Kein Jugendschutz auf dem Pausenhof

Smartphonenutzung an Schulen zwischen Privatsphäre und Jugendschutz

von Antje Pommerening, Lehrerin am Helmholtz-Gymnasium Karlsruhe

Fast alle Bundesländer überlassen es den einzelnen Schulen, wie sie die Smartphone-Nutzung an Schulen regeln. Einzig Bayern zeigt eine klare Linie: dort müssen Smartphones auf dem Schulgelände ausgeschaltet sein, in Ausnahmefällen kann der Lehrer z.B. zur Information der Eltern die Nutzung erlauben.

In Baden-Württemberg beispielsweise muss jede Schule selber die Smartphone-Nutzung regeln. Manche Schulen erlassen strenge Regeln, die die Nutzung verbieten oder einschränken, andere Schulen geben die Handynutzung in den Pausen komplett frei. In diesem Fall können Schüler in den Pausen nach Belieben ihren Handy-Spielen frönen, Nachrichten verschicken oder einander Video-Clips jeglichen Inhalts zeigen. Eine typische Beschäftigung von Sechstklässlern in den Pausen sieht dann so aus, dass einer das Handy in der Hand hält und vier weitere wie von Zauberhand festgenagelt mit gebeugtem Nacken verfolgen, was ihr Freund spielt. Der pädagogische Unwert einer solchen Pausenbeschäftigung liegt auf der Hand.

Neben harmlosen Spielen ermöglicht die freie Handyregelung aber auch, dass die Schüler einander Inhalte zeigen können, vor denen sie das Bundesjugendschutzgesetz schützen soll. Dieses verbietet es, Minderjährigen beispielsweise Bilder von sterbenden Menschen, Terrorpropaganda oder Pornographisches zu zeigen. All dies ist im Internet frei verfügbar, auf dem Pausenhof kann es gezeigt werden, während der Aufsicht führende Lehrer daneben steht.

Da das Smartphone zum Privatbereich des Schülers zählt, darf der Lehrer keinen Blick darauf werfen oder gar Inhalte abrufen. Ebenso wenig dürfte er ja einem Schüler über die Schulter schauen, wenn dieser in seinem Tagebuch liest. Der Schutz der Privatsphäre ist in unserer Rechtsordnung zu Recht ein sehr hohes Gut und verständlich. Nicht verständlich und absolut inakzeptabel ist es jedoch, wenn die Aufsicht führende Lehrkraft es daher bei freier Handynutzung hinnehmen muss, dass die Schüler einander jugendgefährdende Inhalte zeigen können. Nur wenn andere Schüler davon erzählen würden, dürfte der Lehrer einschreiten und das Handy einkassieren. Dann könnte die Polizei gerufen werden, die wiederum nur mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl autorisiert wäre, die Inhalte anzuschauen.

Der Jugendschutz, der im Internet kaum mehr existiert, ist auf dem Pausenhof der Schulen, die eine freie Handynutzung erlauben, im Ergebnis aufgehoben. Uns Lehrern sind die Kinder zwar anvertraut, wir haben aber keinerlei Möglichkeit, sie vor jugendgefährdenden Inhalten zu schützen.

Es ist, als hätten wir an der Schule einen Raum eingerichtet, den nur Schüler betreten dürfen, vor dessen Eingang ein Lehrer steht und sieht, dass die Schüler ihn gerne betreten und viele ihn glücklich verlassen, einige jedoch verstört herauskommen, ohne dass der Lehrer den Kopf in den Raum stecken könnte, um mal nach dem Rechten zu schauen. Niemand würde einen solchen aufsichtsfreien Raum in einer Schule dulden. Sobald es sich aber um einen virtuellen Raum handelt, werden alle Bedenken beiseitegeschoben.

Wer löscht die Bilder im Kopf?

Die Schule ist ein Schutzraum. Sowohl medienverwahrloste Kinder, die außerhalb der Schule alles sehen können, als auch behütete Kinder, die nur begrenzt Zugang zum Internet haben, dürfen nicht Gefahr laufen, dass sie auf dem Schulhof Video-Clips sehen von überfahrenen, sterbenden Tieren, von Hinrichtungen oder Terrorpropaganda. Es gibt keine Lösch-Taste für solche Bilder in der kindlichen Seele, sie brennen sich ein und die Kinder können sie sich nicht von der Seele kratzen. Ein blaues Auge sehen die Eltern und fragen nach. Seelische Gewalt hinterlässt keine äußeren Spuren. Schule sollte ein Ort sein, der auch die seelische Unversehrtheit der Kinder im Blick hat. Wir Lehrer sind dafür verantwortlich, solange die Kinder in unserer Obhut sind. Bei freier Handynutzung haben wir Lehrer keine Möglichkeit, unserer Verantwortung den Schülern gegenüber gerecht zu werden. Die Eltern geben ihre Kinder voller Vertrauen in die Obhut der Schule. Diese müsste präventiv alles in ihrer Macht Stehende tun, die Kinder vor körperlichen und ebenso vor seelischen Verletzungen zu schützen.

Bei Diskussionen über ein Handynutzungsverbot darf das Zauberwort „Medienkompetenz“ nicht fehlen. Medienkompetenz ist wichtig, aber kein Allheilmittel. Wenn Schüler einander Gewaltvideos oder Terrorpropaganda zeigen, so liegt das nicht an fehlender Medienkompetenz.

Das Kultusministeriums entzieht sich der Verantwortung

Nach langer Korrespondenz mit der Schulverwaltung, ob das Bundesjugendschutzgesetz überhaupt gelte an der Schule und wer die Verantwortung dafür trage, wurde mir vom baden-württembergischen Kultusministerium kryptisch geantwortet, das Jugendschutzgesetz gelte zwar, komme aber in den von mir „beschriebenen Fällen allerdings nicht unmittelbar zur Anwendung“, ferner hieß es, die Lehrkraft solle von einem verantwortungsvollen Gebrauch der Smartphones ausgehen, sofern sie nichts Gegenteiliges erführe.

