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Lernerfolgsfaktoren

Pädagogische Beziehung – Der Geheimcode für Lernerfolg

Trotz medialer Digitalisierung bleiben Lehren und Lernen analoge Prozesse. Die Unterrichtsforschung lenkt aktuell den Blick auf den unterschätzten Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung. Ihre Qualität gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung – und an ihr lässt sich arbeiten.

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe nebenstehende Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.

Die Digitalisierung der Schule ist in aller Munde. Nichts, was sich dadurch nicht bessern soll: die Leistungen der Schüler, ihre Motivation, vielleicht gar die Bildungsgerechtigkeit. So schwärmte ein Didaktiker kürzlich davon, dass Tablet und Internet nicht lediglich neue Werkzeuge seien. Der wahre Mehrwert digitaler Medien bestehe keineswegs darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern vielmehr „völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen“. Die heraufziehende „Kultur der Digitalität“ tauche „die gesamte Gesellschaft in eine neue Denk-Nährlösung, in der auch solche Begriffe wie „Lernen“ und „Wissen“ neue Bedeutungen erhalten“.
Klingt schier überwältigend – aber stimmt eigentlich, was so einnehmend daherkommt? Steht mit der Digitalisierung wirklich eine Bildungsrevolution ins Haus? Wird man schulisches Lernen in 10 Jahren allen Ernstes nicht mehr wiedererkennen? Hellsehen kann sicher niemand – man wird beobachten müssen, wie sich die Dinge entwickeln. Der aktuelle Forschungsstand weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Digitale Lerneffekte auf dem Prüfstand

So besagt die XXL-Metastudie „Visible Learning“ des Neuseeländers John Hattie (2009/2017): Im Vergleich zur durchschnittlichen Lernprogression von Schülern (Effektstärke 0,4) bleiben die Lerneffekte durch Digitalisierung (mit Ausnahmen) leicht unterdurchschnittlich. Nicht Medien und Ressourcen sind entscheidend, sondern der Aktivierungsgrad der Schüler und die Lehrerimpulse zu gründlicher Stoffdurchdringung. Ob etwa jeder Schüler einen eigenen Laptop hat, ist relativ unbedeutend (0,16); wenn jedoch interaktive Lernvideos den Unterricht ergänzen, kann dies recht hilfreich sein (0,54). Auch im naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es anscheinend Wichtigeres als IT-Einsatz (0,23), während sich bei besonderen Förderbedarfen digitale Hilfsmittel als förderlich erweisen (0,57).

Das lässt zumindest vermuten: Der analoge (weil anthropologisch bedingte) Flaschenhals beim Lernen lässt sich weder umgehen noch ignorieren; durch ihn muss zunächst hindurch, wer in der Welt halbwegs mündig ankommen will, auch in der zunehmend digitalisierten. Deshalb titelte ja der Medienwissenschaftler Ralf Lankau: „Kein Mensch lernt digital“. Das Potential des neuen Handwerkszeugs für die Schule ist dabei unbestritten. Üben und Anwenden können für Schüler reichhaltiger und individueller werden, Einsichten lassen sich vielfältiger vertiefen, es gibt mehr Möglichkeiten für Feedback und Kollaboration. Ein vollkommen anderes, etwa selbstgesteuertes Erarbeiten neuer Zusammenhänge aber ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil: Das pädagogische Mantra der Eigenverantwortlichkeit hat im Licht der Empirie arg an Ansehen verloren.

Pädagogische Beziehung – altmodisch oder neuer Hit?

Dagegen lenkt Hatties riesige Datenbasis über Lehr-Lern-Effekte den Blick auf etwas gerne Unterschätztes: „Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern.“ Oder wie der Neurowissenschaftler Joachim Bauer so formuliert hat: „Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins.“ Als Kurzformel für die Schule: Unterricht ist vor allem Beziehungssache!

Es hängt nämlich ungemein stark vom Beziehungsklima der Lehrkraft ab, ob ich mich als Schüler auch an schwierige Sachverhalte herantraue oder aber vorzeitig aufgebe, ob ich mich auch mit lästigen Themen beschäftigen mag, ob ich meine Müdigkeit oder den Ärger mit meinen Tischnachbarn vorübergehend vergessen kann.

Umgekehrt beeinflussen Menschenbild und Kontaktfreudigkeit der Lehrkraft auch die eigene Berufszufriedenheit. Ob man immer wieder mit den verschiedensten Schüler gut zurechtkommt, ob Unterrichten einem auch nach Jahrzehnten noch Freude macht – das hängt stark davon ab, ob man junge Menschen in all‘ ihrer Unfertigkeit und Wildheit grundsätzlich mag (auch und gerade die „Schwierigen“); ob man sich für sie individuell interessiert und in sie hineinversetzen kann; ob man Lerngruppen gelassen und sicher zu führen vermag, auch durch schwierige Themen und turbulente Situationen.Potsdamer Lehrerstudie 2005

Lehrer-Schüler-Beziehung – was ist das eigentlich?

Pädagogische Beziehung ist also ein Geheimcode für Wirkerfolg wie Berufszufriedenheit, bildet aber in der Lehrerausbildung eine Art Grauzone. Dabei ist Beziehungsqualität weder Schicksal noch etwas Magisches – Lehrkräfte können auch in diesem eher emotionalen Bereich dazulernen. Zwar ist die Lehrer-Schüler-Beziehung imer persönlich geprägt, sie sollte aber zugleich professionellen Charakter haben. Schüler brauchen die Lehrperson als mitmenschliches Gegenüber beim Lernen – sie wollen als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen, unterstützt und geführt werden.

Konkret drückt sich das etwa darin aus, dass man an seinen Schülern interessiert ist und jeden auf seine Art schätzt; dass man Beiträge der Schüler aufgreift und vertiefende Rückfragen stellt; dass man die Stärken und Schwächen einzelner Schüler kennt und entsprechend anerkennen oder ermuntern kann; dass man außerhalb des Unterrichts auch für Persönliches ansprechbar ist; auch, dass man alle Abläufe im Klassengeschehen mitbekommt, eigene Fehler eingestehen kann, möglichst wenig ärgerliche oder abwertende Affekte zeigt. Nicht gemeint ist hingegen, Schülern der quasi „beste Freund“ sein zu wollen.

Das Geheimnis guter Klassenführung

Aber ich hab‘ doch 30 ganz verschiedene Schüler – wie kann ich da zu jedem Einzelnen in Beziehung treten? Und das womöglich sechsmal am Tag? Glücklicherweise haben Lernende gleich welchen Alters etwas Gemeinsames: Sie sind innerlich auf die kompetente Lehrperson ausgerichtet und wollen deren Beachtung und Bestätigung erfahren. Der Lehrer muss nur darum wissen – und seine Rolle als gute Autorität un-ver-schämt spielen. Wenn diese Beziehung stimmt, dann reisst man eine Lerngruppe einfach mit, auch bei Hitze, auch durch öden Stoff. Wirkungsvolles classroom management ist also nichts Technisches, sondern beruht auf einer inneren Haltung des Anführens – sie wirkt in jeder Äußerung, durch jede Entscheidung.

Kann man das denn lernen?

