Inklusive Missverständnisse

Inklusions-Debatte – Inklusive Missverständnisse

Süddeutsche Zeitung, Bildung, 26.01.2015, Gastbeitrag von Otto Speck

Das vom Deutschen Bundestag im Dezember 2008 verabschiedete „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ hat einen harten, emotional aufgeladenen, öffentlichen Streit ausgelöst. Er verunsichert Eltern und Lehrer, gefährdet das Wohl von Schulkindern mit Behinderungen und spaltet die Schulsysteme der Länder. Die Ursache liegt nicht im Inhalt der von den Vereinten Nationen beschlossenen Konvention, also nicht in einer Ablehnung des dort verankerten Prinzips schulischer Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern, sondern in einer fatalen Umdeutung dieser Intention im Deutschen Bundestag: Wie aus den Bundestagsprotokollen hervorgeht, gingen alle Fraktionen davon aus, dass „Inklusion“ mit der vollständigen Abschaffung des Förderschulsystems gleichzusetzen sei. Vom „Ende jeglicher Sondersysteme und Sonderbehandlungen“ war die Rede. Merkwürdigerweise lässt sich in der UN-Richtlinie keine Belegstelle finden, aus der eine solche Radikallösung abzuleiten gewesen wäre. (…)
Eine Klarstellung in dieser politischen und ideologischen Spannung wird durch einen Blick in den Text der UN-Vorgabe möglich. Hier lautet die Grundforderung: Die Vertragspartner hätten sicherzustellen, dass kein Kind vom „general education system“, also vom allgemeinen Schulsystem, ausgeschlossen wird. Diese Zielvorstellung geht primär auf die Tatsache zurück, dass weltweit immer noch etwa 25 Millionen Kinder mit Behinderungen im Primärschulalter überhaupt keine Schule besuchen können, wie die deutsche Unesco-Kommission im Jahr 2009 feststellte. „Inklusives“ Bildungssystem bedeutet demnach, es muss alle Kinder, also auch Kinder mit Behinderungen in besonderen Einrichtungen einbeziehen. (…)

zum Artikel:  Süddeutsche Zeitung, Bildung, 26.01.2015, Gastbeitrag von Otto Speck, Inklusions-Debatte, Inklusive Missverständnisse

Der Autor ist emeritierter Professor für Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Jahr 2011 erschien sein Buch „Schulische Inklusion – Rhetorik und Realität“ in der zweiten Auflage.


Zur weiteren Information:
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung

Bei den Texten handelt es sich um die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Liechtenstein, des englischen Originaldokuments in deutsche Sprache, es sind also offizielle Dokumente mit Rechtscharakter.

Artikel 24  Bildung
1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel (…)
2a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden; (…)

Article 24  Education
(1) States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and lifelong learning directed to: (…)
2a) Persons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of
disability, and that children with disabilities are not excluded from free and compulsory primary
education, or from secondary education, on the basis of disability; (…)

zum Artikel:  Bundesministerium für Arbeit und Soziales, PDF-Datei unter Publikationen,  Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung

siehe dazu auch:
Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung und das Modewort „Inklusion“.
Weshalb sich aus der „UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ nicht die Forderung nach einer Schließung der Sonder- und Förderschulen in Deutschland ableiten lässt.
zum Artikel:  PM, Dr. Walter_Scheuerl_MdHB_Inklusion_Verletzung_Rabe_UN-BRK_Gericht

 

NachDenken zur Inklusion

Datum:  16.01.2015
Wie man öffentlich über „Inklusion“ spricht (und was man daraus schließen kann)
Klemens Knobloch in NachDenkSeiten

Die medienöffentliche Debatte kommt in Fahrt.
Die (ehemalige) Wissenschaftsministerin von Schleswig Holstein, Waltraud Wende, sprach von den Sonderschulen ihres Landes als „Einrichtungen mit kränkenden, belastenden, beschämenden, erniedrigenden Wirkungen, mit Stigmatisierungen“ (FAZ vom 12.04.2014).

Damit die Förderschulen moralisch einwandfrei entsorgt werden können, müssen sie zunächst von den Staatsakteuren, die für ihren Zustand politisch verantwortlich sind, medienöffentlich schlecht geredet werden.