Eine solche Haltung zeigt, dass man sich von Seiten des Kultusministeriums der Verantwortung nicht stellen will, sondern durch aktives Wegschauen das Problem klein halten möchte. Jegliche Schutzmaßnahmen in allen anderen schulischen Bereichen müssen präventiv sein. Wenn man eine Gefahr sieht, muss man sich im Vorfeld um ihre Vermeidung kümmern und kann nicht erst dann einschreiten, wenn die Gefahr sich verwirklicht hat. Ein Sportlehrer muss für Schwimmhilfen sorgen, bevor ein Nichtschwimmer ins Becken gefallen ist. Bei der Verhinderung seelischer Verletzungen scheint der Präventionsgedanke den Schulverwaltungen, die eine freie Handynutzung zulassen, fremd zu sein.

Jugendgefährdende Inhalte haben auf dem Pausenhof nichts zu suchen. Da die Privatsphäre des Schülers zu Recht dem Lehrer jeden Zugriff auf die Inhalte eines Schülerhandys verwehrt, ist die einzige Lösung ein Handynutzungsverbot in den Pausen. Wann endlich wird das Bundesjugendschutzgesetz auf den Pausenhöfen bundesweit durchgesetzt und nicht nur in Bayern?

Veröffentlichung des Beitrags auf www. Schulforum-Berlin.de mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch:  „Fragen zur Medienkompetenz unserer Jugend“, Interview mit Uwe Buermann, Berlin

In Berlin lässt das Schulgesetz ein Handyverbot an Schulen ausdrücklich zu. Allerdings gibt es keine allgemeine Regel, die für das ganze Bundesland gilt. Wenn ein Schüler bzw. eine Schülerin den Unterricht stört und somit die Lehrkraft Ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen kann, ist es laut Schulgesetz erlaubt, den Schülern Gegenstände und somit auch Smartphones wegzunehmen.

Ausbildungsstudie: Selbstverwirklichung und Spaß zuerst

Jede Menge Spaß – Berufserfolg verliert für junge Menschen an Bedeutung

Tagesspiegel, 06.09.2017, Laurin Meyer
Berufliche Prioritäten verlieren für junge Menschen an Bedeutung. Sie setzen in ihrem Leben eher andere Prioritäten. Das zeigt die mittlerweile dritte McDonald´s-Ausbildungsstudie, die das Unternehmen beim Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) in Auftrag gegeben hat. […]

„Der Beruf als Vehikel, um zufrieden zu sein, verliert an Bedeutung“, sagte IfD-Geschäftsführerin Renate Köcher, die die Studie am 05.09.2017 in Berlin vorstellte. Stattdessen würden Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung wichtiger. […]

Dazu ein Blick in die Studie: In der jungen Generation [haben] Lebensziele an Bedeutung gewonnen, die stärker den persönlichen Bedürfnissen und der Selbstverwirklichung entsprechen. So hat sich innerhalb der letzten vier Jahre der Anteil der unter 25-Jährigen, denen es im Leben ganz besonders wichtig ist, Spaß zu haben und das Leben zu genießen, von 44 auf 50 Prozent erhöht. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil derer, die die eigenen Interessen und Hobbys zum Wichtigsten im Leben zählen, von 36 auf 44 Prozent. Und auch der Wunsch, seine Ideen und Vorstellungen vom Leben verwirklichen zu können, hat sich zwischen 2013 und 2017 in der jungen Generation verstärkt. (S. 12)

Die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt [sind] für viele so groß wie nie. Paradox: Genau das scheint jedoch viele zu überfordern. So findet es ein Großteil viel schwieriger als früher, Entscheidungen über die berufliche Zukunft zu treffen. Jeder vierte Schüler hat noch keine konkrete Vorstellung vom Leben nach der Schulzeit.

Dazu aus der Studie: Lediglich 18 Prozent haben Jobmessen bei der Berufsinformation als besonders hilfreich empfunden. […] So gelten besonders persönliche Informationen, insbesondere von Personen mit Erfahrungen in dem Beruf oder Ausbildungszweig, für den man sich interessiert, als besonders glaubwürdig: 73 Prozent der 15- bis 24-Jährigen sind überzeugt, dass Gespräche mit Leuten, die den Beruf ausüben, den man selbst anstrebt, besonders zuverlässig sind. 67 Prozent empfinden das auch für Gespräche mit Personen, die die gleiche Ausbildung bzw. das gleiche Studium machen, 65 Prozent für Gespräche mit den Eltern. (S. 69)

Gelingt der Übergang in den Beruf, dann kann er einen großen Schub für die Persönlichkeitsentwicklung mit sich bringen. Gelingt er nicht, kann die gesamte weitere Persönlichkeitsentwicklung darunter leiden.

Dazu berichtet Susanne Vieth-Entus im TSP vom 04.09.2017: Wie groß die Lücke ist, die zwischen der Schule und dem Schritt in die Ausbildung klafft, zeigt ein Blick in den Brennpunktbezirk Berlin/Mitte. Hier gaben die Sekundarschulen bei einer Umfrage die Auskunft, dass nur jeder 20. Zehntklässler in eine duale Ausbildung übergeht. Für rund 50 Prozent hieß es, dass sie in die Arbeitslosigkeit gehen oder „Maßnahmen besuchen, die nicht zu einem Berufs- oder Bildungsabschluss führen“.

Aber selbst wenn es gelingt, einen Ausbildungsvertrag abzuschließen, sind damit die Probleme bei Weitem nicht gelöst: Jeder vierte Berliner Betrieb gab bei der jüngsten IHK-Ausbildungsumfrage als Grund für nicht besetzte Lehrstellen an, dass die jungen Leute den Vertrag gelöst hatten.

Hinzu kommt als Problem, dass es mit dem Herausfinden der eigenen Stärken nicht getan ist, wenn generell „Leistungsbereitschaft, Motivation und Belastbarkeit zur Ausbildungsreife fehlen“, wie die IHK-Betriebe feststellen.