Diese zwischenmenschliche Dimension lässt sich nicht per Rezeptsammlung erwerben, aber im Berufsleben enorm ausbauen. Sie ist indes auch empfindlich, leicht hemmbar, schnell störanfällig. Berufsanfänger sind oft unsicher, ob die Schüler sie ernstnehmen; routinierte Lehrer leiden unter Lehrplanstress. Aber auch persönliche Eigenheiten einer Lehrkraft können stören: Perfektionismus etwa, oder eine allzu distanzierte Art; oder wenn sie um die Anerkennung von Schülern ringt oder Konflikte mit ihnen vermeiden will, sich also führungsscheu verhält.

Generell nimmt man als Lehrerin oder Lehrer Unterrichtsstörungen schnell persönlich: Man denkt dann, diese Schülerin fragt immer so komisch, die kann mich sicher nicht leiden; oder jener Schüler will mir mit seinen dauernden Witzen die Stunde kaputt machen; oder keiner schätzt meine aufwändigen  Vorbereitungen. Und dann wird man schlecht gelaunt – oder schießt gar mit Kanonen auf Spatzen. Tatsächlich möchte das Mädchen vielleicht nur zeigen, welch tolle Gedanken sie sich zum Thema macht; und der Junge könnte von eigenen Verständnisschwierigkeiten ablenken wollen. Alfred Adler, Pionier der pädagogischen Tiefenpsychologie, hat wichtige Anregungen gegeben, wie man Störungen als subjektive Lösungen durchschauen – und ungünstige Energie in nützliche Bahnen lenken kann.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Beitrag aus: https://www.goethe.de/de/spr/mag/21537868.html Das Goethe-Institut e. V. ist eine weltweit tätige Organisation zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland, zur Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und zur Vermittlung eines umfassenden Deutschlandbildes durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben.

Schule im Dienst der Konzerne?

Fortbildung und Ausstattung in privater Hand


René Scheppler

René Scheppler ist Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule. Mit den studierten Fächern Geschichte und Deutsch.

Sie sind ein wahrer Innovator, vertrauensvoller Berater, leidenschaftlicher Fürsprecher, authentischer Autor und weltweit tätiger Botschafter? Sie wollen Ihren Kolleginnen und Kollegen den Weg zu effektiver Technologienutzung ebnen?

Sie wollen dem Konzern Microsoft helfen, im Bereich Innovationen führend zu sein? Sie wollen Ihre Ideen für die effektive Nutzung der Technologie im Bildungsbereich verfechten und mit Kolleginnen und Kollegen und politischen Entscheidungsträgern teilen?

Sie wollen Einblicke in neue Produkte und Tools zur Verfügung stellen und für Innovationen werben?

Dann können Sie sich bei den Firmen Apple und Microsoft für die Teilnahme an konzernexklusiven Fortbildungsprogrammen für Lehrerinnen und Lehrer bewerben und – nach Auswahl durch den Konzern und erfolgreicher Teilnahme – zum Microsoft Innovative Educator Expert, Apple Distin guished Educator oder – wenn Sie sich besonders „bewähren“ – zum Apple Certified Trainer avancieren (1). Auf Apple Distinguished Educators trifft man vereinzelt auch in den regionalenMedienzentren, die Schulen im Auftrag der Kultusministerienund Schulträger im Bereich Digitalisierung beraten.

Bild: HLZ 1-2/2019, S. 15, Rene‘ Scheppler

Mit diesen Zertifikaten dürfen Sie dann – als Nebentätigkeit – im Dienst der Konzerne Vorträge halten, Fortbildungen anbieten und Schulen beraten – auch wenn „das Führen eines solchen Titels“ nach einer Auskunft des Hessischen Kultusministeriums nach Vorschriften „in § 58 Abs. 2 HBG sowie in § 3 Abs. 15 HSchG nicht gestattet“ ist (2). Dass sich allerdings eine ganze hessische Schule mit dem Titel einer Samsung Lighthouse School schmücken darf, verwundert dann doch. Aber dazu später mehr…

Microsoft Showcase School…

Auch eine andere Entwicklung ist aus den USA inzwischen in Deutschland angekommen, wie die folgende Erfolgsbilanz von Microsoft zur „Übernahme“ ganzer Schulen dokumentiert:

„Für das Schuljahr 2016/2017 hat Microsoft weltweit 4.800 Lehrende und 851 Schulen aus über 100 Ländern nominiert, darunter sind 175 Lehrerinnen und Lehrer sowie 26 Schulen aus Deutschland. Das Gesamtbudget von Microsoft für die weltweite Bildungsinitiative beläuft sich auf 750 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von 15 Jahren (2003 bis 2018).“ (2)

Als Microsoft Showcase School können sich jedoch nur die Schulen bewerben, „die bereits Microsoft Lösungen wie Surface-Tablets, Office 365 Education, Office Mix, OneNote, Skype oder Minecraft“ nutzen. In Hannover gibt es inzwischen die erste staatliche Schule, die sich als Apple Distinguished School bezeichnen kann. Aber auch diese Auszeichnung erfolgt nicht, ohne dass die folgenden von Apple festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind:

„Ein One-to-One Programm mit iPad oder Mac für Schüler und Lehrer ist seit mehr als zwei akademischen Jahren eingerichtet. Alle Schüler an Ihrer Schule nutzen Apple Geräte als primäres Lerngerät. Alle Lehrer an der Schule nutzen Apple Geräte als primäres Unterrichtsgerät. Lehrkräfte integrieren Apple Apps zur Erstellung von Inhalten (Fotos, iMovie, GarageBand, Pages, Keynote, Numbers und iBooks Author), Lernapps aus dem App Store, Bücher aus dem iBooks Store und Lernmaterialien aus iTunes U intensiv in den Lehrplan. Lehrer verfügen über eine hohe Kompetenz beim Verwenden von Apple Produkten. Für Schulen der Primar- und Sekundarstufe in Deutschland müssen vor Ablauf der Bewerbungsfrist 75 Prozent der Lehrer an der Schule als Apple Teacher anerkannt sein.“ (2)

… und die Samsung Lighthouse School

Im südhessischen Rüsselsheim gibt es die erste und bisher einzige deutsche Samsung Lighthouse School, auf die der Kreis Groß-Gerau als Schulträger des Neuen Gymnasiums und Landrat Thomas Will (SPD) besonders stolz sind. „Wir haben viele Leuchttürme im Kreis Groß-Gerau, aber dieser leuchtet besonders hell“, erklärte Will bei der Überreichung der Urkunde durch die Vertreter von Samsung im September 2015.

Deutlich weniger begeistert zeigte sich Landrat Will von einer Anfrage des Autors dieses Artikels, ob er denn bereit sei, den Inhalt und das konkrete Ausmaß der „Kooperation“ transparent zu machen. Der Vertrag sei schließlich nicht vom Schulträger unterzeichnet worden und er sei als Landrat nur bei der Unterzeichnung anwesend gewesen. Auch das Hessische Kultusministerium erklärte sich für nicht zuständig:

„Da die erbetenen Informationen dem Hessischen Kultusministerium nicht vorliegen, kann Ihrem Antrag nicht entsprochen werden.“ (2)

Die Schulleitung des Neuen Gymnasiums verwies auf „ein schutzwürdiges Interesse (…) der Firma Samsung“, die „die entsprechende Information bereits verweigert hat“. Hierzu muss man wissen, dass auch das Land Hessen seit Mai 2018 ein „Informationsfreiheitsgesetz“ hat. Nach § 80 hat jede Bürgerin und jeder Bürger gegenüber Behörden und öffentlichen Dienststellen einen „Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen“, womit „alle amtlichen Zwecken dienenden Aufzeichnungen, unabhängig von der Art ihrer Speicherung“ gemeint sind.

