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Kritik an der Grundschule – Weg von der Selbstlernidylle

Die „neuen Lernformen“ scheinen flächendeckend ihre Opfer gefunden zu haben

Deutschlandfunk Kultur, Politisches Feuilleton, Beitrag vom 08.01.2018
Von Michael Felten

Die Grundschulstudien der letzten Zeit zeigen, Viertklässler verstehen Texte noch schlechter als vor zehn Jahren. Außerdem können sie weniger gut rechnen als der europäische Durchschnitt. Um das zu ändern, sieht der Publizist Michael Felten nicht nur die Politik in der Verantwortung.

Nach jeder Schulstudie gibt’s einige Wochen Aufregung und Streit, aber irgendwann einigt man sich auf die üblichen Verdächtigen: zu wenig Lehrer, zu große Klassen, zu viele Migrantenkinder, diesmal auch noch die verkorkste Inklusion. Dabei wäre genug Geld da. Nur fließt vieles eben in irgendwelche Bankenrettungen oder wird am Hindukusch verpulvert. Berechtigte Forderungen verhallen, das Thema landet wieder in der Versenkung.

Aber jetzt ist eben die Grundschule betroffen, das Fundament unserer Wissensgesellschaft bröckelt. Höchste Zeit also, bezüglich der ersten Schuljahre tiefer zu bohren, Fragen zu stellen, die nicht an Strukturen oder gar Äußerlichkeiten hängen bleiben, sondern ins Innere des Betriebs zielen. Könnte es sein, dass in der Primarstufe im Pädagogischen etwas schief läuft?

Spaßpädagogik, dieser Vorwurf wäre sicher allzu grobschlächtig. Aber dass sich die Grundschule immer noch als Ort der Vermütterlichung versteht, ist eigentlich ein offenes Geheimnis. Viele Lehrer fürchten, von ihren Schützlingen zu viel zu verlangen, sie beim Lernen unter Stress zu setzen. Obwohl alle Unterrichtsforschung sagt: Hohe Erwartungen – verbunden mit guter Unterstützung – sind besonders entwicklungsförderlich, gerade auch für langsamere Lerner. Zudem leiden nicht wenige Pädagogen unter einer Art Führungsschwäche. Sie brauchen etwa arg lange, um Arbeitsruhe in der Klasse herzustellen.

Nicht zuletzt scheinen die „neuen Lernformen“ flächendeckend ihre Opfer gefunden zu haben: Mancher Lehrer hofft immer noch, das sogenannt „selbstgesteuerte, eigenverantwortliche Arbeiten“ – gemeint ist Einzellernen mit Arbeitsblattstapeln – produziere mündigere Bürger. Das Ergebnis solcher Selbstlernidyllik ist aber keineswegs Tiefgang, sondern Oberflächlichkeit. Deshalb war ja auch die Erziehung zur Rechtschreibanarchie so verfehlt – korrekte Orthografie ist eben kein formaler Selbstzweck, sondern Denkschulung und Schlüsselqualifikation, etwa für zügiges Recherchieren.

Der Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke hat schon lange vermutet, dass „nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, gerade Kinder aus bildungsfernem Umfeld diskriminiert“ – übrigens ebenso die wachsende Schar emotional instabiler Kinder. Die Lernforschung konnte das breit bestätigen: „direct instruction“ etwa – also abwechslungsreicher, lehrergelenkter Klassenunterricht – hat sich als eine der leistungsförderlichsten Arbeitsformen erwiesen, gerade in prekären Milieus. Die derzeit heiligen Kühe namens „Freiarbeit“ oder „Individualisierung“ schneiden dagegen vergleichsweise wirkungslos ab. [siehe Anmerkung am Ende des Beitrags]

Was also hilft sozial benachteiligten Kindern am besten, sich aus ihrem Status zu befreien? Die Antwort klingt altmodisch, ist indes schon wieder Avantgarde: ein direkt anleitender und anregender, geduldiger und ermutigender Unterricht. Zudem schadet strukturiertes Lernen besseren Schülern natürlich auch nicht.

Nähmen wir diesen Befund wirklich ernst, würden die Bildungschancen hierzulande wieder weniger auseinanderklaffen. Viele von uns könnten dabei mit Hand anlegen: Lehrer, indem sie es fertigbringen, sich von liebgewordenen Bildungsillusionen zu verabschieden. Und Eltern, die sich trauen, von den Lehrern ihrer Kinder ganz einfach soliden Unterricht zu verlangen.

Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymasium in Köln unterrichtet. Er ist weiterhin in der Lehrerausbildung tätig und berät Schulen bei ihrer Entwicklung (www.eltern-lehrer-fragen.de). Ihm geht es darum, den Praxiserfahrungen der Lehrer und den Befunden der Unterrichtsforschung mehr Gehör in der Bildungsdebatte zu verschaffen. Seit dem UN-Weltkindertag 2015 betreut er eine Info-Plattform zur Inklusionsdebatte: www.inklusion-als-problem.de

zum Beitrag:  http://www.deutschlandfunkkultur.de/kritik-an-der-grundschule-weg-von-der-selbstlernidylle.1005.de.html?dram:article_id=407745


Erläuterungen zu „direct instruction“ (siehe John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2015, S. 242ff):

Die „Direkte Instruktion“ (= lehrerzentrierte Lenkung des Unterrichtsgeschehens. Die Lehrperson ist in allen Lernprozessen präsent. Ein solcher Unterricht darf nicht mit einem fragengeleiteten Frontalunterricht verwechselt werden) besteht nach Hattie aus sieben Schritten, und zwar aus:

  • Klaren Zielsetzungen und Erfolgskriterien, die für die Lernenden transparent sind;
  • Der aktiven Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Lernprozesse;
  • Einem genauen Verständnis der Lehrperson, wie die Lerninhalte zu vermitteln und zu erklären sind;
  • Einer permanenten Überprüfung im Unterrichtsprozess, ob die Kinder bzw. Jugendliche das Gelernte richtig verstanden haben, bevor im Lernprozess weiter vorangegangen wird;
  • Einem angeleiteten Üben unter der Aufsicht der Lehrperson;
  • Einer Bilanzierung des Gelernten auf eine für die Lernenden verständliche Weise, bei der die wesentlichen Gedanken bzw. Schlüsselbegriffe in einem größeren Zusammenhang eingebunden werden;
  • einer wiederkehrenden praktischen Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten.

 Weitere Stellungnahmen:

Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau.
Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten

[…] Reinhardt: Was charakterisiert denn nun guten Unterricht?

Helmke: Gut im Sinne von Hattie, also lernwirksam, ist ein Unterricht, (1) in dem den Schülern viel zugetraut, aber auch zugemutet wird, (2) in dem jeder einzelne Schüler an die Grenzen seines Potenzials geführt wird, (3) der alle Möglichkeiten nutzt, sich im Austausch mit Kollegen kontinuierlich ein Bild der Lernprozesse der Schüler sowie des eigenen Lehrens zu machen, (4) der durch strukturierte, effiziente, störungspräventive Klassenführung geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen schafft und (5) der in einem Klima stattfindet, das durch Fürsorge, Respekt, Wertschätzung und Freundlichkeit gekennzeichnet ist. (…)

Reinhardt: Kann man auch Erkenntnisse für eine gute Schule aus der großen Metaanalyse von Hattie ableiten?