„Die Nachricht ist klar und deutlich: Professionelle Sonderschulen sind schädlich für förderbedürftige Kinder, die allgemeine Schule macht frei. Und was die Lehrkräfte an den Sonderschulen tun, ist moralisch fragwürdig, weil eben: Exklusion.“

Die Forderung ist die Zerschlagung der spezialisierten und professionellen Fördereinrichtungen, der bisherigen Sonderschulen, und die Eingliederung von Kinden mit allen Arten von Lernbehinderung, von Blinden und Gehörlosen über Autisten, ADHS-Kinder bis hin zu psychisch und sozial auffälligen Kindern in die Regelklassen und Regelschulen.
„Inklusion verspricht die Normalisierung der Bildungschancen für förderbedürftige Kinder – nätürlich ein moralisch achtenswertes Ziel! – Tatsächlich importiert sie aber massive Denormalisierungsrisiken in das öffentliche Bildungssystem und trägt zu dessen heimlicher und stillschweigender Delegitimisierung bei. Politisch fatal ist der Umstand, dass auf dem Rücken (förderbedürftiger und anderer) Schulkinder ein handfester politischer Konflikt über den Standort des öffentlichen Schulwesens ausgetragen wird.“

zum Artikel:  NachDenkSeiten, Soziale Gerechtigkeit, 16.01.2015, Clemens Knobloch, Wie man öffentlich über „Inklusion“ spricht (und was man daraus schließen kann)


siehe auch folgende Artikel:

Inklusionsdebatte – Eine unglaubliche Gleichmacherei

Warum werden Wesensmerkmale wie Behinderung, Begabung oder sexuelle Identität wegdiskutiert? Das Neueste aus dem Paradiesgärtlein der Inklusion.


Bildungspolitik – Grenzen der Inklusion

Wer behinderte Kinder wirklich ernst nimmt, darf sie nicht leichtfertig zum Scheitern im Schulalltag verdammen, sondern muss erreichbare Ziele in jedem einzelnen Fall definieren. Doch das wollen die radikalen Befürworter der Inklusion nicht wahrhaben.

zum Artikel:  FAZ, Politik, 20.05.2014, Heike Schmoll, Bildungspolitik – Grenzen der Inklusion


Schule – Die Illusion mit der Inklusion

Es ist ein hehres Ideal: Kinder mit und solche ohne Behinderung sollen gemeinsam unterrichtet werden. Doch Lehrer und andere Fachleute sagen: Das hilft keinem der Schüler wirklich

Eingriffe in das staatliche Bildungssystem

Datum:  03.02.2015
Die heimliche Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens
von Renate Caesar

Seit Jahren wehren sich Menschen in vielen europäischen Ländern gegen die immer stürmischer anrollenden Wellen von Schulreformen, die nicht jeweils notwendige Erneuerungen in Teilbereichen beabsichtigen, sondern tief in das jeweilige Bildungssystem eingreifen, um Strukturen, Inhalte, Ziele, mit einem Wort: einfach alles umzustürzen. (Beispiele Lehrplan 21, Schweiz, Bildungsplanreform 2015, Baden-Württemberg).
Der Widerstand, der sich formiert, wird nicht nur von Lehrern und Eltern getragen, sondern auch zunehmend von Wissenschaftlern, Historikern, Literatur- und Sprachwissenschaftlern und Lehrplanforschern. Was alle eint in ihrer Kritik, ist die Tatsache, dass die angestrebten – und zum Teil leider schon umgesetzten – Veränderungen keinerlei pädagogischen, didaktischen oder wissenschaftlichen Sinn ergeben. Wie soll sich zum Beispiel das Lernen einer Fremdsprache verbessern, wenn das Sprachlernen, die «kommunikative Kompetenz», von der alle diese Reformen gern reden, in Hunderte von Einzelkompetenzen aufgeteilt ist, die der Schüler abarbeiten soll und den Lernerfolg dann in abzuhakenden Tests beweisen soll? (siehe Entwurf des Bildungsplans Englisch für die Förderstufe in Baden-Württemberg) Sprachlernen ist ja ein organisches Ganzes, der Schüler muss mit einem sprachkundigen Gegenüber zum Beispiel eine Frage hören, den Zusammenhang verstehen, die Bedeutung aufnehmen, passende Wörter suchen, antworten usw. Oder wie soll ein mündiger Staatsbürger heranwachsen, wenn er keinen systematisch aufbauenden Geschichtsunterricht mehr erhält, sondern nur noch beispielhaft «Machtverhältnisse», vielleicht in der Antike oder im Mittelalter, «erkennen, verstehen und beurteilen» soll ohne solides Grundlagenwissen.

zum Artikel:  Zeit-Fragen, Nr. 3/4, 3.02.2015, Renate Caesar, Die heimliche Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens

Messlatte für Bildungsziele zu hoch

Datum: 07.01.2015
DGB-Bilanz nach dem Bildungsgipfel
Die Bildungsrepublik verfehlt ihre Ziele