Nach den zugänglichen Zeitungsberichten und Informationen auf der Homepage der Schule finanziert Samsung als Sponsor der Schule die Einrichtung einer „Tablet-Oberstufe“, wobei die Samsung-Tablets „zu einem reduzierten Preis“ in das Eigentum der Schülerinnen und Schüler übergehen.

Auch andere Elemente der Kooperation sind prototypisch:
• Eine wissenschaftliche Begleitung – in diesem Fall durch den Medienpädagogen Professor Dr. Stefan Aufenanger – sorgt für die nötige Seriosität.

• Als Ausdruck der „Gemeinnützigkeit“ dient die Einbettung entsprechender Kooperationen in Wettbewerbe oder gemeinnützige Stiftungen. In diesem Fall fand die Verleihung der Urkunde an das Neue Gymnasium „im Rahmen der Prämierung des Wettbewerbs IDEEN BEWEGEN der von der Samsung Electronics GmbH geförderten Initiative DIGITALE BILDUNG NEU DENKEN“ statt (3).

„In ihrer Offenheit schon fast putzig…“

In anderen Bundesländern sieht man entsprechende Kooperationen offensichtlich distanzierter. Wolf-Jürgen Karle vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft des Landes Rheinland-Pfalz, der das Ansinnen der IT-Konzerne in einem Artikel der WELT 2013 „in ihrer Offenherzigkeit“ als „schon fast putzig“ (4) bezeichnete, verwies auf die Dienstpflichten der Lehrkräfte:

„Für Lehrkräfte im Beamten- wie im Beschäftigtenverhältnis gilt das Neutralitätsgebot. Jede einseitige Unterrichtung und Information ist unzulässig.“

Lehrkräfte, die sich für den bevorzugten oder ausschließlichen Einsatz von Apple-Geräten im Klassenzimmer einsetzten, verstießen „gegen geltendes Recht in Rheinland-Pfalz“.

Das niedersächsische Kultusministerium erklärte auf dieselbe Anfrage der WELT, dass die von Apple angebotenen „Fortbildungsreisen“ gegen die Antikorruptionsrichtlinien verstoßen, „die für alle beim Land beschäftigten Lehrkräfte gelten“.

Und was soll daran schlimm sein?

„Das ist doch weltfremd.“ Mit diesen Worten und dem Hinweis auf das Auslaufen der Kooperationsvereinbarung im Sommer 2018 kommentierte der stellvertretende Schulleiter des Neuen Gymnasiums eine Anfrage der FAZ zur Pressemitteilung der GEW (5). Den „Mehrwert“ aus der Kooperation „möchte man nicht mehr missen“. Und so sehen das mit Sicherheit auch viele Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und Eltern der Schule. Also: Wo ist hier die Gefahr?

In dem Maße, in dem der Staat seine Aufgaben im Rahmen der Lehreraus- und -fortbildung vernachlässigt und sogar an Konzerne mit erkennbaren und formulierten Eigeninteressen zu Gunsten der eigenen Produkte abgibt, verliert er die eigene Expertise in diesem Bereich.

In zahlreichen Bundesländern kann man dies bereits an der erschreckend geringen Zahl von Fortbildungsangeboten staatlicherseits ablesen. So werden beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern wichtige Zukunftsthemen in der digitalen Welt in produktexklusive Fortbildungen ausgelagert.

Werbung in Schulen ist in Hessen ausdrücklich verboten, doch der (neue) § 3 Abs.15 des Hessischen Schulgesetzes zeigt, wo es langgehen kann:

„Schulen dürfen zur Erfüllung ihrer Aufgaben Zuwendungen von Dritten entgegennehmen und auf deren Leistungen in geeigneter Weise hinweisen (Sponsoring), wenn die damit verbundene Werbewirkung begrenzt und überschaubar ist, deutlich hinter den schulischen Nutzen zurücktritt und das Sponsoring mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule vereinbar ist. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter.“

Der Staat vernachlässigt seine Aufgaben

Offensichtlich – und eine andere Lesart ist kaum möglich – ist der Staat nicht mehr in der Lage, den ihm hoheitlich aufgetragenen Verpflichtungen zur vollumfänglichen Finanzierung von Schulen nachzukommen. Auch im Bereich der Lehreraus- und -fortbildung ist man offenbar nicht mehr in der Lage, der Versuchung zu widerstehen, Dritten Zugänge zu gewähren, so dass der Eindruck der Abhängigkeit immer deutlicher wird.

Das Argument, dass sich „die Konzerne nun mal am besten mit der Technik und den eigenen Produkten auskennen“, ist zugleich ein Affront gegenüber den Medienzentren, die trotz viel zu geringer Ausstattung gute Arbeit leisten. Wer sich an derartige Strukturen gewöhnt hat, wird mittelfristig nicht mehr in der Lage sein, sich daraus aus eigener Kraft zu befreien und unabhängig seinen ursprünglichen Aufgaben nachzukommen.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir uns die Frage stellen müssen, wie wir uns aus dieser „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wieder befreien können. Um eine Generation zu erziehen, die den Mut hat, „sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen“, scheint die Etablierung von Apple Distinguished Schools, Microsoft Showcase Schools und Samsung Lighthouse Schools nicht der vielversprechendste Ansatz zu sein.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Artikel in PDF-Format und Website des Autors „BildungsRadar“

„Welche Bildung wollen wir für unsere Kinder?“

5 Fragen – 5 Antworten – mit Prof. Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler, seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

wissensschule.de, SCHULE_DIGITAL: Ganz gleich ob Computer, Tablet oder Smartphone, Kinder kommen heutzutage immer früher direkt oder indirekt mit digitalen Medien in Kontakt. Viele Eltern fragen sich daher zu Recht: Ist der frühe Umgang mit digitalen Medien schädlich für mein Kind? Wie ist Ihre Antwort auf diese Frage?

Klaus Zierer: Pauschal lässt sich auf diese Frage nur schwer antworten, da digitaler Medienkonsum nicht gleich digitaler Medienkonsum ist. Wenn ein Kind mit seiner Oma über Skype Kontakt hält, dann ist das ohne Zweifel ein Mehrwert der Digitalisierung – sofern dieser Kontakt nicht dazu führt, dass mögliche Besuche dadurch ersetzt werden, denn nichts ist so wirksam, als wenn sich Menschen in die Augen sehen. Wenn ein Kind alleine in seinem Zimmer bis spät in die Nacht hinein seine Zeit und damit auch seine Gedanken tot schlägt, dann ist das ein Super-GAU. Insofern lohnt es sich für Eltern, genau hinzusehen und abzuwägen. Entscheidend ist dabei die Frage: Warum nutze ich Medien – und was macht das mit mir und meinem Umfeld? Lande ich mit meiner Antwort auf diese Fragen nicht bei den Menschen, dann lohnt es sich innezuhalten: vermutlich befindet man sich auf einem gefährlichen Holzweg.