Bereits am 15.10.2015 schrieb Susanne Vieth-Entus im TSP:  Eine Sekundarschule im Bezirk [Berlin/Mitte], die nicht genannt werden möchte, berichtet, dass 2014 nur sechs von über 120 Absolventen eine betriebliche Ausbildung begonnen haben; vier von ihnen gaben auf, „weil die Eltern nicht dahinter standen, oder weil es den Schülern zu anstrengend war“, wie der Rektor resümiert. Diese Bilanz ist für die Schule vor allem deshalb niederschmetternd, weil die Schüler „von hinten bis vorn gepimpt und beraten“ worden seien, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Einen Grund für den Misserfolg sieht der Schulleiter in der „Sozialisation“ der Schüler: „Sie bekommen bestimmte Dinge nicht vorgelebt.“ Oft habe in der Familie kaum jemand einen Beruf. „Die Schüler erfahren, dass sich auch ohne Arbeit ganz gut leben lässt. Darum sehen sie nicht ein, warum sie um sechs Uhr aufstehen und acht Stunden lang schuften sollen“, berichtet eine Schulleiterin im selben Bezirk.

zm Artikel:  http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/ausbildungsstudie-berufserfolg-verliert-fuer-junge-menschen-an-bedeutung/20287234.html

zur Studie: https://karriere.mcdonalds.de/docroot/jobboerse-mcd-career-blossom/assets/documents/McD_Ausbildungsstudie_2017.pdf
Für die Ausbildungsstudie 2017 wurden insgesamt 1.564 mündlich-persönliche Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 24 Jahren geführt.

siehe auch: http://www.tagesspiegel.de/berlin/schulabgaenger-im-berliner-brennpunkt-wenn-die-duale-ausbildung-zum-fremdwort-wird/12451900.html

Herausfordernde Klassen führen – Classroom-Management

„Ohne eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ist guter Unterricht nicht möglich“

Der Schulpsychologe Christoph Eichhorn ist ein gefragter Experte im Bereich Classroom-Management. Im Interview mit Stefanie Rietzler (Akademie für Lerncoaching) steht der renommierte Autor Rede und Antwort zur Frage:

„Wie können herausfordernde Klassen so geführt werden, dass guter Unterricht überhaupt möglich wird?“ 

Stefanie Rietzler: Herr Eichhorn, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema , haben dazu unzählige Beiträge veröffentlich und viele hundert Fachpersonen weitergebildet. Warum ist Classroom-Management so wichtig?

Christoph Eichhorn: Eigentlich ist es Prävention im Unterricht. Das Ziel besteht darin, den Unterricht so zu organisieren und zu strukturieren, dass sich die Schüler/innen wohl fühlen und gut lernen können. Dadurch soll es seltener zu Störungen kommen, die das Klima belasten. Angenommen, Sie übernehmen eine neue Klasse als Lehrperson. Gleich am ersten Tag stolpern Sie beim Betreten des Klassenzimmers über einen Schüler, der weinend auf dem Boden sitzt. So hatten Sie sich Ihren ersten Tag natürlich nicht vorgestellt.  Aber jetzt sind Sie von einer Sekunde auf die andere voll beschäftigt. Erstmal versuchen Sie vielleicht, das Kind zu trösten, was sich als gar nicht so einfach herausstellt. Dann fragen Sie, was geschehen sei. „Julian hat mir auf den Rücken geschlagen“, bringt der Schüler weinend hervor. „Aber Marius hat mir die Zunge rausgestreckt!“ entgegnet der andere. Was soll man mit diesem Wissen tun? Die Klasse wird in der Zwischenzeit immer unruhiger. Der Unterricht ist noch keine drei Minuten alt und schon ziemlich verfahren. Ein typischer Fall für Classroom-Management!

Dieses unterstützt das Handeln von Lehrpersonen im Unterricht, in dem es ihnen Anhaltspunkte dafür liefert, was gerade wichtig ist und was weniger. Vor allem in schwierigen Klassen. Darüberhinaus bietet es ein breites Repertoire an Anregungen, was Lehrpersonen tun können, damit es in ihrem Unterricht rund läuft. Auf unser Fallbeispiel bezogen bedeutet das: Am wichtigsten ist jetzt, dass sich die Lehrkraft um einen geordneten Start in den Unterricht bemüht. Um dieses Ziel zu erreichen kann sie beispielweise eine Routine einführen, die die Schüler und Schülerinnen dabei unterstützt, das Klassenzimmer angemessen zu betreten. Die Regie führt dabei die Lehrperson.

Stefanie Rietzler: Wie kann das konkret aussehen?

Christoph Eichhorn: Nehmen wir dazu das Beispiel von Herrn Wirz. Er hat von seinem Vorgänger erfahren, dass es sich bei seiner neuen Klasse um eine „schwierige Klasse“ handelt. Also bespricht er mit den Schüler/innen gleich in den ersten Schultagen das Ritual „Klassenzimmer betreten“. Bereits während der Sommerferien hat er für sich geklärt, was er von seinen Schüler/innen erwartet. Dann hat er seine Erwartungen aus Schülersicht formuliert. Diese zeigt er seiner Klasse auf einer Folie:

  • Ich betrete ruhig das Klassenzimmer
  • Ich gehe zügig und direkt an meinen Platz
  • Ich nehme dort gleich mein Lieblingsbuch hervor und beginne zu lesen.

Stefanie Rietzler: In diesem Beispiel bestimmt der Lehrer, welche Regeln gelten. Wäre es nicht sinnvoll die Schüler/innen mit einzubeziehen?

Christoph Eichhorn: Prinzipiell gilt: Je schwieriger die Klasse – desto eher gibt die Lehrperson die Regeln selbst vor.

In der Literatur lesen wir ja immer wieder, dass die Lehrkraft ihre Schüler/innen beim Aufstellen von Regeln und Routinen einbeziehen soll. Ich finde das eine gute Idee. Aber sie hat ihre Grenzen. Und das sind vor allem schwierige Klassen.

Bei schwierigen Klassen ist es oft sinnvoll, dass die Lehrkraft erst einmal bestimmte Vorgaben macht, die darauf abzielen, aktuell besonders problematische Unterrichtssituationen präventiv abzufedern. Wie in unserem Fallbeispiel, die Art und Weise, wie die Schüler/innen ihr Klassenzimmer betreten. Wenn es Herrn Wirz gelingt, seine Schüler/innen bei diesem wichtigen Schritt zu unterstützen, dann hat er einen bedeutenden Beitrag zu einem ruhigeren Klassenzimmer geleistet. Und davon profitieren alle: Lehrer und Schüler/innen. Vor allem fördert er damit die Beziehung zu den Kindern, weil er dann weniger eingreifen und ermahnen muss. Und ohne eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ist guter Unterricht nicht möglich.

Klar, bei einer Klasse mit kooperativen Schüler/innen und solchen mit hohen Kompetenzen in der Selbstregulation und im Sozialverhalten kann man die Kinder stärker einbeziehen.