Helmke: Schulen, die sich die Erkenntnisse von Hattie zu eigen machen, sind solche, in denen zentrale Prinzipien eines lernförderlichen Unterrichts bewusst thematisiert und realisiert werden. (…) Und schaut man sich die Ergebnisse zur Rolle der Schulleitung bei Hattie differenziert an, dann zeigt sich, dass eine unterrichtsbezogene Führung, verbunden mit starken Bemühungen um ein störungsfreies Lernklima, hohe Erwartungen an Lehrpersonen und herausfordernde Ziele für Lernende, besonders lernwirksam sind.

[Hervorhebungen im Text durch den Autor]

zum Artikel:  Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15

„Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts“

Des Rätsels Lösung: „Wie Schule endlich gelingen kann“

Rainer Werner

Manchmal erhofft man sich als Lehrer auch von außerschulischen Instanzen eine Erleuchtung.

Als ich am letzten Sonnabend am Kiosk den SPIEGEL-Titel überflog („Neues Lernen / Wie Schule endlich gelingen kann“), war ich elektrisiert. Sollte es dem SPIEGEL gelungen sein, das Geheimnis zu lüften, um das sich Bildungsexperten seit Jahrzehnten bemühen? Als ich die Titelgeschichte dann las, war ich bitter enttäuscht. Hinter den „zehn Wegen für Bildung und Erziehung“ verbirgt lediglich das, was Menschen, die sich auch nur oberflächlich mit Schulpolitik befassen, schon dunkel geahnt haben:  Schüler lernen lieber in einem intakten als in einem maroden Schulgebäude. Inklusion gelingt nur, wenn man den Schulen die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Das Schulessen sollte bekömmlich sein und am besten in der Schule frisch zubereitet werden. Der Ganztagsbetrieb muss pädagogisch gestaltet werden, usw.

An einer Stelle keimte bei mir Hoffnung auf, als der Artikel die bahnbrechende Studie des Bildungsforschers John Hattie erwähnt. Dass die Lehrperson „charismatisch und kompetent“ sein muss, ist dabei nicht einmal seine wichtigste Erkenntnis. Viel wichtiger ist die Einsicht, dass Unterrichten ein Handwerk darstellt und dass der pädagogische „Handwerker“ dann die größten Erfolge erzielt, wenn er sich der richtigen Instrumente bedient. Hattie spricht von „Einflussfaktoren“, deren Wirksamkeit im Unterricht man messen kann. Davon ist in Ihrem Artikel leider nicht die Rede, obwohl sich dahinter das Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts verbirgt.

Warum kommt es auf den Unterricht an? Sie nennen eine Zahl, die eigentlich die ganze Nation aufrütteln müsste: 5,9 Prozent der Jugendlichen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. In objektiven Zahlen sind das ungefähr 50.000 Schüler. Jetzt hätte man doch fragen können, warum es den Schulen nicht gelingt, die Schüler des untersten Leistungssegments zumindest zum niedrigsten Schulabschluss zu führen, der ja kinderleicht ist. Um diese Frage beantworten zu können, hätte man einen Blick auf das Ranking der Bundesländer in der schulischen Bildung werfen können. Nach dem „Bildungsmonitor 2017“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“ in Köln belegen sechs Bundesländer bei der Schulqualität die letzten Plätze, die von rot-grünen Regierungen geführt werden. Berlin hat seit Jahren die rote Laterne inne. Interessant ist dabei auch ein Städtevergleich. Während das Schulsystem der Hauptstadt den letzten Platz belegt, schneiden Großstädte wie Frankfurt /M., Stuttgart und München relativ gut ab. Der hohe Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte in Berlin kann nicht die Ursache für das schlechte Abschneiden sein, wie die Berliner Verantwortlichen gerne behaupten. Der Ausländeranteil in den drei anderen genannten Großstädten ist nämlich höher als der in Berlin. Es muss also an der Pädagogik liegen, die in sozialdemokratisch regierten Ländern den Schulen verordnet wird.

Hier kommt wieder Hattie ins Spiel. Er hat nämlich nachgewiesen, dass die sog. schülerzentrierten Lernmethoden, man nennt sie auch Selbstlernmethoden, wenig wirksam sind. Das Unterrichtsgespräch – lange Zeit als Frontalunterricht gebrandmarkt – ist diesen „modernen“ Methoden allemal überlegen. Es ist nach wie vor die effektivste Lernform – übrigens auch in den Augen der Schüler. Bildungsforscher haben auch herausgefunden, dass die schülerzentrierten Methoden Kinder aus der Unterschicht und aus dem migrantischen Milieu besonders benachteiligen, weil sie auf die helfende und leitende Hand des Lehrers besonders angewiesen sind. Jetzt fragt man sich, warum die sozialdemokratischen Bildungspolitiker diese Methoden, deren Unwirksamkeit doch erwiesen ist, bevorzugen. Sie müssen dies tun, weil in den heterogenen Lerngruppen, die durch das „gemeinsame Lernen“ entstehen, ein Unterrichtsgespräch nicht mehr möglich ist. Die Spreizung der Begabungen ist so stark, dass sich zwischen den guten und den schlechten Schülern eine Kluft auftut, die bis zu zwei Schuljahre Fachwissen umfassen kann. Im Grunde liegt die Krux darin, dass der Anspruch, ein sozial gerechtes Schulsystem zu formen, die Gesetzmäßigkeiten der Pädagogik außer Kraft setzen muss. Ein wichtiges pädagogisches Axiom ist nämlich die Erfahrung, dass Lehren und Lernen in homogenen Lerngruppen besser gelingt als in heterogenen. Die SPD-Politiker wissen dies sehr genau, sie dürfen es aus ideologischen Gründen nur nicht zugeben. Dazu ein erhellendes Zitat der „Arbeitsgemeinschaft für Bildung“ in der SPD. Sie forderte 1999, auf einen innerdeutschen PISA-Vergleich zu verzichten: „Es ist ohne Test vorherzusagen, dass Länder mit selektiven Schulsystemen, die den Schulstrukturreformen der letzten 30 Jahre widerstanden haben, bessere Schülerleistungen in allen Schulformen haben werden.“ – Mit anderen Worten: Man nimmt fachliche Nachteile für die Schüler in Kauf, wenn sie nur sozial gerecht gemischt unterrichtet werden. Das Tragische daran ist, dass die SPD inzwischen sogar der von ihr in den 1960er Jahren gegründeten Gesamtschule misstraut, weil sie durch ihre Fachleistungskurse die „Selektion der Kinder“ perpetuiere. Dabei ist die Gesamtschule unter den egalitären Schulformen noch die leistungsfähigste.