Sollte digitale Medienbildung bereits in der Grundschule vermittelt werden und wie sollten digitale Medien grundsätzlich in den Unterricht integriert werden?

Medienbildung ist bereits heute ein Thema in der Grundschule und findet sich in allen Lehrplänen wieder. Insofern ist es eine Selbstverständlichkeit, dass digitale Medienbildung in der Grundschule wichtig ist. Ich denke, bis hierher wird es auch großen Konsens geben. Die Kontroversen entstehen bei der Frage, was digitale Medienbildung eigentlich ist und wie diese Medienbildung aussehen soll. Die Forderung beispielsweise, alle Schulbücher und Hefte durch Tablets zu ersetzen, ist eine bildungspolitische Bankrotterklärung und ignoriert wissenschaftliche Erkenntnisse: So konnte selbst bei Digital Natives nachgewiesen werden, dass sie sich Unterrichtsinhalte besser merken können, wenn sie mit Papier und Bleistift mitschreiben als wenn sie sich ihre Notizen mit einem Laptop machen. Und ebenso konnte nachgewiesen werden, dass sie Texte besser verstehen, wenn sie diese auf Papier ausgedruckt lesen und nicht als digitale Fassung. In ähnlicher Weise halte ich die Forderung für überzogen, dass Kinder in der Grundschule programmieren lernen sollen. Die Frage, die sich stellt, lautet: Warum? So wird sich kaum eine Antwort finden, dass es ein Kind im Hier und Jetzt können muss, und selbst als Erwachsener ist es nicht zwingend. Die Theorie der Halbbildung von Adorno macht das deutlich: Wer von uns weiß denn, wie ein Computer funktioniert? Und wer von uns muss es bis ins kleinste Detail wirklich wissen? Damit zeigt sich, dass im Kern die klassischen Felder einer Medienbildung auch im Zeitalter der Digitalisierung greifen: Medienkunde, Mediennutzung, Mediengestaltung und Medienkritik. All das gehört zusammen und muss vernünftig in die Grundschule integriert werden. Dabei ist aus meiner Sicht wichtig: Wenn wir von den Grundschulen heute mehr verlangen, dann müssen wir an einer anderen Stelle aber auch was herausnehmen. Wir können dem Bildungssystem nicht immer mehr Aufgaben übertragen, sondern müssen auch grundsätzlich diskutieren, welche Aufgaben sind uns wichtig. Oder noch deutlicher: Welche Bildung wollen wir für unsere Kinder? So kommt man aus meiner Sicht zum entscheidenden Leitsatz: Pädagogik vor Technik! Digitale Medien haben dem Menschen zu dienen. Sie sollen Lernprozesse optimieren und Bildungsprozesse ermöglichen.

Bislang konnte keine seriöse Studie belegen, dass Kinder alleine durch Mediennutzung negativ beeinflusst werden. Voraussetzung für positive Medienerlebnisse ist, dass Medien hinsichtlich Inhalt, Format und Dauer dem Alter angemessen gebraucht werden. Würden Sie dem beipflichten und was bedeutet für Sie “dem Alter angemessen”?

In diesem Kontext gibt es ein schönes Zitat von Neil Postman: Wer annimmt, Digitalisierung „sei stets ein Freund der Kultur, der ist zu dieser vorgerückten Stunde nichts als töricht.“ Vielleicht müssten wir kurz klären, was „negativ beeinflusst“ bedeutet: Wenn damit gemeint ist, dass Menschen durch Mediennutzung einer suchtähnlichen Gefährdung ausgesetzt sind, dann ist die empirische Beweislast erdrückend. Das ist den Protagonisten im Silicon Valley übrigens bewusst und nicht umsonst sprechen sie von „addictive design“. Ebenso ist die Beweislast erdrückend, wenn damit gemeint ist, dass eine falsche Mediennutzung Lernprozesse erschwert oder sogar Bildungsprozesse unmöglich macht. So gibt es eine Vielzahl an Untersuchungen, die zeigen, dass Mediennutzung negative Effekte auf die Gesundheit von Menschen ebenso wie auf Lesekompetenzen usw. haben kann. Wer täglich mehrere Stunden sinnlos mit dem Smartphone spielt, setzt nicht nur seine Gesundheit, sondern auch sein Lernen und seine Bildung aufs Spiel – und schadet noch dazu dem Ökosystem. Das ist die negative Seite der Medaille, die nicht aus dem Auge verloren werden darf – bei allen Möglichkeiten der Mediennutzung. Wo diese liegen, haben Sie angedeutet: „dem Alter angemessen“. Ich würde diesen Gedanken weiterführen in Richtung: Warum nutze ich welche Medien? Das ist für mich die entscheidende Frage – nicht nur in der Pädagogik, sondern auch für das ganze Leben. Und überall dort, wo ich feststelle, dass der Mensch hinter die Technik tritt, dann ist es Zeit, die Mediennutzung einzustellen. [siehe dazu auch das Interview mit Prof. Dr. Teuchert-Noodt in der Tageszeitung junge Welt, 19./20.Januar 2019, Nr.16]

Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Mediennutzung. Ist somit nicht auch das Elternhaus stärker gefordert, digitale Medienkompetenz zu vermitteln, statt nur die Schulen damit allein zu lassen?

Es zählt zu den größten Chimären der Bildungspolitik, dass es gelingen könne, Bildung ohne das Elternhaus zu denken. Das Elternhaus wird immer einen Einfluss auf den Lebensweg eines Menschen haben und insofern sind Mütter und Väter immerzu gefordert, ihre Verantwortung ernst zu nehmen. Wer glaubt, seinen Kindern mit einem eigenen Smartphone im Kindergarten oder täglichen Fernsehstunden am Nachmittag etwas Gutes zu tun, ist auf dem Holzweg. Diese Eltern sollten mehr mit ihren Kindern spielen – und weniger mit ihrem Smartphone. Leider tragen sich solche Situationen in bildungsfernen Elternhäusern statistisch gesehen öfter zu als in bildungsnahen, wie Sie andeuten. Insofern könnte Digitalisierung das Problem einer Bildungsungerechtigkeit in Zukunft noch verschärfen und eben nicht verringern, wie manche in Unkenntnis der Empirie argumentieren. Folglich ist eine intensive und wertschätzende Kooperation zwischen Schule und Elternhaus ein Schlüssel für mehr Bildungsgerechtigkeit. In dieser wird es vor allem auch darum gehen müssen, einen gemeinsamen Wertekosmos hinsichtlich einer Mediennutzung aufzubauen. Nur so kann in der Schule und im Elternhaus in dieselbe Richtung gearbeitet werden.

In Ihrem Buch “Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik – Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich” [siehe nebenstehende Bücherliste] geht es zentral um die These, dass Digitalisierung als Strukturmaßnahme wenig bringen wird. Was genau sollte bedacht und angepackt werden, damit digitales Lernen für alle Beteiligten ein Erfolgsmodell wird?