Stefanie Rietzler: Viele Lehrpersonen machen die Erfahrung, dass sie die Klassenregeln zwar einführen, aber die Kinder sich nicht daran halten. Woran liegt das?

Christoph Eichhorn: Wenn eine Lehrperson „nur“ mit ihren Schüler/innen über eine Routine spricht, dann haben es einige spätestens am nächsten Tag schon wieder vergessen. Selbst wenn die Lehrkraft exakt erklärt hat, was sie von ihren Schüler/innen erwartet. Natürlich können sie dann den Erwartungen nicht nachkommen – selbst wenn sie es wollten. Es reicht nicht aus, Regeln einfach zu kommunizieren. Sie müssen trainiert werden! Herr Wirz könnte dazu gleich einen Schüler darum bitten, allen nochmal zu erklären, wie das Klassenzimmer betreten wird. Er kann sich bedanken und dann sagen, „wir üben es gleich mal“. Dadurch signalisiert die Lehrkraft den Schüler/innen, dass es ihr wichtig ist, dass das Klassenzimmer angemessen betreten wird. Beim Üben gibt es außerdem die Möglichkeit, den Schüler/innen genau zu zeigen, was man von ihnen erwartet. Und man kann sie entsprechend korrigieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Schüler/innen den Ablauf schneller lernen.

Stefanie Rietzler: Üben wird von den Kindern ja oft als öde erlebt. Wie bewegt man die Klasse zur Mitarbeit?

Christoph Eichhorn: Eine wichtige Frage. Wenn wir die Kooperation unserer Schüler/innen erreichen wollen, dann spielt Kommunikation eine Schlüsselrolle. Und diese muss positiv angelegt sein. Unser Ziel ist, diese Routine zu etwas Attraktivem zu machen. Herr Wirz fragt zum Beispiel, „wer will denn zeigen, dass er es schon kann?“ Das ist eine attraktive Formulierung. Klar hätte er auch sagen können, „Dario, du musst es als erster vormachen.“ – kein so günstiger Einstieg. Jetzt aber melden sich einige Schüler/innen. Herr Wirz bedankt sich bei diesen und wählt dann vier aus, die es vormachen dürfen. Auf sein Zeichen hin verlassen sie das Klassenzimmer, kommen wieder rein und setzen sich auf ihren Platz – genau wie besprochen. Herr Wirz lobt diese Schüler/innen. So macht die Lehrperson die Routinen attraktiver. Dann dürfen die Jungen zeigen, dass sie es schon können und dann die Mädchen – oder umgekehrt.

Stefanie Rietzler: Was kann man tun, wenn die Klasse trotz allem Probleme hat, sich an die Regel zu halten oder sich dem Üben entzieht?

Christoph Eichhorn: Manchmal wird sehr ungünstig reagiert. Es fallen Sätze von der Lehrkraft wie: „lernt ihr das nie?“ Oder, „was seid ihr bloss für eine Klasse?“ Damit feuert man aber den Widerstand seiner Schüler/innen an. Ungünstig wäre es auch, wenn man einfach weiter üben würde, obwohl in der Klasse deutliche Zeichen von Unlust offen zu Tage treten. Auch das würde nur den Widerstand einiger Schüler/innen entfachen.

Herr Wirz aus unserem Beispiel achtet stattdessen auf kleine Schritte in die richtige Richtung. Deshalb sagt er, „die meisten von euch haben es sehr gut geschafft. Ihr seid direkt und zügig an euren Platz gegangen, habt euch hingesetzt, euer Buch hervor genommen und zu lesen begonnen“. Sein Tonfall drückt Begeisterung aus. Er agiert also wie eine Art Coach, der ein Team von einer Idee begeistern möchte. Damit lobt er nicht nur die Schüler/innen, die es gut gemacht haben, sondern er formuliert noch einmal detailliert seine Erwartungen. Aber, und das ist entscheidend, in einem Kontext von Wertschätzung und Anerkennung. Durch seine positive Kommunikation gelingt es ihm, die Attraktivität der Routine zu steigern, was die Chancen erhöht, dass seine Schüler/innen sie einhalten. Allerdings reicht das allein bei schwierigen Klassen nicht aus. Daher tut er noch mehr.

Wenn seine Schüler/innen deutliche Zeichen von Widerstand zeigen, lässt er es auf keinen Machtkampf ankommen. Deshalb bricht er das Üben an dieser Stelle ab. Aber, und das ist ganz entscheidend, er fügt hinzu, „wir üben es morgen noch einmal und ich bin sicher, dass ihr es dann noch besser könnt.“ Damit signalisiert er seiner Klasse, dass sie seine Erwartungen noch nicht wirklich erfüllt hat – ohne zu kritisieren. Gleichzeitig vermittelt er damit, dass er den Kindern mehr zutraut.

Stefanie Rietzler: Wovon hängt es ab, ob man eine kritische Unterrichtssituation langfristig in den Griff bekommt? Was sind die häufigsten Stolpersteine?

Christoph Eichhorn: Es kann sehr anspruchsvoll sein, in schwierigen Klassen eine Routine einzuüben. Denn wir haben ja nicht nur das Ziel, dass die Schüler/innen die Routine genau ausführen, sondern das Üben soll in einem positiven und wertschätzenden Kontext geschehen. Es lohnt sich deshalb, sich vorher detailliert Gedanken zu machen. Man kann seine Erwartungen stärker anpassen und sich beispielsweise bereits im Vorfeld darauf einstellen, dass es am nächsten Tag nicht alle korrekt machen werden. Gleichzeitig lohnt es sich, sich Handlungsoptionen für schwierige Situationen zurechtzulegen. Günstig ist es auch, in einer kritischen Situation von Anfang an eine hohe Präsenz zu zeigen. Herr Wirz kann seine Schüler/innen beispielsweise schon an der Tür erwarten, sie dort freundlich begrüßen und dann beobachten, wie gut sie es schaffen, sich direkt an ihren Platz zu begeben. Und hin und wieder kann er einem Schüler zuflüstern: „Das hast du gut gemacht.“ Je präsenter eine Lehrkraft ist, desto weniger stören die Schüler/innen.