Der SPIEGEL-Artikel beschäftigt sich auch mit der digitalen Bildung an den Schulen. Dabei wird die landläufige Meinung kolportiert, digitale Bildung sei modern und alles, was modern ist, sei auch gut für den Unterricht. Dabei gibt es keine belastbare Studie, die belegen könnte, dass die Lernergebnisse der Schüler durch digitales Lernen besser würden. Bei Hattie rangiert die Computerunterstützung des Lernens unter 138 Einflussfaktoren auf Platz 71. Wenn man das Beispiel aus dem SPIEGEL-Artikel betrachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei der digitalen Lernhilfe aus dem Englischunterricht einer Bremer Schule um Klippschul-Didaktik handelt. Nach der Lektüre eines englischen Textes müssen die Schüler unter vier Alternativen (Novelle, Kurzgeschichte, Gedicht, Zeitungsartikel) die richtige Textform anklicken. Kein Gymnasiallehrer könnte es wagen, seinen Schülern eine derart primitive Quiz-Software zuzumuten, die nur einfachste Multiple Choice – Aufgaben enthält. Ich wage die Prophezeiung: Wenn die Lernsoftware weiterhin so einfach gestrickt bleibt, wird sie sich nur in Haupt-, Sekundar- und Berufsschulen durchsetzen. Das einzige, was am Gymnasium sinnvoll genutzt werden kann, ist das Smart-Board als Tafelersatz, weil man mit dessen Hilfe schnell Informationen aufrufen und verarbeiten kann. Ansonsten werden zumindest in den Kulturfächern und den Fremdsprachen anspruchsvolle Texte weiterhin im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. Und diese Texte erschließt man im intellektuellen Gespräch und nicht mit Hilfe einer Lernsoftware.

Wie müsste ein Artikel aussehen, der die Frage „Wie Schule endlich gelingen kann“ tatsächlich beantwortet? Er müsste tief in das Betriebsgeheimnis erfolgreichen Unterrichtens eindringen. Das geht nur so, dass man Schulen unterschiedlichster Qualität miteinander vergleicht. An den Berichten der staatlichen Schulinspektion, die inzwischen in allen Ländern Pflicht sind, kann man die Qualität ablesen. Wenn man einige Monate lang im Unterricht hospitiert, gewinnt man einen guten Eindruck, ob die Schüler etwas gelernt haben und woran es liegt. Wenn man dann noch die Ergebnisse der jeweiligen Schule bei den VERA-Vergleichstests, beim Mittleren Schulabschluss und beim Abitur heranzieht, kann man ein seriöses Urteil darüber fällen, warum Schule gelingt – oder auch nicht.

Ich vermute, dass sich bisher noch keine seriöse Zeitung oder Zeitschrift auf dieses Unterfangen eingelassen hat, weil das Ergebnis ernüchternd wäre: Es würde einer kulturell akzeptierten Bildungskonzeption („längeres gemeinsames Lernen“, „Vermeidung von Selektion“) den Todesstoß versetzen. Dieser Kränkung des eigenen Selbstbildes möchte sich niemand aussetzen. Lebenslügen währen lange. Die Leidtragenden sind leider die Schüler.

Der Autor ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

zum Artikel und der web-Seite des Autors: https://guteschuleblog.wordpress.com/2017/09/25/des-raetsels-loesung-wie-schule-endlich-gelingen-kann/

Deutschlandweit summiert sich das Scheitern an der Schule auf rund 50.000 Jugendliche ohne Schulabschluss. Jährlich! Mit anderen Worten: Das Land leistet sich in jedem Jahr die Einwohnerschaft einer kompletten Kleinstadt, die allenfalls zu Aushilfsjobs in der Lage ist.

Der frühere Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky: Allein in seinem Stadtteil verließen „jedes Jahr Hunderte von jungen Männern ohne Perspektive“ die Schulen. Und es ist auch nicht zynisch, sondern die triste Wahrheit, zu sagen, dass nicht wenige davon später im Kriminalgericht Moabit wieder auftauchen. (TSP, 13.05.2017, Werner van Bebber)

Hattie-Studie – Lehrerhandeln – Guter Unterricht – Schulstrukturen

Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie, interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt

„Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. (…) Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts!“


Andreas Helmke: Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass die Studie von Hattie einen Meilenstein der empirischen Forschung zum Lehren und Lernen darstellt. (…) darüber, dass es sich hier um eine monumentale Leistung handelt, um Aussagen auf der Grundlage einer noch nie jemals dagewesenen Datenbasis, gibt es eigentlich keinen Dissens. (…)

Reinhardt: Was sind für Sie die wichtigsten Aussagen der Studie?

Helmke: Am wichtigsten finde ich die Botschaft der Evidenzbasierung. Allzu oft wurden und werden gerade in der Bildungspolitik Behauptungen aufgestellt, Reformen inszeniert und Programme implementiert, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, welchen Ertrag man sich davon versprechen kann. Ich denke, dass die Hattie-Studie dazu beiträgt, stärker als bisher empirisch zu denken. Dazu gehört auch, dass man laufende Maßnahmen und Projekte sorgfältig evaluiert anstatt darauf zu vertrauen, dass sie schon irgendwie Erfolg haben werden. (…)

Ein zweites Hauptergebnis ist aus meiner Sicht, dass es für den Lernerfolg weniger auf strukturelle, organisatorische, methodische und finanzielle Aspekte ankommt, sondern auf Aspekte der Qualität des Unterrichts und der Lehrpersonen. Das bedeutet zum Beispiel, dass bestimmte Methoden und Szenarien der Gestaltung von Unterricht – wie Individualisiertes Lernen – an sich keine Garanten für Lernerfolg sind. (…)

Drittens ist deutlich geworden, wie wichtig die Einschätzung der Unterrichtsqualität aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler ist. (…) Versuche, den Unterricht weiterzuentwickeln, ohne dabei die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, waren schon bisher fragwürdig, nach Hattie sind sie erst recht nicht mehr zeitgemäß.

Ein viertes Hauptergebnis ist, dass die erfolgreichsten Szenarien eine besonders aktive Lehrperson vorsehen. Reziproker Unterricht, Lernen durch Lehren und viele andere lernwirksame Settings und Szenarios erfordern von der Lehrperson nicht nur eine besonders gute Vorbereitung, die Einübung von Regeln, sondern mehr: Vormachen, etwa durch lautes Denken, damit die Schüler am Modell lernen können. Und Wachsamkeit, höchste Aufmerksamkeit, um gegebenenfalls, wenn etwas schief läuft, behutsam eingreifen zu können. Mit der von manchen Pädagogen geschätzten Vorstellung eines Lehrers, der das Lernen der Schüler bestenfalls begleitet und ansonsten darauf setzt, dass die Schüler das Richtige zur richtigen Zeit schon selbst entdecken werden, ist dieses Konzept allerdings nicht kompatibel. (…)

Reinhardt: Heißt das: Wir sollen zurück zum lehrergelenkten Unterricht?

