2024, siehe auch rechte Seitenleiste

Blick ins Buch

Textauswahl durch Schulforum-Berlin

Der Leitsatz „Wer fordert, fördert“ ist zunehmend verpönt. Getragen von der bei vielen Müttern und Vätern vorherrschenden Scheu, Leistung von ihren Kindern einzufordern, setzen auch immer weniger Lehrende auf Bildung durch Anstrengung. […] Die Vermittlung von Wissen tritt immer mehr in den Hintergrund. (S. 25)

Abkehr vom Leistungsprinzip

Disziplin, Fleiß und Zuverlässigkeit werden immer häufiger ausschließlich als Ausdruck autoritär angelegter Lehr- und Lernarrangements wahrgenommen. Als bürgerliche Tugenden sind diese übergeordneten Lern- und Erziehungsziele heutzutage mehrheitlich verpönt, sodass Eltern und Lehrkräfte immer seltener für die erfolgreiche Lernprozesse unverzichtbare Anstrengung einfordern. Vergessen scheint die Einsicht, dass Lernen nicht nur dem Vergnügen dient. (S. 45)

Obwohl diejenigen, die nicht wissen, wo sie hinwollen, leicht dorthin gelangen, wo sie nicht hinwollen, stehen jüngere Bildungskonzepte immer häufiger unter der Überschrift „Autonomes Lernen“ beziehungsweise „Offener Unterricht“. Kinder und Jugendliche sollen frei und unabhängig, das heißt, ohne eindeutigen Instruktionen folgen zu müssen, spielen und lernen können. Statt autoritärem Frontalunterricht mit der Lehrkraft im Zentrum sollen eindeutig die Lernenden im Mittelpunkt des Geschehens stehen und eigenständig, das heißt auch in ihrem Tempo, lernen. Doch an der Umsetzung hat es gehapert, denn jeder von uns, der eine Fremdsprache gelernt, für eine Mathearbeit geübt oder eine Englischklausur geschrieben hat, weiß, wie ungemein herausfordernd die eigenverantwortliche Gestaltung des Lernprozesses ist. Es ist eine Binsenweisheit, dass wir im Zuge von Bildungsprozessen nicht Wissen erwerben, sondern auch lernen müssen zu lernen. Das aber ist komplexes Unterfangen, das Schritt für Schritt erschlossen werden muss. (S. 46)

Silicon Valley im Klassenzimmer

Alphabet, Amazon, Microsoft und Meta sind neue Zentren der Macht, die sie in einem bisher unbekannten und kaum einzuhegenden Maße nun auch auf dem Bildungssystem ausüben. Doch nicht nur sie drängen auf den Bildungsmarkt, sondern auch Stiftungen, Non-Profit-Organisationen und Verbände. Beflügelt von der Idee, Bildung neu zu denken, engagieren sie sich mittels Projektfinanzierungen und Medienkampagnen für die Etablierung digitaler Markt- und Infrastrukturen an Schule und Hochschulen. Akteure wie das Bündnis für Bildung oder das Forum Bildung Digitalisierung werben mit ihrer vermeintlichen Neutralität, meinen damit aber häufig lediglich, dass sie produktneutral agieren. Sie werben also nicht für bestimmte Produkte, betonen aber bei jeder Gelegenheit, dass digitale Produkte in jedem Fall genutzt werden sollen. Um mögliche Kritik vorzubeugen, argumentieren sie mustergültig mit Partizipation, demokratischer Teilhabe oder Gemeinschaft und finden auch dadurch nicht nur Resonanz in der Öffentlichkeit, sondern auch Akzeptanz in der Politik. (S. 116)

Doch damit nicht genug. Mit dem DigitalPakt Schule wurde offenbart, dass die Digitalisierung des Bildungswesens bislang in erster Linie durch handfeste ökonomische Interessen und nicht durch pädagogische Konzepte geprägt war. (S. 117)

So wirbt der Tech-Gigant Apple für eine intensive Einbindung seiner Produkte in den Unterricht:

„Seit 40 Jahren unterstützt Apple Lehrerinnen und Lehrer dabei, das kreative Potenzial jedes einzelnen Schülers freizusetzen. Heute tun wir das auf mehr Arten als je zuvor. Und das nicht nur mit leistungsstarken Produkten. Sondern auch mit Werkzeugen, Inspirationen und Programmen, die Lehrkräften dabei helfen, geradezu magische Lernergebnisse zu schaffen.“ (S. 118)

Der Technologiekonzern Samsung wirbt nicht nur mit seinen Produkten, sondern auch mit seiner Vision für das Lernen mittels digitaler Endgeräte:

„Inspirieren Sie Ihre Schülerinnen und Schüler zu neuen Hochleistungen. Das Samsung Literacy Lab ist eine umfassende mobile Lernlösung, die entwickelt wurde, um die Lesefähigkeit von Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 3 bis 12 zu fördern. Das Literacy Lab kombiniert ein Samsung Chromebook 3 oder Galaxy Tab E mit dem branchenführenden Leseprogramm iLit von Pearson[1]. Es handelt sich um eine mobile Lösung, die leicht transportiert werden kann, um die Schülerinnen und Schüler dort zu erreichen, wo sie sich aufhalten“. (S.118)

Auch Microsoft vermarktet seine Lobbyarbeit unter dem Bildungsauftrag der Chancengleichheit: „Grenzenlose Lernchancen eröffnen“ und „Engagement für Barrierefreiheit und Inklusion“ lauten die Slogans. Mit Hilfe der von Mikrosoft angebotenen Soft- und Hardware sollen Schülerinnen und Schüler jeweils individuell gefördert werden, wodurch „personalisierte Lernerfahrungen“ und die „Chance für jeden Schüler, in der Schule und im Leben Erfolg zu haben“, in Aussicht gestellt werden. (S. 129)

Schulen im Fadenkreuz der Lobbyisten

Die Ausführungen zeigen, dass die Digitalisierung des Bildungswesens sowohl US-amerikanischen Technologieunternehmen als auch in Deutschland ansässigen Betrieben und ihren Interessenvertretungen [Beispiel „Forum Bildung Digitalisierung“[2]] die Klassentüren weit aufgestoßen hat. Längst haben sie die Schule als Geschäftsfeld und Werbeplattform erschlossen. (S. 138)

Als bildungspolitisch besonders einflussreich erweisen sich hierzulande die über 21000 Stiftungen, von denen 37 Prozent im Bereich Bildung und Erziehung, 34 Prozent in Kunst und Kultur sowie 19 Prozent in Wissenschaft und Forschung tätig sind. Einer der wirkmächtigsten Player in der Bildungspolitischen Debatte ist die Bertelsmann Stiftung, deren operatives Wissen, funktionales Know-how und personelles Rückgrat sie zu einem – wenn nicht gar dem – zentralen privaten Akteur in der bundesdeutschen Bildungslandschaft hat werden lassen. (S. 142)

Bildungs- und Erziehungsarbeit stärken

In unserem derzeitigen Bildungssystem stehen sich der Wunsch nach mehr Individualisierung durch weitreichende Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten des oder der Einzelnen einerseits und die Forderungen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt andererseits vielfach unversöhnlich gegenüber. […] Als sozialer Ort müssen vor allem Kitas und Schulen dafür sorgen, dass Lernen sich durch weitaus mehr auszeichnet als durch das Erwerben von Kompetenzen, die über die inzwischen sehr zahlreichen international vergleichenden Leistungsstudien besonders prominent in den Blick genommen werden. Unabhängig davon, welche Bedeutung man den diversen Leistungsstudien beimisst, darf ein ehernes Prinzip nicht in Vergessenheit geraten: Zwischenmenschliche Beziehungen, die sich nicht nur zwischen Schülerinnen und Schülern, sondern auch aus der Interaktion zwischen Lehr- und Lernpersonen ergeben, dürfen nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Nahezu jeder von uns ist während seiner Schulzeit von ein oder zwei Lehrkräften in besonderer Weise geprägt worden. Diese Prägung erfolgt in der Regel nicht nur über die Dimension der Wissensvermittlung, sondern auch über die Persönlichkeit der Lehrkraft. Deren Prägekraft ist umso größer, je eindeutiger Kindern Bildungsaspirationen über das Elternhaus versagt bleiben. (S. 223-224)

Hervorhebungen durch Schulforum-Berlin


[1] Pearson ist eines der weltweit führenden und größten Bildungsunternehmen und Vorreiter im Bereich der digitalen Wissensvermittlung und Online-Bildung. https://www.pearson.de/ueber-uns?srsltid=AfmBOoqAuBd_MUvPhzrMJFyq3WVTsX7sZ75uU4K4ZmmY2Ur9KtI7aIL5 (18.10.2025)

„Pearson finanzierte beispielsweise Studien, mit denen unabhängige Analysen angefochten wurden, die ihrerseits gezeigt hatten, dass die Produkte von Pearson keine Wirkung hatten.“ Aus: Technologie in der Bildung EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN? https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000386147_ger  (S.11) (18.10.2025)

[2] Im Forum Bildung Digitalisierung sind derzeit zehn große deutsche Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund Mitglied: Deutsche Telekom Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Dieter von Holtzbrinck Stiftung, Heraeus Bildungsstiftung, Joachim Herz Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland und Wübben Stiftung Bildung. Berlin ist Netzwerk, Bühne und Treffpunkt für die wichtigsten Debatten über Bildung.