Bei wenig motivierten und schwierigen Klassen ist es zudem besonders wichtig, dass die Lehrperson angemessenes Verhalten ihrer Schüler/innen laut beschreibt. In der Fachliteratur wird dies als „narrating positive behavior“ bezeichnet. Im Fall von Herrn Wirz könnte das so aussehen: Während der Lehrer seine Schüler/innen dabei beobachtet, wie sie das Klassenzimmer betreten und zu ihren Plätzen gehen, sagt er: „Anäis, Larissa, Seyma und Dario gehen direkt an ihren Platz, Rahman sitzt ruhig an seinem Tisch und liest schon in seinem Buch“. Er erwähnt natürlich vor allem Schüler/innen, die entweder eher Schwierigkeiten haben, das Ritual einzuhalten oder solche, die weniger motiviert sind.

Als alle an ihren Plätzen sitzen, sagt er: „heute seid ihr schon v-i-e-l besser ins Klassenzimmer gekommen, als gestern  –  prima.“ Er schaut dabei seine Schüler/innen freundlich an und seine Stimme drückt Wertschätzung und Motivierung aus.

Stefanie Rietzler: Was ist, wenn einzelne dennoch aus der Reihe tanzen?

Christoph Eichhorn: Entspannt und gelassen bleiben und üben, üben, üben. Herr Wirz könnte sagen: „wir machen es gleich nochmal.“, wenn die Schüler/innen bestimmte Regeln und Vereinbarungen nicht einhalten, oder sich unangemessen verhalten. Dabei gilt: nicht zu früh aufgeben.

Angenommen, nur vier Schüler/innen brauchen etwas länger, bis sie an ihrem Tisch sitzen. Drei von ihnen holen ihr Buch nicht hervor. Einer der drei schaut aus dem Fenster. Der andere flüstert einem Mitschüler etwas zu. Der dritte sucht etwas in seinem Mäppchen. Alles keine großen Störungen. Nur, die Anforderung von Herrn Wirz lautete, „wenn ich am Platz sitze, nehme ich gleich mein Lieblingsbuch hervor und beginne zu lesen.“ Und das haben diese drei Schüler nicht gemacht. Was jetzt? Soll Herr Wirz darauf bestehen, dass sie die Routine korrekt ausführen? Wenn „ja“, könnte das nicht in offenen Widerstand von Seiten der Klasse umschlagen? Oder soll er es durchgehen lassen – seine Schüler/innen halten ja die Routine schon deutlich besser ein? Je nachdem, für welches Vorgehen er sich entscheidet, wird er in Zukunft mit dieser Klasse deutlich mehr Schwierigkeiten haben oder klar weniger. Classroom-Management empfiehlt Lehrpersonen, auf exakter Regeleinhaltung zu bestehen. Je schwieriger eine Klasse, desto exakter sollte eine Lehrkraft darauf bestehen, dass ihre Schüler/innen ihre Vorgaben einhalten. Warum? Weil sie sonst lernen, „der nimmt es nicht so genau.“ Einige denken sich dann: „Warum sollen wir dann in Zukunft die Anweisungen einhalten?“ Klar, dass sie in der Folge mehr stören. Auf diesen bedeutsamen Aspekt wiesen Wahl, Weinert und Huber schon 1984 hin. Sie erklärten fortbestehende Unruhe im Klassenzimmer damit, dass sich die Lehrperson mit halbem Erfolg zufrieden gibt und den Unterricht bereits wieder fortsetzt, sobald die Unruhe zwar zurückgegangen, aber noch nicht beendet ist. Die Lehrkraft achtet nicht genug darauf, ob wirklich auch sämtliche Schüler der Klasse die Regel einhalten. Vielmehr versucht sie, oft mit lauter Stimme, die verbleibende Unruhe zu übertönen. Ungewollt wird damit das störende Verhalten der Schüler/innen verstärkt.

Stefanie Rietzler: Inwiefern schalten die Schüler/innen auf Widerstand, wenn die Lehrkraft penibel auf die Regeleinhaltung pocht?

Christoph Eichhorn: Das ist eine wichtige Frage, weil wir das ja auf jeden Fall vermeiden wollen. Ob eine Klasse mit ihrem Lehrer kooperiert oder nicht, hängt weniger davon ab, ob die Lehrperson von ihren Schüler/innen einfordert, gegebene Anweisungen genau einzuhalten, sondern vielmehr davon, wie sie kommuniziert. Wenn eine Lehrkraft viel kritisiert und ermahnt, steigt das Risiko an, dass ihre Schüler/innen immer weniger kooperieren. Positive Kommunikation ist also gerade in schwierigen Klassen besonders wichtig. Und auch gegenüber Schüler/innen mit herausforderndem Verhalten.

In Herrn Wirzs Fall handelt es sich um drei Schüler. Er entscheidet sich jetzt dafür, noch einmal üben zu lassen. Zunächst bittet er den Schüler, der es am wenigsten gut geschafft hat, den Ablauf noch einmal kurz zu erklären. Aber der kann den Ablauf der Routine nicht exakt wiedergeben. Was jetzt? Klar könnte Herr Wirz empört reagieren und seinen Schüler zurechtweisen. Er wählt aber einen anderen Weg. Er hilft ihm einfach. Dann lächelt er ihm freundlich zu.

Beim Üben zeigt er wieder hohe Präsenz – vor allem bei den Schüler/innen, bei denen es noch nicht so ganz geklappt hat. Konkret heißt das, dass er Blickkontakt zu ihnen sucht, und sich überwiegend in deren Nähe aufhält. Und er setzt gerade bei diesen Schüler/innen auf narrating positive behavior. Und wenn es einmal gar nicht klappt, flüstert er auch schon mal einer Schülerin zu, „Anäis, bitte gehe direkt an deinen Platz“. Er handelt diskret und höflich, was die Kooperationsbereitschaft seiner Schüler/innen fördert. Auch von denjenigen mit Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung.

Stefanie Rietzler: Wie kann man reagieren, wenn Schüler/innen absichtlich provozieren?