Helmke: (…) Unterschiedliche Bildungsziele und Kompetenzen erfordern natürlich einen guten Mix, eine angemessene Balance von Instruktion und Konstruktion, von eher lehrer- und eher schülergelenkten Phasen des Unterrichts. Wie erfolgreich ein lehrergelenkter, aber stark schülerzentrierter Unterricht sein kann, zeigt das Ergebnis zur Direkten Instruktion, die lange Zeit zu Unrecht gebrandmarkt wurde. Hattie legt übrigens ausführlich dar, dass Direkte Instruktion [siehe Anmerkung am Ende des Interviews] überhaupt nicht gleichbedeutend ist mit einer Monokultur des Frontalunterrichts. Im Durchschnitt ist die Methode der Direkten Instruktion effektiver und auch ökonomischer als darauf zu vertrauen, dass Schüler ihren Lernstoff selbst auswählen und Neues ohne fremde Hilfe entdecken. (…) Die Forschung dazu zeigt, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten und defizitären Sprachkompetenzen unbedingt eine starke Struktur, eine klare Führung, ein kognitives Gerüst und viele kurzschrittige Hilfen, Anregungen und Rückmeldungen benötigen, ansonsten sind sie verloren. (…)

Reinhardt: Ist damit der dominante Lehrer rehabilitiert?

Helmke: Ich würde es so ausdrücken: Lehrer sind Experten für das Lehren und Lernen, sie haben eine klare Führungsaufgabe und sind nicht Lernpartner auf Augenhöhe. Ja, laut Hattie ist ein erfolgreicher Lehrer ein kontinuierlicher Diagnostiker, ein aktiver Lenker von Lernprozessen, ein Regisseur – der aber genau weiß, wann er schweigen und den Schülern das Feld überlassen muss. (…)

Reinhardt: Wie wichtig ist das Feedback laut Hattie-Studie? Um welches Feedback geht es Hattie?

Helmke: Feedback ist nach Hattie das A und O beim Lernen. Und zwar viel umfassender als man zunächst annehmen würde, weil man häufig nur das Feedback im Auge hat, das der Lehrer dem Schüler gibt. Mindestens ebenso wichtig ist das Feedback, das der Schüler dem Lehrer gibt, sowohl im Hinblick auf den eigenen Lernprozess als auch bezogen darauf, wie er den Unterricht wahrnimmt. (…) Im Gegensatz zu Lob, das personenbezogen ist, ist Feedback auf den Lernprozess, auf die Sache, die Aufgabe bezogen. Dabei kommt es darauf an, dass die nächsten Schritte klar werden, andernfalls wird Feedback von Schülern nicht genutzt.

Reinhardt: Sie sind ja einer der profiliertesten deutschen Bildungswissenschaftler. Stimmen die Ergebnisse der Hattie-Studie mit Ihren eigenen Studien zur Wirksamkeit von Unterricht überein? Gibt es denn Forschungsergebnisse der Hattie-Studie, die mit Ihren eigenen Untersuchungen nicht zusammen passen?

Helmke: Vieles von dem was Hattie zur Unterrichtswirksamkeit sagt, kannte ich aus den zugrunde liegenden Studien natürlich auch schon, vielfach handelt es sich um „Klassiker“. Ich sehe überhaupt keine Widersprüche, im Gegenteil, ich bin entspannt, weil unsere eigenen Publikationen sowie unsere Werkzeuge zur Unterrichtsdiagnostik (wie EMU = Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung) ganz auf der Linie von Hattie liegen. (…)

Reinhardt: Die letzten Jahre waren in Bezug auf die Rolle des Lehrers/der Lehrerin stark geprägt von Begrifflichkeiten wie „Lernbegleiter, Coach, Berater, Moderator“. Kann man aus der Studie ableiten, dass diese Vorstellungen nun obsolet sind?

Helmke: Viele der besonders lernwirksamen Lehr-Lern-Szenarien sind durch eine ausgesprochen aktive Rolle der Lehrperson gekennzeichnet. Deshalb charakterisiert Hattie den erfolgreichen, lernwirksam unterrichtenden Lehrer als Regisseur, als Aktivator, als change-agent im Gegensatz zur bloßen Begleitung. Hatties Motto ist: Lehrerzentrierter, aber ausgesprochen schülerorientierter und schüleraktivierender Unterricht. (…) Was schon vorher unprofessionell und nach Hattie erst recht nicht mehr legitimierbar ist, das ist jedoch die Verabsolutierung eines Unterrichtsstils. Lehrer nur als Begleiter oder Lernpartner, oder Lehrer nur als Dozenten oder Instrukteure, das ist unhaltbar.

Reinhardt: Welche Rolle spielt die Fachkompetenz des Lehrers/der Lehrerin?

Helmke: (…) Ohne sehr gute fachliche und fachdidaktische Kompetenzen dürfte es aussichtslos sein, dem Hauptanliegen von Hattie zu entsprechen: dem einzelnen Schüler ein individuelles, lernförderliches Feedback zu geben und das vom Schüler an die Lehrperson adressierte Feedback wirklich zu verstehen. Ohne Verständnis der Grundlagen des Faches, ohne Kenntnis alterstypischer Fehler und misconceptions ist das kaum möglich. (…)

Reinhardt: Werden diese weiteren Ziele, also zum Beispiel Erziehung zur Mündigkeit, Demokratiekompetenz, soziales Lernen, Ästhetik, durch solche großen Studien an den Rand gedrängt. Werden sie damit auch im Schulalltag unwichtiger werden?

Helmke: Ich hoffe nicht! Aber ich fürchte, man muss aktiv gegensteuern, damit genau das nicht eintritt, dass also der Blickwinkel auf die Qualität der Schule und des Unterrichts und ihrer Wirkungen nicht einseitig und verengt nur auf schulische Leistungen gerichtet ist. Angesichts der Bildungsstandards und flächendeckender Vergleichsarbeiten und der Fokussierung auf messbaren Lernerfolg durch die Hattie-Studie sehe ich da durchaus eine Gefahr. Die Qualität von Schule und Unterricht muss sich eben auch daran messen lassen, ob und in welchem Ausmaß andere wichtige Bildungsziele erreicht, Kompetenzen gefördert, Werte vermittelt und Orientierungen gegeben werden. Gerade soziale Kompetenzen und Orientierungen wie Hilfsbereitschaft, Empathie, Mitleid, Teamfähigkeit, aber auch eine gesunde Durchsetzungsfähigkeit sind wichtige Ziele, nur dass sie sich nicht so einfach und schon gar nicht schriftlich per Test messen lassen wie fachliche Kompetenzen.

Reinhardt: In Baden-Württemberg [und anderen Bundesländern] gibt es seit geraumer Zeit heiße Diskussionen um die Einführung der Gemeinschaftsschule. Sagt die Hattie-Studie etwas über gelingende Schulstrukturen aus?