Erfolgreiche Digitalisierung im Bildungsbereich braucht im Wesentlichen drei Dinge: Erstens Strukturen. Zweitens Menschen, die diese Strukturen zum Leben erwecken. Und drittens eine Vision von Bildung, die handlungsleitend wird. Das Entscheidende aber nun: Das Letzte ist das Wichtigste! Ohne diese Vision ist alles andere inhaltsleer und ziellos. Leider können wir das derzeit in vielen Feldern beobachten: Es wird kräftig investiert – zur Freude der Wirtschaft – aber ohne eine Idee davon zu haben, was eigentlich damit erreicht werden soll. Aussagen, wie zum Beispiel „Wir müssen bei der Digitalisierung im Feld experimentieren“, offenbaren dieses Unvermögen. Also lasst uns zunächst gründlich überlegen, welche Bildung uns wichtig ist und welche Gesellschaft wir wollen. Sodann lasst uns die Menschen so stärken, dass sie dies erreichen können. Dafür werden gewisse Strukturen zu verändern sein, die dann aber nicht nur zufällig wirken, sondern den Menschen dienen und auf ein Ziel hin ausgerichtet sind.

zum Artikel: wissensschule.de, Rubrik SCHULE_DIGITAL

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“

Was macht die geplante digitale Schulreform mit unseren Kindern?

Vortrag von Peter Hensinger, M.A., gehalten bei der „Elterinitiative Schule-Bildung-Zukunft“, Stuttgart, 9.2.2019

Es ist tatsächlich das Topthema in der Politik: die digitale Transformation der Gesellschaft. Sie müsse schnell kommen, lesen wir überall, insbesondere die Smart City. Sonst hänge Deutschland ab. Digitalminister werden eingesetzt, die Bundesregierung beruft einen Digitalrat, veranstaltet Kongresse zur digitalen Bildung. Ein Erscheinungsbild der Digitalisierung können wir auf Schritt und Tritt beobachten: ob im Zug, in der S-Bahn oder auf der Straße: gebückt schweigende Menschen, die auf ihr Smartphone starren. Und sie nutzen es vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. In der JIM – Jugendstudie zur Mediennutzung von 1998 gab es noch kein Kapitel zu Handys. Heute ist es in der Studie ein Hauptthema. 2011 hatten 26% der Jugendlichen ein Smartphone, 2016 sind es schon 92 % (MPFS, JIM, 2016, S. 46). Die Veränderungen in der Gesellschaft sind enorm: das Kommunikationsverhalten hat sich völlig verändert, verändert hat sich die Werbung, neue Überwachungsmöglichkeiten heben die Privatsphäre auf, das Verhältnis der Menschen zur Natur ändert sich durch die Virtualisierung. Der Bildungsbegriff wird mit „Digitaler Bildung“ neu definiert, eine neue Sucht, die Internetsucht, ist entstanden, und mit dem Elektrosmog haben wir einen neuen medizinischen Risikofaktor. Die am 05.09.2018 veröffentliche Studie über das Freizeitverhalten dokumentiert die Veränderungen. (Stuttgarter Zeitung, 6.9.2018 und http://www.freizeitmonitor.de/)  

In nur 5 Jahren, von 2013 bis 2018 haben sich Freizeitaktivitäten so verändert:

  • Smartphonenutzung (ohne telefonieren): + 75% (28% auf 49%)
  • Internetnutzung: + 53% (51% auf 78%)
  • Social Media: + 53% (34% auf 52%)
  • E-Mails lesen: + 11% (56% auf 62%)
  • Mit Kindern spielen: – 13% (31% auf 27%)
  • Mit Eltern/Großeltern treffen: – 19% (21% auf 17%)
  • Mit Freunden zu Hause treffen: – 29% (24% auf 17%)
  • Einladen/eingeladen werden: – 42% (12% auf 7%)

Wohlgemerkt: alles als Freizeitbeschäftigung! Smartphones und TabletPCs haben das Zusammenleben also radikal verändert, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Tut das gut? Um für das Leben fit zu werden, braucht es eine gesunde Psyche, charakterlich gute Eigenschaften, aber auch Grundfertigkeiten: Schreiben, Lesen, Rechnen, Kommunizieren, logisches Denkvermögen, und v.a. Sozialkompetenz und Bildung. Die Grundlagen dafür werden in der Familie, in der Vorschulerziehung und der Schule gelegt. Dort können Weichen falsch gestellt werden. Wird unser Nachwuchs durch die Digitalisierung besser, schlechter – oder einfach anders? Über die Weichen, die gerade neu gestellt werden, im Elternhaus, Außerschulisch und Schulisch, und das muss man in seiner Wechselwirkung betrachten, werde ich zunächst sprechen. Denn die „Digitale Bildung“ soll ja schon an der KiTa beginnen.

Neue Sozialisationsbedingungen

Vorbemerkung 1: „Mein Kind muss das Smartphone beherrschen lernen, um in der digitalen Welt bestehen zu können!“ Diese Ansicht beherrscht die Diskussion, und lenkt sie bereits in eine falsche Richtung. Sie geht stillschweigend davon aus, dass ein Geschäftsmodell „Digitalisierung“ alternativlos ist und verhindert damit das Nachdenken.

lesen sie weiter: Vortrag als PDF-Datei

Smartphones und Apps haben bis heute keine realen Schulprobleme gelöst

Digitale Medien gehören nicht in die Grundschule, davon ist Digital-Kritiker Prof. Dr. Gerald Lembke überzeugt.

Im Interview mit Andreas Müllauer bemängelt er die „unsinnige“ Digitalisierung deutscher Klassenzimmer und fordert gezieltere Investitionen im Bildungsbereich.

„BEGEGNUNG– Deutsche schulische Arbeit im Ausland“, 2-2018, Andreas Müllauer

Prof. Dr. Gerald Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Mannheim und Präsident des Bundesverbands für Medien und Marketing. Lembke ist Mit-Initiator des Bündnisses für humane Bildung, das sich für einen altersangemessenen und differenzierten Einsatz von analogen wie digitalen Lehr- und Lernmedien im Unterricht einsetzt.

Herr Prof. Lembke, Sie fordern, dass die Computer „raus aus der Schule“ sollen. Wieso? 

Man muss differenzieren. Ich sage nicht grundsätzlich raus aus allen Schulformen, das wäre Irrsinn. Sondern ich sage: Raus aus den Grundschuljahren und den vorherigen Kita-Stufen. Für den Lernprozess gibt es hinreichend wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass der Einsatz digitaler Medien in den Altersgruppen von sechs bis ca. zwölf Jahren den Lernerfolg nicht fördert. Da muss man sich fragen, ob die Milliarden für digitale Medien in den unteren Schulformen tatsächlich richtig investiert werden. Man sollte dieses Geld ab der ca. 6. Klasse und aufwärts weiter verdichten, um im Hinblick auf Lehrerbildung und fachdidaktische Bildung mehr Nutzen für die Kinder und Jugendlichen zu erzeugen.

Andererseits haben deutsche Jugendliche in puncto Medien- und Digitalkompetenz noch Aufholbedarf, das besagen verschiedene Studien. Wäre ein früher mediengestützter Unterricht dementsprechend nicht sinnvoll? 