Christoph Eichhorn: Für Classroom-Management Experten ist klar: Sofort reagieren, aber unaufgeregt. Weiterlesen

Historisches Grundwissen in Gefahr – „Die geschichtslose Schule“

Zeitgeschichtliche Bildung in der Schule – das Fach Geschichte

Ulrich Bongertmann
In der deutschen Bildungspolitik, […] ist in den Bundesländern und der Kultusministerkonferenz (KMK) eine bildungspolitische Strategie führend, die auf mehr Grundkompetenzen in Deutsch, Fremdsprachen (vor allem Englisch) und in den MINT-Fächern abzielt. Diese Grundkompetenzen sollen über Stundenerhöhungen, bundesweite Vergleichsarbeiten (VERA), neue Abiturprüfungsbedingungen und über die auf Bundesebene neu geschaffenen KMK-Bildungsstandards angestrebt werden. Die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer (also vor allem Geschichte, Politik, Erdkunde und Wirtschaft) gehen hier leer aus. […]

„Seit Jahren betreiben die Länder eine Entwertung des Faches Geschichte. Es werden Stunden gekürzt, oder das Fach wird mit Politik und Geografie verschmolzen, was zwangsläufig zum Verlust historischer Inhalte führt und fachfremdes Unterrichten fördert.“ So die Aussage des Geschichtslehrers Robert Rauh im TSP vom 07.02.201. Rauh bildet Lehrer aus im Fach Geschichte und war 2013 Lehrer des Jahres.

Daneben sind die Lehrer durch [bildungspolitische Vorgaben, z.B.] der Inklusion – der Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf in die Regelschulen – in Anspruch genommen, und durch die dabei auftretenden Probleme wird oft jede fachliche Diskussion überlagert. […]

Was in einem Fach möglich ist, entscheiden die Wochenstundenzahlen.
Für Geschichte sind sie in manchen Bundesländern auf ein Maß herabgesetzt worden, das man als heikel bezeichnen muss. In Anbetracht der verschiedenen Schulsysteme und -formen sowie vieler Ausnahmen und Veränderungen (G8, G9) sind pauschale Aussagen mit bundesweiter Geltung zwar nur schwer zu treffen, doch werden insgesamt die folgenden Tendenzen deutlich:

Die Pflichtstundenzahl für den Geschichtsunterricht im Gymnasium (Sekundarstufe I und II, in der Summe aller Schuljahre gerechnet) differiert erheblich: von nur 9 bis zu 20 Pflichtstunden. Mit 14 Stunden liegt Berlin im Mittelfeld.

In den Schulformen, die zum mittleren Schulabschluss führen, findet sich die folgende Bandbreite (von der 5. bis zur 10. Klasse): von nur 6 bis zu 12 Geschichtsstunden. [Unterricht in der 5. und 6. Klasse in Berlin im Fächerverbund Geschichte, Geografie und Politische Bildung, siehe nachfolgender Absatz]

In den meisten Ländern, so auch in Berlin, wurde das mehrgliedrige Schulsystem durch ein „Zwei-Säulen-System“ abgelöst: Neben dem Gymnasium (der einen Säule) werden die Bildungsgänge der ehemaligen Real- und Hauptschule unter den Namen Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Sekundarschule u. a. m. zu einer gesamtschulartigen Verbindung zusammengeführt. Mit zunehmender Tendenz werden hier die Fächer Geschichte, Politische Bildung und Geografie gar nicht mehr getrennt, sondern in einem Fächerverbund [im Fach „Gesellschaftswissenschaften, GeWi“] integriert. Dann erteilt unter Umständen ein Fachfremder ohne entsprechende Hochschulausbildung den Geschichtsunterricht. […] Begründet wird das Fach „Gesellschaftswissenschaften“ mit der Notwendigkeit einer Zusammenschau der angeblich unaufteilbaren sozialen „Welt“ durch die Lernenden, wofür Qualitätseinbußen bei den Voraussetzungen der Lehrkräfte hinzunehmen seien. […]

„Dabei weiß man doch spätestens seit den Pisa-Studien, dass die Ergebnisse um so schlechter ausfallen, je höher der Anteil von Nicht-Fachlehrern liegt“, sagt der neue Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), der bayerische Gymnasialschulleiter Heinz-Peter Meidinger in der FAZ vom 31.07.2017.

Ein Geschichtsunterricht, der nur noch den Anlass liefern soll, über ein gegenwärtiges Problem zu reflektieren, verkennt das eigentlich Historische, das selbst schon genug Anlässe zu gründlichem Nachdenken in sich trägt. […]

Die meisten deutschen Oberstufenschüler begegnen dem Fach Geschichte nur noch in einem zwei- bis dreistündigen Kurs und nicht mehr in der Abiturprüfung, also unter erhöhten Anforderungen. Vielfach bestehen sogar Abwahloptionen, auch wenn die Belegung von festen Anteilen mit historischen Themen vorgeschrieben bleibt. Im Ergebnis heißt das: Geschichte ist zwar unter den gesellschaftswissenschaftlichen Schulfächern immer noch das stärkste, aber für eine breite historische Bildung aller Schülerinnen und Schüler genügt die Stellung, die das Fach gegenwärtig einnimmt, nicht. […]

Forderungen aus dem Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I, Berlin
Jahrgangsstufe 7-10

[…] Zentrale Aufgaben des Geschichtsunterrichts sind […] die Förderung und Entwicklung eines reflektierten, selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins und eines differenzierten, historisch-politischen Urteilsvermögens. Die Grundlage hierfür wird durch systematisch aufgebautes, mit fachspezifischen Methoden erschlossenes Wissen gelegt. [1] Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen zur mündigen Partizipation an der politischen Willensbildung und zur Mitgestaltung der Gesellschaft und ihrer Wandlungsprozesse. […]

[1] In Berlin-Brandenburg konnte 2015 knapp verhindert werden, dass Geschichte in Klasse 5 bis 8 nur noch in Längsschnitten und nicht mehr chronologisch vermittelt werden sollte.

Um jedoch Einsicht in die historische Bedingtheit nahezu aller Gegenstände und Themen und auch der eigenen Person zu gewinnen und die Wurzeln heutiger Zustände tiefer zu verstehen, muss der Unterricht über eine Befassung mit der Zeitgeschichte weit hinausgehen. [D.h.,] wer die Zeitgeschichte den Schülerinnen und Schülern nahebringen will, muss auch die notwendige Zeit für eine kontinuierliche Befassung mit ihr zur Verfügung stellen [und dies mit ausgebildeten Lehrkräften].