Helmke: Eine der zentralen Botschaften Hatties ist ja, dass strukturelle, organisatorische und finanzielle Faktoren Oberflächenmerkmale sind, die per se nicht oder nur wenig lernwirksam sind – im Gegensatz zu den besonders effektiven Tiefenmerkmalen der Unterrichtsqualität. Das spricht nicht gegen die Gemeinschaftsschule, es dämpft nur den unangebrachten Optimismus, das Errichten einer solchen Schule sei schon eine Art Garantie für den Erfolg. Wie gesagt, auf die Lehrer und auf den Unterricht kommt es an! Mit anderen Worten: Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. (…) Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts! (…)

Reinhardt: Was charakterisiert denn nun guten Unterricht?

Helmke: Gut im Sinne von Hattie, also lernwirksam, ist ein Unterricht, (1) in dem den Schülern viel zugetraut, aber auch zugemutet wird, (2) in dem jeder einzelne Schüler an die Grenzen seines Potenzials geführt wird, (3) der alle Möglichkeiten nutzt, sich im Austausch mit Kollegen kontinuierlich ein Bild der Lernprozesse der Schüler sowie des eigenen Lehrens zu machen, (4) der durch strukturierte, effiziente, störungspräventive Klassenführung geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen schafft und (5) der in einem Klima stattfindet, das durch Fürsorge, Respekt, Wertschätzung und Freundlichkeit gekennzeichnet ist. (…)

Reinhardt: Kann man auch Erkenntnisse für eine gute Schule aus der großen Metaanalyse von Hattie ableiten?

Helmke: Schulen, die sich die Erkenntnisse von Hattie zu eigen machen, sind solche, in denen zentrale Prinzipien eines lernförderlichen Unterrichts bewusst thematisiert und realisiert werden. (…) Und schaut man sich die Ergebnisse zur Rolle der Schulleitung bei Hattie differenziert an, dann zeigt sich, dass eine unterrichtsbezogene Führung, verbunden mit starken Bemühungen um ein störungsfreies Lernklima, hohe Erwartungen an Lehrpersonen und herausfordernde Ziele für Lernende, besonders lernwirksam sind.

[Hervorhebungen im Text durch den Autor]

Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau.

Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten

Zum Artikel:  Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15


Erläuterungen zur Aussage von Prof. Helmke zur „Direkten Instruktion“ (siehe John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2015, S. 242ff):

Die „Direkte Instruktion“ (= lehrerzentrierte Lenkung des Unterrichtsgeschehens. Die Lehrperson ist in allen Lernprozessen präsent. Ein solcher Unterricht darf nicht mit einem fragengeleiteten Frontalunterricht verwechselt werden) besteht nach Hattie aus sieben Schritten, und zwar aus:

•  Klaren Zielsetzungen und Erfolgskriterien, die für die Lernenden transparent sind;
•  Der aktiven Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Lernprozesse;
•  Einem genauen Verständnis der Lehrperson, wie die Lerninhalte zu vermitteln und zu erklären sind;
•  Einer permanenten Überprüfung im Unterrichtsprozess, ob die Kinder bzw. Jugendliche das Gelernte richtig verstanden haben, bevor im Lernprozess weiter vorangegangen wird;
•  Einem angeleiteten Üben unter der Aufsicht der Lehrperson;
•  Einer Bilanzierung des Gelernten auf eine für die Lernenden verständliche Weise, bei der die wesentlichen Gedanken bzw. Schlüsselbegriffe in einem größeren Zusammenhang eingebunden werden;
•  einer wiederkehrenden praktischen Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten.

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Individualisierung verkennt das Potenzial sozialer Kontexte beim Lernen

Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden

Lipowsky_IndividualisierungDr. Frank Lipowsky ist seit 2006 Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel
Dr. Miriam Lotz ist Akademische Rätin im Fachgebiet Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel

Auszüge aus:  Lipowsky, F. & Lotz, M. (2015). Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In G. Mehlhorn, F. Schulz & K. Schöppe (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 155-219). München: kopaed

Die Forderung nach einer stärkeren Individualisierung beim Lernen wird als schul­pädagogische Antwort auf die wachsende Heterogenität von Schulklassen verstanden: Da die Lernenden so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (zsf. Kluczniok, Große & Roßbach 2011, Scharenberg 2012, Trautmann & Wischer 2011), sei es erfor­derlich, die Lernangebote an den Bedürfnissen der einzelnen Schüler auszurichten und die Lernprozesse weitgehend individualisiert zu organisieren (z. B. Hessischer Landtag 2014). (S. 155)

(…) Auch wenn mit dem Begriff der Individualisierung tatsächlich unterschiedliche Be­deutungen assoziiert werden: Gemeinsam scheint diesen Verständnissen zu sein, dass die Anpassung der unterrichtlichen Angebote an die Bedürfnisse einzelner Schüler herausgestellt wird und dass daraus folgend Unterrichtsphasen, in denen die Schüler individuell für sich arbeiten, für bedeutsamer und wichtiger gehalten werden, wäh­rend Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die auf die Auseinandersetzung mit Mitlernenden und die Interaktion mit der Lehrperson angewiesen sind, in den Hintergrund rücken.  (S. 159f)

Nach den bisherigen Studien, die individualisierten Unterricht und Formen von Binnendifferenzierung genauer untersuchen, erfüllen sich die Erwartungen, die man mit diesen Formen des Unterrichts verbindet, nicht in dem erhofften Maße. Hattie (2013) gelangte zum Ergebnis, dass individualisierter Unterricht im Mittel einen lern­förderlichen Effekt von d = 0.23 hat, was einem schwachen Effekt entspricht (zur Be­deutung von Effektstärken vgl. Lotz & Lipowsky in diesem Band [Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht – Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion]). Auch die mittlere Effektstärke für binnendifferenzierenden Unterricht ist mit d = 0.16 nicht größer, das heißt Schüler, die in einem Unterricht mit binnendifferenzierten Angeboten lernen, lernen nicht viel mehr dazu als Schüler in einem Unterricht, in dem keine binnendiffe­renzierende Maßnahmen angeboten werden.

Diese eher geringen Effekte über alle [auch ältere] Studien hinweg überraschen zunächst und werfen die Frage auf, warum sich die Erwartungen, die man mit einer zunehmenden Individualisierung verbindet, vielfach nicht erfüllen. Wie im weiteren Verlauf des Bei­trags dargestellt wird, spricht vieles dafür, dass Individualisierungs- und Differenzie­rungsmaßnahmen im Unterricht deshalb eine so geringe Effektivität haben, weil es an der Qualität der Umsetzung mangelt und weil die entsprechenden Maßnahmen häu­fig nicht vertiefte Lernprozesse auf Seiten der Schüler anstoßen können (…) (S. 162f)

(…) Unterricht im Allgemeinen und Formen von Individualisierung im Besonderen zie­len darauf ab, möglichst alle Lernenden gemäß ihrer individuellen Voraussetzungen zu fördern (Leistungsförderung). Häufig wird mit der Forderung nach einer stärkeren Individualisierung auch die Erwartung verknüpft, dass damit die Leistungsunter­schiede zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern verringert werden können (Leistungsausgleich).