Man denkt, dass der frühestmögliche Einsatz die Medienkompetenz erhöht, aber es wird nur eine Anwendungskompetenz erhöht. Die Kinder sind aufgrund ihrer kognitiven und neurophysiologischen Entwicklung nicht in der Lage, mit diesen Medien effektiv und zielgerichtet im Lernprozess umzugehen. Wenn die aktuelle Studienlage länderübergreifend zeigt, dass dieKinder noch nicht einmal richtig lesen, rechnen und schreiben können, halte ich es persönlich für wichtiger, diese originären Fähigkeiten zu erlernen und auf Tablets zu verzichten. Kinder lernen vornehmlich durch Erfahrungen aus der realen Welt. Wenn sie durch schulische Hilfe dazu gebracht werden, sich mehr in den virtuellen Welten zu bewegen, wo sie keine realen Erfahrungen machen können, dann halte ich das für die persönliche und kognitive Entwicklung für kontraproduktiv.

Wie stehen Sie zum angedachten Digitalpakt zwischen Bund und Ländern, der von der ehemaligen Bildungsministerin Johanna Wanka initiiert wurde? 

Eigentlich ist er eine Mogelpackung. Der Digitalpakt sollle letztendlich die länderspezifischen Entscheidungen im Bundesbildungsministerium zentralisieren. Er sieht in der inhaltlichen Ausgestaltung vornehmlich eine technische Ausstattung vor. Das heißt, man möchte mit den Investitionen die Schulen mit Technik, W-LAN, Computern und Tablets ausstatten. Im Kern verfolgt die Regierung damit eine Strategie des frühestmöglichen Heranführens an die digitalen Medien, ohne wissenschaftliche Erkenntnisse zu besitzen, ob diese Geräte tatsächlich den Lernerfolg und die Entwicklung von Kindern positiv fördern. 

Wo sollen Jugendliche Medienkompetenz lernen, wenn nicht in der Schule?

Ich sage ja nicht, dass man die nicht in der Schule erlernen soll. Ich bin dafür, dass die finanziellen Mittel des Bundesbildungsministeriums nicht in die Grundschulen in Form von unsinniger Hardware gepumpt werden sollen, sondern in die weiterführenden Schulen – dort aber konzentriert. Ich kann mir prima vorstellen, dass man beispielsweise ab der 6. Klasse themenspezifische Technik-Räume einsetzt, um Schüler in Arbeitsgruppen an speziellen Themen experimentieren zu lassen, um sie an diese Themenfelder heranzuführen. Zum Fünf-Milliarden-Paket der ehemaligen Ministerin Wanka: Sie wollte für jede Schule in einer Laufzeit von drei Jahren pro Jahr umgerechnet 25.000 Euro bereitstellen. Davon bekommt man doch nicht einmal Computer für jede Schule. Ich plädiere dafür: Lasst den Kindern in den frühen Jahren die reale Welt, denn da werden sie sich ohnehin entwickeln. Verbessern wir lieber den Unterricht durch High-Tech-Labore in den späteren Jahren.

Wie würde für Sie der perfekte Unterricht aussehen, um junge Menschen auf die digitalisierte Welt vorzubereiten? 

Ich plädiere für einen altersgerechten Einsatz: Wenn die Jugendlichen in der Schule mit digitalen Medien konfrontiert werden, um sie dann auch tatsächlich für Projektarbeiten einzusetzen, finde ich das absolut klasse. Das muss aber altersabhängig und in Abhängigkeit von ihrer kognitiven und persönlichen Entwicklung geschehen. Wir sehen, dass Spielsucht und Internetsucht nach der aktuellen medizinischen Studienlage insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren sehr hoch ausgeprägt sind. Man kann also nicht automatisch davon ausgehen, dass das Vorhandensein eines Computers oder eines Smartphones zu einer höheren Medienkompetenz führt. Ich plädiere dafür, dass man einen gesunden Ausgleich zwischen realer und virtueller Welt findet. Es spricht nichts dagegen, wenn man in der 9. Klasse eine Projektarbeit anfertigt, dafür das Smartphone zur Hand nimmt und die Arbeit beispielsweise in einer Cloud mit seinen Mitschülern teilt. Wichtig ist dabei die fachdidaktische Begleitung. Ich möchte nicht als Lehrer in einer Schule stehen, wo die Kinder den ganzen Vormittag nur auf dem Handy herumspielen. Aber ich sollte sie so früh wie möglich in Präventionsprogrammen über die Risiken aufklären und später über die Sinnhaftigkeit von Digitalmedien sprechen. Momentan gibt es aber nur eine Chancendiskussion: „Wir müssen über die Chancen von Smartphones aufklären“, heißt es. Das machen die Kids aber schon selbst, sie nutzen die Chancen, sieben Stunden am Tag im Durchschnitt. Ist das etwa zu wenig Zeit täglich? Insofern muss mir erstmal jemand erklären, warum diese Geräte vom Steuerzahler finanziert in die Schule sollen und die Lehrer nun das Fehlverhalten auslöffeln sollen. Deswegen sollte man das klar in Form von Präventionsprogrammen in alle Schulformen integrieren. 

Welche Rolle spielen die Lehrkräfte, um die Schüler fachdidaktisch adäquat zu begleiten?  

Ich denke, die Herausforderung bei den Lehrkräften ist, dass sie von Fachpädagogen zu Fachdidaktikern werden. Fachdidaktik heißt in diesem Fall, dass man sich fragt: Welche Rolle spielen in der Auswahl der pädagogischen Mittel die neuen digitalen Medien? Eine aktuelle Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bestätigt: Unterricht wird allein durch das Vorhandensein digitaler Medien nicht besser. Aber die Studie besagt auch, dass sehr guter Unterricht durch den Einsatz digitaler Medien noch etwas besser werden kann. Es geht weniger darum, alle Lehrer im Hinblick auf die digitale Entwicklung zu Digital-Lehrern oder zu Digital-Fachdidaktikern zu entwickeln, sondern Lehrer dahin zu leiten, dass sie ihren Unterricht besser machen. Denn nur ein sehr guter analoger Unterricht bietet die Chancen eines sinnvollen Digitaleinsatzes. Auf dem Weg dorthin brauchen Lehrer aber nicht die digitalen Medien, sondern eine gehörige Portion Selbstreflexion und Entwicklungsmotivation. Was zurzeit passiert, ist aber genau das Gegenteil. Man haut die Klassen in der Erwartung mit Technologien voll, dass jetzt alles besser werde, die pädagogischen Probleme gelöst wären – und das wird nicht passieren. 

Können herkömmliche Unterrichtsmaterialien und -methoden alles leisten, was digitale Geräte im Unterricht beitragen könnten? 

Digitale Geräte sind immer Mittel zum Zweck. Um Programmieren zu lernen, bedarf es zunächst keines Computers. Da müssen Logik und Algorithmen verstanden werden. Das ist ganz viel Theorie, die man im Kopf kognitiv entwickeln muss. Erst in der späteren praktischen Anwendung ist dann ein Computer natürlich hilfreich. Wenn es darum geht, die reale Welt zu gestalten, bin ich dafür, Unterrichtsprobleme mit Methoden der realen Welt zu lösen. Smartphones und Apps haben bis heute keine realen Probleme gelöst. Das muss mir erstmal jemand beweisen. 

Würden Sie sagen, dass die Diskussion um den Einsatz digitaler Medien in der Schule eher ideologisch als didaktisch geprägt ist? 