Hervorhebungen im Fettdruck und Einschübe kursiv durch Schulforum-Berlin

zum Beitrag:  Zeitgeschichtliche Bildung in der Schule – das Fach Geschichte, Ulrich Bongertmann, in einer im Juni 2017 veröffentlichten Analyse für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Ulrich Bongertmann, Studiendirektor, Gymnasiallehrer für Geschichte und Latein in Rostock, Bundesvorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands

siehe auch: TSP, 31.07.017, Amory Burchard, Geschichtsunterricht:  Historisches Grundwissen in Gefahr.
siehe auch: TSP, 07.02.2017, Robert Rauh, Schule in Berlin Geschichtsunterricht – ungekürzt!
siehe auch: Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD), Geschichtsunterricht in Deutschland 2016/17 – quantitativ betrachtet. Ein Überblick über die Zeitbedingungen des Geschichtsunterrichts in den Bundesländern.
siehe auch: Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I, Berlin


Kritisches Geschichtsbewusstsein entsteht im Prozess des historischen Lernens und des Erzählens von Geschichte. Es ist eine selbstreflexive Instanz, die für die staatsbürgerliche Identität unverzichtbar ist. Schulunterricht kann das Reifen von Geschichtsbewusstsein fördern, indem er Schüler und Schülerinnen zum Nachdenken über Geschichte, über ihre Widersprüche, Mehrdeutigkeit und Kontingenz anregt. Gelingt dies, versetzt er sie in die Lage, sich gegen manipulative Einflüsse auf das
Geschichtsbewusstsein zu wehren. Sich in der Geschichte orientieren zu können, ist für Kinder und Jugendliche ein großer Schritt. Für die Demokratie ist es zugleich der beste Schutz gegen die radikalen Vereinfachungen des neuen Populismus.

aus:  Martin Schulze Wessel, Der Angriff des Populismus auf die Geschichte, Weshalb ein kritisches Geschichtsbewusstsein für die Demokratie unerlässlich ist. Konrad -Adenauer-Stiftung, Juni 2017, Ausgabe 256.  Prof. Schulze Wessel leitet den Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

„Digitale Bildung“: Big Brother is teaching you!

Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?

Ein Vortrag bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Kreisverband Böblingen, zu den Bestrebungen von Google, Apple, Microsoft, Bertelsmann und der Telekom, die Bildung in die Hand zu bekommen. Und warum fast keiner diese Unterwanderung bemerkt.

Peter Hensinger, Pädagoge

Wir hatten schon viele Schulreformen, und nun wird von der Kultusministerkonferenz eine weitere angekündigt, die „Digitale Bildung“: Unterricht mit digitalen Medien wie Smartphone und Tablet-PC über WLAN.1 […]

Die Hauptinitiative der Digitalisierung der Bildung kommt von der IT-Branche. Im Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ steht, wer das Bundeswissenschaftsministerium berät – nämlich Akteure der IT-Wirtschaft: Vom Bitkom, der Gesellschaft für Informatik (GI) über Microsoft, SAP bis zur Telekom sind alle vertreten (BUNDESMINISTERIUM 2016:23). Nicht vertreten dagegen sind Kinderärzte, Pädagogen, Lernpsychologen oder Neurowissenschaftler, die sich mit den Folgen der Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Die New York Times schlägt in einer Analyse Alarm: „How Google Took Over the Classroom“  (13.05.2017).2 Mit ausgeklügelten Methoden, den Hype um digitale Medien nutzend, greift Google nach der Kontrolle des US-Bildungswesens, auch der Kontrolle über die Inhalte.
[siehe auch: SZ, 16.06.2017, Google drängt in die Klassenzimmer]

Wer bei der Analyse und Bewertung dieser Entwicklung nur fragt „Nützen digitale Medien im Unterricht?“, verengt den Blick, reduziert auf Methodik und Didaktik und schließt Gesamtzusammenhänge aus. Denn die digitalen Medien sind mehr als nur Unterrichts-Hilfsmittel. Diesen Tunnelblick weitet die IT-Unternehmerin Yvonne Hofstetter. Sie schreibt in ihrem Buch „Das Ende der Demokratie“: „Mit der Digitalisierung verwandeln wir unser Leben, privat wie beruflich, in einen Riesencomputer. Alles wird gemessen, gespeichert, analysiert und prognostiziert, um es anschließend zu steuern und zu optimieren“ (HOFSTETTER 2016:37). […]

Geplant ist, das Schulbuch durch Smartphones oder TabletPCs zu ersetzen. Damit geben wir jedem Schüler eine Superwanze: „Smartphones sind Messgeräte, mit denen man auch telefonieren kann … Dabei entstehen riesige Datenmengen, die dem, der sie analysiert, nicht nur Rückschlüsse auf jedes Individuum erlauben, sondern auch auf die Gesellschaft als Ganzes“ (HOFSTETTER 2016:26). Diese Geräte heben die grundgesetzlich geschützte Privatsphäre auf, sie ist aber ein Garant für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung.3 […]

Die persönlichen Daten aus Facebook, Google und Twitter sind das Gold des 21. Jahrhunderts, v.a. für die Weckung von Konsumbedürfnissen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert deshalb die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Daten, er schreibt, das Ziel von BigData sei es, über den „direkten Kundenzugang … die Kontrolle über die Kundenschnittstelle (zu) gewinnen”. „Ein derartiges Agentenmodell [!!!] gewinnt an Bedeutung, da empirisches Wissen über den Kunden und seine Bedürfnisse von enormem Wert ist” (RB & BDI 2015: 8). Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Industrie Smartphones und TabletPCs in KiTas und Schulen etablieren will. Sie ermöglichen die Datenerfassung bereits dort, wo die Kunden der Gegenwart und Zukunft sozialisiert werden: „Die Schulen werden faktisch zu Keimzellen eines Big-Data Ökosystems“, heißt es in einem BigData Befürworter-Buch (MAYER-SCHÖNBERGER 2014:52). Heute schon ist die Überwachung der Verhaltens-, Kommunikations-, Lern- und Entwicklungsdaten und der Handel mit den digitalen Zwillingen ein Milliardengeschäft.5 […]

Führt der Einsatz von digitalen Medien zu besserem Lernen?

Konnte inzwischen mit Vergleichsstudien belegt werden, dass digitale Medien zu besseren Lernerfolgen führen als die bisherige „analoge“ Erziehung? Nein, im Gegenteil. Dazu verweise ich auf die Beiträge auf der Anhörung im hessischen Landtag am 14. Oktober 2016 zum Thema „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“. Die dort vortragenden Experten Burchardt, Lankau und Spitzer weisen nach, dass alle bisherigen Untersuchungen ergaben, dass der Einsatz der digitalen Medien nicht zu besserem Lernen führt. (BURCHARDT 2016, LANKAU 2016, SPITZER 2016). Dazu vier Beispiele: […]

Fußnoten und Literaturhinweise sowie weitere Artikel des Referenten siehe Vortragsskript.