Nach allem, was in der Forschung bislang bekannt ist, sind Formen der Individua­lisierung nicht oder allenfalls bedingt geeignet, die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern zu verringern, sofern man diese kompensatorische Funktion überhaupt als Ziel verfolgt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern, wenn sich der Unterricht durch wenig Lehrerlenkung und wenig Strukturierung auszeichnet, eher weitet. (…) Geöffnete Unterrichtsformen laufen demnach Gefahr, insbesondere die Schüler mit geringeren Vorkenntnissen zu benachteiligen, da die Komplexität der behandelten Probleme und Aufgaben das Arbeitsgedächtnis der Schüler zu stark belastet und damit das Lernen und Verstehen neuer Inhalte erschwert. (…) (S. 167f)

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Lernwirksamer Unterricht

Investitionen in Fortbildung sind Investitionen in die Zukunft

Interview mit dem Kasseler Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Lipowsky
Sabine Stahl für BILDUNG BEWEGT:  Was sind aus ihrer Sicht bedeutsame Erkenntnisse der Metastudie Visible learning?
Lipowsky: Die Studie verdeutlicht einmal mehr, welche Bedeutung die einzelne Lehrperson und der von ihr arrangierte Unterricht für die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern haben. Hattie listet ja eine ganze Reihe von Merkmalen lernwirksamen Unterrichts in sehr kompakter Zusammenfassung auf. Merkmale, von denen die Forschung inzwischen weiß, dass sie die Lernentwicklung von Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen können.
Die zweite Leistung der Studie liegt meines Erachtens darin, deutlich zu machen, dass nicht alles, an was wir glaubten, tatsächlich wirkt. Es gibt bestimmte Mythen, die durch die Studie von Hattie entzaubert werden.
Und die dritte Botschaft lautet, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie die professionelle Weiterentwicklung von Lehrpersonen gefördert und unterstützt werden kann. (…)

Wie sieht denn guter Unterricht aus? Sie sprechen in Ihren Schriften immer wieder vom didaktischen und inhaltlichen Fundament guten Unterrichts.
Guter Unterricht lässt sich umschreiben als ein Unterricht, in dem der Unterrichtsgegenstand inhaltlich klar und verständlich erarbeitet und präsentiert wird, in dem an das Vorwissen und an die vorhandenen Konzepte der Lernenden angeknüpft wird und in dem die Lernenden durch herausfordernde Fragen und Aufgaben dazu angeregt werden, vertieft über den Unterrichtsgegenstand nachzudenken und sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Zu gutem Unterricht gehört auch, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Der Unterricht sollte relativ störungsfrei verlaufen; das zielt in Richtung effektives Classroom Management, und die zur Verfügung stehende Zeit sollte effektiv genutzt werden, so dass überhaupt Lerngelegenheiten zur Verfügung stehen. Amerikaner sprechen hier gerne von den „opportunities to learn“. Es ist klar: Wenn Schülerinnen und Schüler über Tische und Bänke gehen, gibt es keine Gelegenheit zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand. Wichtig ist auch die respektvolle und wertschätzende Beziehung zwischen Schülerinnen und Schülern und der Lehrperson. Verschiedene Studien zeigen, dass ein solches unterstützendes Klima im Unterricht, zu dem z.B. auch der konstruktive Umgang mit Fehlern und das Interesse der Lehrperson an ihren Schülerinnen und Schüler gehört, dass sich ein solches Klima positiv auf die Motivation, das Wohlbefinden und das Engagement der Lernenden auswirkt.
Und die kognitive Aktivierung als dritte Basisdimension beschreibt, wie anregend, inhaltlich substantiell die Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand erfolgt. Man kann sich durchaus einen Unterricht vorstellen, der zwar störungsfrei verläuft und in dem scheinbar viel Lernzeit effektiv genutzt wird, in dem auch das Klima stimmt, aber in dem die Lernenden nicht zu einer vertieften Verarbeitung des Inhalts angeregt und herausgefordert werden, weil sie vorwiegend Routineprozeduren ausführen müssen, und die Lehrperson ein enges, kleinschrittiges Frageverhalten zeigt, das vorwiegend nur auf die Wiedergabe von Fakten abhebt. Und stellen Sie sich jetzt folgendes Bild eines kognitiv aktivierenden Unterrichts vor: Da rauchen die Köpfe der Schülerinnen und Schüler. Da wird argumentiert, kontrovers diskutiert, nachgedacht, erläutert und erklärt, hart über das Thema gestritten, da werden Lösungswege verglichen und analysiert, da wird also insgesamt auf einem relativ hohen kognitiven Niveau gearbeitet… (…)

Wodurch zeichnet sich der erfolgreiche und wirksame Prototyp eines guten Lehrers oder einer guten Lehrerin für Sie aus?
Ein guter Lehrer hat das nötige fachdidaktische und fachliche Wissen. Er plant und bereitet den Unterricht sorgfältig vor. Gute Planung und Vorbereitung sind wichtig. Wie baue ich den Unterricht auf? Was muss im Unterricht thematisiert werden, damit sich für Schülerinnen und Schüler ein Gesamtbild eines Themas ergibt? Wie müssen Teilelemente arrangiert und verbunden werden, welche müssen im Unterricht behandelt werden, damit tragfähige Konzepte entstehen? Solche Dinge entscheiden sich auch, und vielleicht sogar in erster Linie, am heimischen Schreibtisch der Lehrperson [oder besser gemeinsam im Austausch mit Fachkollegen]. Eine gute Lehrkraft ist gewappnet für die Verständnisschwierigkeiten, die bei den Schülerinnen und Schülern auftauchen, und kann flexibel darauf reagieren, hat unterschiedliche Erklärungen und Veranschaulichungen parat, wenn Lernende auf die erste Erklärung nicht reagieren oder wenn sich das Verständnis noch nicht einstellt. Ein guter Lehrer stellt aktivierende Fragen, hört zu, gibt Impulse, aber nimmt nicht alles vorweg. Er sorgt für einen abwechslungsreichen Unterricht und ist begeistert von seinem Fach. Schülerinnen und Schüler spüren das. Eine idealtypische Lehrperson misst der Reflexion über Unterricht und Metakognition hohe Bedeutung bei, reflektiert mit den Lernenden über das Lernen und den Lernprozess.