Ja, vorwiegend ideologisch. Es geht überhaupt nicht um die Kinder, den Lernerfolg oder die individuelle Entwicklung. Das spielt überhaupt keine Rolle. Es geht seitens der Politik ausschließlich um Lobby-Interessen. Das finde ich sehr dramatisch. Wir erleben in der Diskussion um das sogenannte digitalorientierte Lernen zwei Lager: Ein Lager, das keine Risiken sieht und nur Chancen sowie ein Lager, das sowohl die Risiken als auch die Chancen sieht. Und ich gehöre zum zweiten.

Das Smartphone hat das Leben von Milliarden Menschen in den letzten zehn Jahren mehr verändert als kaum eine technische Neuerung zuvor. Viele sehen die positiven Seiten, wenige machen sich Gedanken um die negativen Auswirkungen für unser Denken, Fühlen und Handeln, unsere Gesundheit und unsere Gesellschaft.

Kritischer Blick auf den UNICEF-Bericht: Kinder in einer digitalen Welt

Ein Bericht von UNICEF: „Zur Situation der Kinder in der Welt 2017“

beschreibt, wie Smartphones, Laptops, Computer und Internet weltweit das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verändert haben – und es in Zukunft weiter verändern werden – im Guten und im Schlechten.

Dr. med. Uwe Büsching, Kinder- und Jugendarzt und Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Kinder– und Jugendärzte (BVKJ)

Die möglichen Chancen der Digitalisierung für Kinder
Kinder und Jugendliche selbst sehen das Internet fast immer als positiven Teil ihres Lebens an. Zu Recht? Im World Development Report der Weltbank 2016 heißt es: „In den Entwicklungsländern gibt es heute mehr Haushalte mit Mobiltelefon als mit elektrischem Strom oder sauberem Wasser. Fast 70 Prozent der ärmsten Menschen in den Entwicklungsländern besitzt ein Mobiltelefon.“ Die ärmsten Familien, die an dieser Entwicklung nicht teilhaben, fallen noch weiter zurück, so die Analyse der Weltbank. Es bestehe die akute Gefahr, dass die Digitalisierung hier, anstatt gleiche Chancen zu eröffnen, Ungleichheit verschärfe. Die Autoren des UNICEF-Berichts gehen von der Hypothese aus: „Benachteiligten Kindern – in Entwicklungs- wie in Industrieländern – kann die Vernetzung helfen, ihre Fähigkeiten zu entfalten und Armut zu überwinden. Die Digitalisierung ermöglicht Lernen von hochwertigen Inhalten ohne existierende Schulsysteme, informiert unabhängig von staatlich kontrollierten Medien, vermittelt Kontakte beruflich und privat.

Doch die Erfahrungen können sich stark unterscheiden – je nach Bildung und Ausbildung, technischer Ausstattung, Sprache und Einkommen. Hunderte Millionen Kinder sind vom Moment ihrer Geburt an in einen permanenten Strom digitaler Kommunikation und Vernetzung eingebunden. Die Digitalisierung prägt ihre Erfahrungen und eröffnet unbegrenzte Möglichkeiten.

Die Informationsarmen
Der UNICEF-Bericht bedauert, dass von den Vorteilen und Chancen der Digitalisierung längst nicht alle Kinder und Jugendlichen profitieren – in den Entwicklungsländern genauso wenig wie in Schwellen- oder in Industrieländern. Um die Chancen für alle zu realisieren, müssten für die anderen Millionen von Kindern technisch hochwertige Netze bereitgestellt werden. Wenn Kinder fortgesetzt am Internet nicht teilhaben könnten, würden sich soziale und ökonomische Ungleichheiten im Verhältnis Entwicklungsländer zu Industrieländern und zwischen den Schichten der Gesellschaften durch „Informations-Armut“ weiter verschärfen. Der Bericht nennt die Gestaltung der digitalen Welt für Kinder eine zentrale Zukunftsaufgabe. Kindern würden mit dem Ausbau der Digitalisierung zukünftig noch mehr digitale Geräte, auch mit künstlicher Intelligenz, Online–Plattformen und Anwendungen zur Verfügung stehen.

Digitale Gefahren
Ohne Unterbrechung steht ein Strom von Videos, Nachrichten in sozialen Netzwerken und eindrucksvollen Spielen zur Verfügung, Kontrolle ist kaum möglich. Während Kinder online sind, werden gleichzeitig Informationen über sie gesammelt. Eine Untersuchung von 2010 ergab, dass in zehn Industrieländern 81 Prozent der Kinder vor ihrem zweiten Geburtstag bereits einen „digitalen Fußabdruck“ hinterlassen hatten. Die Risiken, die ein solcher kaum noch zu löschender Abdruck im Netz langfristig für das Leben von Kindern und Jugendlichen haben kann, sind nur zu erahnen. Was man heute bereits weiß: Das Internet verstärkt auch traditionelle Risiken im Kindes- und Jugendalter besonders für diejenigen, die bereits in der realen Welt benachteiligt sind. Und es schafft neue Risiken. Forscher unterscheiden heute drei Arten von Online-Risiken: Inhalts-Risiken, Kontakt-Risiken und Verhaltens-Risiken, die es auch ohne Internet gab und gibt, die aber durch die Digitalisierung noch verstärkt werden. Sie bestehen potenziell für alle Kinder und Jugendlichen. Die Internet Watch Foundation registrierte allein im Jahr 2016 weltweit 57.335 Internetseiten mit kinderpornographischen Inhalten. 92 Prozent aller einschlägigen URLs waren in fünf Ländern ansässig: in Frankreich, Kanada, den Niederlanden, der Russischen Föderation und in den USA.

Immerhin haben die Autoren registriert: „viele Eltern und Fachleute in hoch digitalisierten Ländern fürchten zudem um die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern.“ Die Stiftung selbst sieht die Sicherheit und den Schutz der Privatsphäre der Kinder bedroht, auch weil für die meisten Heranwachsenden diese Gefahr abstrakt und damit nicht akut zu befürchten sei. Mehr Forschung sei notwendig, um besser zu verstehen, warum diese potenziellen Risiken bei den einen zu Ausbeutung und Leid führen und bei anderen nicht.

Auch der UNICEF-Bericht widmet sich den Gefahren der Digitalisierung. Er fordert auf, sich verstärkt um die tieferliegende Verletzlichkeit (Gewaltandrohung, -erfahrung, Konfrontation mit ungewollten sexuellen Inhalten, Bullying [systematisches Mobbing unter Kindern und Jugendlichen] und Bedrohungen der Person, der Familie) der betroffenen Kinder zu kümmern, um sie besser fördern und schützen zu können – in der Online- und in der Offline-Welt. Die Gefahren der Digitalisierung für Kinder, auch in Industriestaaten, werden in dem Bericht ebenso ausführlich beschrieben wie die Ohnmacht der Staaten und der Strafverfolgungsbehörden beim Schutz von Kindern und Jugendlichen durch Gefahren durch die Digitalisierung.