Zum Vortrag:  Peter Hensinger, Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer? Diskussionsveranstaltung beim Kreisverband der GEW, Kreisverband Böblingen, am 21.06.2017.


Der Leiter der Telekom-Studie „Schule digital. Der Länderindikator 2015“, Wilfried Bos (Institut f. Schulentwicklung IFS, TU Dortmund), weist auf den fehlenden Nutzen von Digitaltechnik für bessere Unterrichtsergebnisse hin:

„Die Sonderauswertung hat auch gezeigt, dass Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an.“ (S. 8)

Zitiert wird die PISA-Sonderauswertung über „Students, Computers and Learning“. Die laut Bos daraus folgende Konsequenz – noch mehr Digitaltechnik für die Schulen, noch mehr Schulungen der Lehrerinnen und Lehrer durch IT-Anbieter und verpflichtende Direktiven der Rektorate an die Lehrerkollegien, dass Digitaltechnik im Unterricht verpflichtend eingesetzt werden müsse – dürfte eher dem Auftraggeber der Studie (die Telekom ist ein Anbieter technischer Infrastruktur und digitaler Dienstleistungen) denn pädagogischer Notwendigkeit geschuldet sein. Auffällig ist, dass weder nach Altersstufen noch nach Fachinhalten, nicht nach Schulformen oder Unterrichtsmethoden unterschieden wird. Digitaltechnik und die Beschulung durch Software scheint selbst dann Allheilmittel zu sein, wenn OECD-Studien das Gegenteil belegen.

aus:  Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Digitalisierung und schulische Bildung, Anhörung durch die Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“, Thema „Digitalisierung“, S. 4f (14. Oktober 2016)

weitere Publikationen zu „Digitalisierung und schulische Bildung“ unter: http://lankau.de/category/publikationen/vortraege/

siehe auch:  Bündnis für HUMANE BILDUNG, DigitalPakt Schule der Kultusminister: Irrweg der Bildungspolitik


[…] Die Diskussion um die „Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft“ oder die „digitale Bildungsrevolution“ entbehrt eines wesentlichen Fundaments, nämlich eines rational gebildeten Begriffs von Bildung, ohne den man der sich abzeichnenden Entwicklung und auch dahinter stehenden Interessen in vielfacher Hinsicht hilflos ausgeliefert ist. Die vollmundigen Versprechungen stehen auf tönernen Füßen, es gibt keine empirischen Belege für die in Aussicht gestellten positiven Effekte im Bildungswesen. Die zunehmende Technisierung unterrichtlicher Prozesse droht auf fundamentale und genuine Aufgaben von Schule und Unterricht gegenläufig zu den Verheißungen destruktive Wirkungen zu entfalten, indem sie deren konstitutive Elemente zurückdrängt und beschneidet: Schule und Unterricht als Orte des Miteinanders, der vielfältigen sozialen Interaktion, einer gelebten Solidarität, unterschiedlichster Lehr-Lern- und Sozialformen, des Ausfechtens von Konflikten und Sich-Abarbeitens am Gegenüber, der Freude am (besseren) Argument und der Sache und des gemeinsamen Fortschreitens im Erkennen. Insofern erweist sich der digitale Wandel als dialektischer Transformationsprozess. Es drohen umzuschlagen: selbstbestimmtes Lernen in Fremdsteuerung, Transparenz in Überwachung, Emanzipation durch Zugang zu Informationen in Abhängigkeit von intransparenten, technokratischen Strukturen mit autoritären Zügen, Bildungsgerechtigkeit in kontingenten Zugang zu „analogen“ Bildungsgütern, Fortschritt in Rückwärtsgewandtheit, Wissenschaft in Fixierung des Intellekts auf das Bestehende. […]

aus: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, Dr. Burkard Chwalek, erschienen in: Beruflicher Bildungsweg – bbw, 7 + 8/2017, S. 6-10

„Entqualifizierung des Lehrerberufs auf hohem Niveau“

„Berliner Pädagogenmangel“ oder „Das letzte Aufgebot“

Jetzt lernen Nachwuchslehrer bei Anfängern

TSP, 17.07.2017, Susanne Vieth-Entus
Eine neue Facette des Lehrermangels in Berlin: Die ersten Seminare für Referendare werden jetzt von Berufseinsteigern geleitet. „In wenigen Ausnahmefällen wurden auch Lehrkräfte [als Fachseminarleiter] beauftragt, die aufgrund ihrer fachlichen Eignung weniger als zwei Jahre im Schuldienst tätig sind“, erläuterte Beate Stoffers, die Sprecherin von Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD). Dies betreffe allerdings nur etwa zehn von derzeit über 700 Fachseminarleitungen.

Eine solide Ausbildung fehlt

Schulen und Pädagogen sind über diese abermalige Absenkung der Ansprüche entsetzt. Denn die besagten Seminare sind eigentlich dazu da, bei den frischen Absolventen des Lehramtsstudiums die große Lücke zwischen Studium und Schulpraxis zu schließen. Zudem sitzen dort hunderte von beruflichen Quereinsteigern, die von Pädagogik, Lernprozessen und Didaktik noch nie etwas gehört haben. Die Folge ist, dass sich in den Seminaren immer mehr Teilnehmer einfinden, die von Schule und Unterricht nur wenig Ahnung haben. (…)

Bei den Neueinstellungen hatte jeder dritte Lehrer im Grundschulbereich kein Lehrerexamen[!].

Der Lehrer und Fachseminarleiter für Geschichte, Robert Rauh, zur Herabsetzung der bisherigen Berufspraxis von Fachseminarleitern: „Wenn diese Voraussetzung [mindestens fünf Jahre Berufspraxis] aufgrund von Personalnot Makulatur wird, dann setzt sich die seit Jahren um sich greifende Entqualifizierung des Lehrerberufes in Berlin fort – jetzt nur auf höherem Niveau. (…)

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

zum Artikel: TSP, 17.07.2017, Susanne Vieth-Entus, Das letzte Aufgebot – Jetzt lernen Nachwuchslehrer bei Anfängern