Welche Konsequenzen ergeben sich für Schule und Unterricht und die Lehrerbildung aus den Erkenntnissen der Lehr- und Lernforschung?
(…) Die Lehr- und Lernforschung kann auch mit einigen Mythen aufräumen, was für die Lehrerbildung ebenfalls bedeutsam ist. Hattie gelangt zu dem Fazit, dass die Auffassung, die Lehrperson sei im Unterricht vorwiegend als Moderator gefragt, die empirische Befundlage nicht wiederspiegelt. Vielmehr sei die Lehrperson eher als „Activator“ gefragt. Er unterstreicht dies mit denjenigen Merkmalen von Unterricht, die vergleichsweise hohe Effekte auf die Lernenden zeigen, wie z.B. inhaltliche Klarheit, Lehrerfragen, verteiltes versus massiertes Üben, direkte Instruktion … das alles sind Merkmale von Unterricht, bei denen die Lehrperson vergleichsweise aktiv ist und den Unterricht lenkt.
Mitunter höre ich bei Diskussionen über direkte Instruktion, das habe man doch schon überwunden, und der Konstruktivismus sage doch, wir müssten eher selbstgesteuert und offen arbeiten. Hier geben die Studien eine klare Antwort: Diese Schlussfolgerung ist in dieser Pauschalität unzulässig. Außerdem: Der Konstruktivismus ist keine Unterrichtstheorie, sondern eine Erkenntnistheorie! Und ein häufiges Missverständnis ist, direkte Instruktion mit einem langweiligen Frontalunterricht gleichzusetzen. Direkte Instruktion kann sehr wohl kognitiv aktivierend, verständnisfördernd und motivationsunterstützend sein. Falsch wäre jetzt allerdings auch, direkte Instruktion zum Allheilmittel zu erklären. Es kommt vielmehr auf eine intelligente Kombination von lehrergelenkten und eher schülerorientierten Unterrichtsformen an. (…)

Welche Form von Fortbildung hat denn überhaupt eine Aussicht, wirksam zu sein?
(…) Nimmt man noch einmal Bezug auf die Ergebnisse der Unterrichtsforschung, so sollte sich Fortbildung auch mit solchen Merkmalen von Unterricht beschäftigen, von denen wir wissen, dass sie positive Effekte auf die Schülerinnen und Schüler haben. Hier kommt dann wieder die Metaanalyse von Hattie ins Spiel. Das hört sich natürlich etwas trivial an, aber wenn man betrachtet, was so alles [an Fortbildungen] angeboten wird…
Eine weitere zentrale Bedingung für den Fortbildungserfolg ist, dass die Erweiterung des fachdidaktischen Wissens von Lehrpersonen im Mittelpunkt stehen sollte. Es geht also darum, dass die Lehrpersonen sich konzentriert und vertieft mit dem Lernen und Verstehen von Schülerinnen und Schüler in einem bestimmten Fach und am besten noch zu einem spezifischen Unterrichtsthema auseinandersetzen sollten. Ein so fokussierter Blick erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Fortbildung tatsächlich Unterschiede im Lernen und Verstehen der Schülerinnen und Schüler wahrnehmen können und einen diagnostischen Blick entwickeln. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten sich also in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hineinversetzen. Sie sollten aufgefordert werden, Lösungswege der Lernenden zu antizipieren. Sie sollte vorhersehen, wie Schülerinnen und Schüler reagieren, wenn die Lehrperson auf eine bestimmte Weise vorgeht. (…)

zum Artikel:  BILDUNG BEWEGT NR.13 JUN/2011, Interview: Sabine Stahl

Frank Lipowsky studierte Lehramt für Grund- und Hauptschulen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und unterrichtete mehrere Jahre an verschiedenen Schulen in Baden-Württemberg. Nach seinem Lehramtsstudium war er Lehrbeauftragter für Mathematik und absolvierte ein Diplom-Pädagogikstudium. Mit einer Arbeit zum beruflichen Erfolg von Lehramtsabsolventen in der Berufseinstiegsphase promovierte er 2003 an der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg. Von 2002 bis 2006 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt. Seit 2006 ist er Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel.

Homepage Uni Kassel

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

Wann sind Hausaufgaben effektiv?

Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?

28.01.2016, Heike Schmoll
Wie nervend kann es sein, (…) „wenn Kinder von ihren Eltern nach der Rückkehr als Erstes gefragt werden, ob sie Hausaufgaben aufhaben und wann das Kind dies zu erledigen gedenke, weiß jedes Kind und wissen auch die Eltern aus ihrer Schulzeit. Kinder wollen nicht ständig kontrolliert werden und unter Druck stehen, aber sie brauchen sicher eine ruhige Lernatmosphäre und einen eigenen Arbeitstisch. Das ist aber nicht in allen Familien selbstverständlich [oder gar möglich]. Besonders günstig scheint für den Lernfortschritt zu sein, wenn Eltern sich relativ wenig einmischen, aber zur Unterstützung zur Verfügung stehen. (…)
Eine Studie der UNI Tübingen untersuchte elterliches Engagement bei Hausaufgaben und Leistungsentwicklung bei Sechstklässlern. Aus der Pressemitteilung der UNI Tübingen ist zu lesen:
„Es macht einen großen Unterschied, ob Kinder die Unterstützung der Eltern als Hilfe oder als unliebsame Einmischung und Kontrolle empfinden“, erklärt Sandra Moroni von der Pädagogischen Hochschule Bern, die Erstautorin der Studie. Da Eltern bekanntlich oft verstärkt dann eingreifen, wenn die Leistungen ihrer Kinder nachlassen, frustriert das Kinder oft doppelt. Ihnen wird dadurch signalisiert, dass sie gute Leistungen anscheinend nicht alleine erreichen können. „Das führt zu einem Teufelskreis“, erklärt Moroni. Ihr Rat: Zunächst genau prüfen, warum die Leistung des eigenen Kindes nachgelassen hat, und – ggf. auch gemeinsam mit den Lehrkräften – nach Möglichkeiten suchen, wie es (wieder) selbst Verantwortung für die Hausaufgabenerledigung übernehmen kann.
zur Pressemitteilung der UNI Tübingen

Heike Schmoll in ihrem Artikel: (…) Die Untersuchungen des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie, der alle vorhandenen Studien zu bestimmten Themen zusammengefasst und analysiert hat, kommt zu dem Ergebnis, dass Hausaufgaben nicht den allergrößten Effekt haben. Für viele war das Grund genug, die Abschaffung der Hausaufgaben zu fordern. Wer genau hinschaut, wird allerdings sehen, dass Hattie genau unterscheidet: am Gymnasium erscheinen Hausaufgaben sinnvoller als in der Grundschule. (…)

FAZ, Bildungswelten, 28.01.2015, Heike Schmoll, Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?