Vor gut sechs Jahren – im Oktober 2008 – riefen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder die Bildungsrepublik Deutschland aus:
– Die hohen Quoten der jungen Menschen ohne Schul- und ohne Berufsabschluss sollten halbiert werden.
– Für 35 % der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, müsse ein Krippenplatz bereit stehen, um den Rechtsanspruch abzusichern.
– Mehr Menschen sollten sich weiterbilden oder ein Studium aufnehmen.
– Die Ausgaben für Bildung und Forschung sollten auf 10 % des Bruttoinlandprodukts steigen.
Was ist aus den Dresdner Versprechen geworden?
Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt (Studie, siehe TSP-Artikel): Die soziale Schieflage bleibt die Achillesferse unseres Bildungssystems. Die Zahl der jungen Menschen ohne Schul- und Berufsabschluss bleibt bedrückend hoch. Die angestrebte Halbierung der Quote der Absolvent/innen allgemein bildender Schulen ohne Hauptschulabschluss auf 4,0 % ist nicht absehbar. Ein Maßnahmebündel, das in diesem Handlungsfeld Erfolge versprechen würde, ist nicht erkennbar.
Die angestrebte Halbierung der Quote junger Erwachsener, die keinen Berufsabschluss erwerben, ist nicht in Sicht: Von 2008 bis 2013 hat sich die entsprechende Quote von 17,2 % auf 13,8 % nur sehr geringfügig verringert.
Der Anteil der Bildungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt ist wieder gesunken. Es besteht kein Anlass, optimistisch in die nähere Zukunft zu blicken.

Zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Wissen, 7.1.2015, Anja Kühne und Tilmann Warnecke, Die Bildungsrepublick verfehlt ihre Ziele

Optimierung des Humankapitals

Datum:   14.12.2014
Bestnoten für den Bildungswahnsinn

Angst und Panik greifen um sich, weil bei Emilia im Sommer der Schulwechsel ansteht und zwei Dreien in Sport und Musik den Schnitt versauen… Weil es bei Louis, dem Klügsten, ausgerechnet, plötzlich in Deutsch und Bio nicht rund läuft – zweimal nur Zwei minus, was ist da los? (…)
„Nachhilfe“ ist längst kein Schüler-hilft-Schüler-Instrument mehr zur sporadischen Förderung lernschwächerer Kinder.  „Nachhilfe“ ist heute ein bezahltes, engmaschig geknüpftes Zweitschulsystem.
(…) Es ist bezeichnend, dass einige Bildungspolitiker ausgerechnet jetzt, also den größten anzunehmenden Unsinnsreformen („Bologna“, „Pisa“, „G-8“), die Forderung erheben, man möge doch bitte das Bildungssystem nicht laufend auf Kosten der Kinder reformieren. (…)

zum Artikel:   Wirtschaftswoche, 14.12.2014, Dieter Schnaas, Bestnoten für den Bildungswahnsinn

Bildungsstudien ohne Ende

Datum: 21.12.2014
Bildungswissenschaften
Studien ohne Ende

Bürger und Politiker haben den Überblick über die Schulforschung verloren. Höchste Zeit, die Daten zu ordnen.
In kleinen Klassen lernen Schüler nicht mehr als in großen – dennoch ziehen Politiker mit der Losung der Klassenverkleinerung regelmäßig in den Wahlkampf. Lehrerfortbildungen, die nicht in der eigenen Schule stattfinden, sind meist wirkungslos – werden aber dauernd angeboten. Ob Schüler zwölf oder dreizehn Jahre bis zum Abitur brauchen, ist für den Lernerfolg ziemlich unerheblich.
In kurzer Zeit hat sich die Zahl der empirisch arbeitenden Bildungsforscher an den Universitäten vervielfacht. Aber welchen Nutzen ziehen die Lehrer, Eltern und Erzieher aus alledem? Wie kann die Wissenschaft die Politik erhellen, ja vielleicht sogar die Erfolgswahrscheinlichkeit von Bildungsreformen erhöhen? Anders formuliert: „Was bringen die ganzen Studien eigentlich? Die einen Wissenschaftler ziehen daraus diese Schlussfolgerungen, die anderen jene. Was soll ich denn da glauben?“ So fragte geradeheraus Hamburgs Schulsenator Ties Rabe vor einem Jahr bei einem Fachgespräch der Kultusministerkonferenz.

zum Artikel:  Zeit-online, Schule, 21.12.2014, Martin Spewak, Studien ohne Ende