Kinderschutz
Die Autoren des UNICEF–Berichtes diskutieren Maßnahmen, um Kinder vor den Gefahren der Digitalisierung zu schützen. Eine Zeitbegrenzung erübrige sich, laut UNICEF gibt es keine klar definierte Grenze, ab wann die Beschäftigung mit digitalen Inhalten Kindern und Jugendlichen schadet. Vielmehr sei „zu viel“ höchst individuell und hänge vom Alter der Kinder, ihren persönlichen Eigenheiten und ihrem Lebenszusammenhang ab. Online-Zeiten durch Verbote zu begrenzen sei nicht zielführend, als Belohnung einzusetzen aber nach derzeitigem Forschungsstand auch nicht. Demgegenüber seien mehr Aufmerksamkeit und Begleitung der vielversprechendere Weg. „Was die Kinder im Netz tun und mit welchen Inhalten sie sich dort beschäftigen, ist wichtiger als ausschließlich darauf zu schauen, wie lange sie am Bildschirm sitzen.“ Eine wichtige Maßnahme zur Risikoreduktion: „Grundsätzlich müssen bei der Entwicklung digitaler Produkte die besonderen Bedürfnisse von Kindern beachtet werden. Alle, mit oder ohne Handicap, brauchen besondere Begleitung und Unterstützung, um sich in der digitalen Welt zurechtzufinden. Technologischer Fortschritt allein reicht nicht – ebenso wichtig sind eigene Motivation, gut ausgebildete Lehrer und gute Pädagogik. Die Digitalisierung kann schlecht funktionierende Verwaltungen oder Ungerechtigkeiten beim Zugang zu Bildung nicht ausgleichen.“

Schwächen des UNICEF- Berichtes: jede Menge warme Worte, wenig Konkretes und eine Falschbehauptung

Die Behauptung der Autoren, das Ausmaß der Zeit, die Kinder an digitalen Endgeräten verbringen, sei bedeutungslos, mithin seien Einschränkungen pädagogisch unsinnig, steht im deutlichen Widerspruch zu den Ergebnissen der BLIKK-Studie (Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz und Kommunikation). Übermäßiger Medienkonsum korreliert sehr wohl mit Entwicklungsauffälligkeiten! Die Zeitbegrenzung ist damit ein äußerst wirksames Mittel, um die Gesundheit von Kindern wirksam zu schützen. Sie ist viel wirksamer, weil leichter umzusetzen, als Appelle an die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen.

Die Wünsche und Forderungen der Autoren des UNICEF-Berichts an Staat und Familie zum Kinderschutz entsprechen ansonsten dem aktuellen Wissenstand. Sie bleiben jedoch seltsam unkonkret. So lautet ein Vorschlag: Kinder gehören ins Zentrum einer Digital-Politik. „Bei der Entwicklung einer zukünftigen Digital-Politik müssten Kinder und Jugendliche gehört werden.“ Doch eine solche Digital-Politik muss erst entwickelt werden. Es gibt keine Einwände gegen die Partizipation von Kindern und Jugendlichen, aber was soll die Forderung nach Beteiligung, solange Digital-Politik nicht existiert?

Den drei Vorschlägen „Kinder müssen vor Online-Gefahren geschützt werden“, „Die Privatwirtschaft muss ethische Standards und Praktiken vorantreiben“ und „Die Privatheit und die Identität von Kindern müssen geschützt werden“ wird niemand widersprechen. Berechtigt aber ist doch zu fragen, warum dies nicht schon längst geschieht? Die von den Autoren vorgetragenen Vorschläge sind so alt wie das Internet. UNICEF hat viel Einfluss, viel Akzeptanz, UNICEF hätte die Chance zu fordern, auch strafrechtliche Konsequenzen, anstatt nur lauwarm zu mahnen.

Der Vorschlag, „Kinder müssen digitale Kompetenzen genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen“, ist nichts weiter als die kritiklose Übernahme einer unwissenschaftlichen Phrase, die nicht dadurch wahr wird, wenn Daxvorstände sie in jeder Talkshow wiederholen. Es ist zurzeit sehr umstritten, ab welchem Lebensalter Kinder befähigt sind, zu ihrem Vorteil mit dem Internet zu lernen. Bevor Lehrpläne für digitale Kompetenz gefordert werden, braucht es ganz viel und wohl auch teure Forschung. Im Interesse der Kinder ist diese Investition bei jährlich 20.000 Neuerkrankungen an Internetsucht angebracht.

Der letzte Vorschlag, der von allen Befürwortern der Digitalisierung vorgebracht wird und der bei UNICEF ganz am Anfang platziert ist, „Alle Kinder müssen bezahlbaren Zugang zu qualitativ guten Online-Angeboten bekommen“, ist erst dann zu unterstützen, wenn alle vorherigen Forderungen endlich realisiert sind. Allein die Kosten für den Internetzugang zu senken und mehr öffentliche Hotspots einzurichten, ist kein Kinderschutz!

Fazit:
Wirklich konkrete zielführende Konsequenzen für den Kinderschutz nennt der UNICEF-Bericht nicht. Den seltsamen Verbleib im Vagen erklären die Autoren damit, dass es bereits zahlreiche internationale Instrumente, Richtlinien, Vereinbarungen und Prinzipien zur Freiheit des Internets, zu Netz-Neutralität, Zugang und Menschenrechten im Netz gebe. Es fehle eine grundsätzliche Übereinkunft, wie Kinder vor den Risiken der digitalen Welt geschützt und wie dessen Versprechungen und Chancen allen Kindern zugänglich gemacht werden können.

Dem Leitgedanken von UNICEF („Jedes Kind auf der Welt hat das Recht auf eine Kindheit – wir sind dafür da, dass aus diesem Recht Wirklichkeit wird.“) wird der Bericht nicht gerecht.

Es ist unverständlich, warum UNICEF die Chance nicht ergriffen hat, mit dem Bericht auch wirksame Kinderschutzgesetze zu formulieren, um Kinder vor den Gefahren der vernetzten Welt zu schützen – notfalls auch gegen die Interessen der US-Regierung, des Präsidenten und von Google & Co. In der vorliegenden Version verharrt der Bericht weitgehend bei einer rosaroten Utopie: Digitalisierung ist für alle gut, wenn nur Eltern, Lehrer und Ärzte ein bisschen aufpassen, mit was sich die Kinder da stundenlang beschäftigen. Begleitende Kinderschutzgesetze zu Digitalisierung oder selbst schon mögliche Strafverfolgung werden im Interesse eines Big-Data-Hype vernachlässigt. So ist der UNICEF-Bericht nicht viel mehr als eine Orientierung mit vielen guten Ansätzen und dem sicherlich wichtigen Appell, mehr zu forschen.

Aus dem UNICEF-Bericht: „Ich denke, dass das Internet uns näher zu denen gebracht hat, die weit weg sind – und weg von denen, die nahebei sind.“
(16-j. Mädchen aus der Dem. Rep. Kongo)

Aus:  Kinder- und Jugendarzt, 49. Jg. (2018) Nr. 3/18, S. 144-147, Dr. med. Uwe Büsching, Kinder- und Jugendarzt und Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Kinder– und Jugendärzte (BVKJ).

Dr. Uwe Büsching, E-Mail: ubbbs@gmx.de

Der Artikel erscheint bei Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Dr. Büsching war Refernt bei der Tagung „Bildschirmmedien und Kinder“ an der Hochschule Offenburg am 20.10.2018 (siehe unter Veranstaltungen, Seitenleiste).