Was ist zu „Hausaufgaben“ nachzulesen bei John Hattie in: „Lernen sichtbar machen“?
Beywl und Zierer: Hausaufgaben nehmen bei John Hattie einen Rang im hinteren Drittel der Rangreihe der nach Effektstärken geordneten Faktoren ein. Damit ist für viele klar: Hausaufgaben lohnen sich nicht. Sie könnten abgeschafft werden. Wer diese Schlüsse zieht, hat Hattie falsch verstanden. In den höheren Klassenstufen der High School (im deutschsprachigen Raum betrifft dies z.B. die Gymnasien besonders stark) bringen Hausaufgaben mit Blick auf mathematische, sprachliche und naturwissenschaftliche Kompetenzen mehr als in der Grundschule. Je höher also die Klassenstufe, desto effektiver sind tendenziell Hausaufgaben. Also keine Hausaufgaben in der Grundschule? Nein. Hausaufgaben im Gymnasium können nur dann effektiv sein, wenn die Verantwortung dafür, die damit verbundene Arbeitskultur und die Selbstverpflichtung (´commitment´), eben schon von Anfang an gelernt wurde. (Seite VIII und IX)

(…) Auch die Art der Hausaufgaben macht einen Unterschied. Die Effekte sind in Mathematik am höchsten und in Natur- und Sozialwissenschaften am geringsten. Die Effekte sind höher, wenn der Stoff weder komplex noch neu ist. Hausaufgaben, die ein höheres Niveau an konzeptuellem Denken erfordern, sowie projektbezogene Hausaufgaben sind am wenigsten effektiv. (…) Nach der Auffassung von Trautwein [siehe weiter unten], Köller, Schmitz und Baumert (2002) weisen viele Hausaufgaben und mangelnde Kontrolle auf eine ineffektive Lehrmethode hin. Sie warnen vor Hausaufgaben, die die Motivation der Lernenden untergraben und dazu führen, dass die Lernenden fehlerhafte Routinen verinnerlichen. Sie sprechen sich für kurze, regelmäßige Hausaufgaben aus, die von den Lehrpersonen genau kontrolliert werden. Es wäre möglicherweise effektiver, diese Variante unter den Augen der Lehrperson (in der Schule) umzusetzen. (…) Die [Lern-]Effekte sind größer bei leistungsstärkeren als bei leistungsschwächeren Lernenden sowie bei älteren als bei jüngeren. (…) (Seite 276-277)

John Hatties Erkenntnisse zum Einfluss der Elternunterstützung:
(…) Von ebenso großem Interesse sind jene Familienvariablen, die negativ auf die Lernleistung korrelieren. Zu diesen Faktoren gehören externe Belohnung, Überwachung der Hausarbeiten, negative Kontrolle und Einschränkungen als Strafe für schlechte Noten. Insgesamt gilt: „Je höher die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern in Bezug auf das, was das Kind leisten kann, sind, desto höher sind auch die eigenen Erwartungen des Kindes und desto höher ist am Ende auch die tatsächlich vom Kind erzielte akademische Lernleistung“ (Hong&Ho, 2005, S.40). Diese hohen Erwartungen werden unterstützt durch eine intensivere Kommunikation zwischen Eltern und Lernenden und durch die Selbstkontrolle der Lernenden über das eigene Lernen (siehe auch Fan&Chen, 2001). (…) (Seite 82)
Aus: „Lernen sichtbar machen“, John Hattie, 3. Auflage, 2015


In einer Sendung des wdr5 äußert sich Prof. Trautwein vom Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen zum Thema „Hausaufgaben“:
„Der positive Gesamteffekt von elterlicher Begleitung der Hausaufgaben ist erstaunlich gering und das hat häufig damit zu tun, wenn die Schülerinnen und Schüler den Eindruck haben die Eltern sind kontrollierend, die Eltern sind dirigierend, dann sinkt einerseits die Motivation und zweitens erhöht sich der Eindruck, ich kann das irgendwie nicht selber, meine Eltern müssen mir offensichtlich helfen, bin eigentlich gar nicht so richtig verantwortlich für meine eigenen Hausaufgaben.“

Prof. Dr. Trautwein hat für die Wirkung der Hausaufgaben auf den Lernprozess herausgefunden, dass unter anderem die Menge entscheidend ist. Am erfolgreichsten sind Lehrer, die regelmäßig und in Maßen Hausaufgaben austeilen.

„Wir haben auch untersucht, ob die Qualität der Hausaufgaben einen Effekt darauf hat was Schülerinnen und Schüler lernen und tatsächlich ist das der Fall.“

Schülern, die Probleme beim Lernen haben helfen Hausaufgaben oft am wenigsten, denn sie sind schlecht organisiert, nur wenig motiviert oder bekommen zu Hause nicht die richtige Unterstützung.

„Hausaufgaben haben vielleicht eine besondere Stärke tatsächlich in dem Bereich dass man mit ihrer Bearbeitung auch Selbstregulationsfähigkeiten stärken kann.“

Schüleräußerung: „Ich finde es eigentlich gut, wenn man zu Hause noch etwas zu tun hat, da hat man mehr Ruhe und kann seinen eigenen Lernplan machen und das bearbeiten was man wirklich braucht.“
Die Wirkungen von Hausaufgaben sind also von einer Reihe von Bedingungen abhängig, die sowohl mit der Person des Lehrers, des Schülers und der Eltern zu tun haben.

zur wdr5-Sendung, 13.01.2016, Streithema Hausaufgaben: Sinnvoll oder überholt?


Zentrale Ergebnisse der Hausaufgabenforschung im Überblick:
Wann sind Hausaufgaben effektiv?
Für die Lehrpersonen gilt: Hausaufgaben regelmäßig und häufig stellen, statt selten und umfangreich
• Mit der Kontrolle der Hausaufgaben muss eine inhaltliche Rückmeldung verbunden sein (Lösungsprozess aufzeigen), nicht nur eine Ergebniskontrolle
• Hausaufgaben sollten gut vorbereitet und in den Unterricht integriert sein. Dies hat positiven Einfluss auf die Motivation und die Anstrengungsbereitschaft der Schüler
• Lernende profitieren vor allem dann von Hausaufgaben, wenn sie ihre Aufgaben kontinuierlich, gewissenhaft und regelmäßig erledigen
• Die Anstrengungsbereitschaft der Lernenden hängt auch davon ab, inwieweit sie vom Nutzen der Hausaufgaben überzeugt sind und inwieweit sie die Erwartung haben, die Hausaufgaben zufriedenstellend erledigen zu können
• Schülerinnen und Schüler müssen wissen, wie man Hausaufgaben macht, wie man die Zeiten einteilt, wie man selbstregulierend mit dem Lehrstoff umgeht, umso effektiver sind die Ergebnisse
• Direkte Einmischungsversuche der Eltern sind problematisch, untergraben die Selbständigkeit der Lernenden und wirken sich eher negativ auf die weitere Leistungsentwicklung aus
• Elterliches Verhalten bei Hausaufgaben ist erfolgsversprechender, wenn sie die Selbständigkeit ihrer Kinder fördern und sie bei der Hausaufgabenbearbeitung emotional unterstützen und bekräftigen

vergleiche LERNENDE SCHULE 39/2007, Prof. Dr. Frank Lipowsky, Hausaufgaben: auf die Qualität kommt es an! – Ein Überblick über den Forschungsstand, S.7-9