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Das zweigliedrige Berliner Sekundarschulsystem auf dem Prüfstand

Zusammenfassendes Abschlusskapitel aus dem zweiten Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie[1]


Ein Beitrag des Arbeitskreises Gute Schule Berlin[2]

Ziele der Strukturreform[3]

Das Land Berlin hat die allgemeinbildende Sekundarstufe I zum Schuljahresbeginn 2010/11 von einem fünfgliedrigen auf ein zweigliedriges System umgestellt. An die Stelle der bisherigen nichtgymnasialen Schulformen Hauptschule, Realschule, verbundene Haupt- und Realschule und Gesamtschule trat die neu geschaffene Integrierte Sekundarschule (ISS) […]. Hervorzuheben sind dabei die Umsetzung des an den ISS nunmehr flächendeckenden Ganztagsbetriebs, die Stärkung des Dualen Lernens, die Einführung einer niveaubezogenen Fachleistungsdifferenzierung an allen ISS sowie die Institutionalisierung der Kooperation zwischen ISS und gymnasialen Oberstufen insbesondere im beruflichen Schulsystem.

Die Bildungssenatorin meint durch die Schulstrukturreform folgendes erreichen zu können (S. 470):

  • Alle Kinder und Jugendlichen sollen zu höchstmöglichen schulischen Erfolgen und die übergroße Mehrheit zum mittleren Schulabschluss am Ende der 10. Jahrgangsstufe geführt werden.
  • Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, soll sich deutlich verringern.
  • Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen und ethnischen Herkunft soll deutlich reduziert werden.
  • Mittel- bis langfristig (innerhalb der nächsten zehn Jahre) soll die Abiturientenquote deutlich erhöht werden.

Im Beschluss zur Schulstrukturreform hat das Berliner Abgeordnetenhaus vereinbart, die Auswirkungen der Schulreform, die Umstellung des Systems und das neue Übergangsverfahren, wissenschaftlich begleiten und evaluieren zu lassen. Mit der Durchführung dieser wissenschaftlichen Untersuchung – der BERLIN-Studie –wurde Prof. Dr. Jürgen Baumert (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) mit zwei weiteren Instituten der pädagogischen Forschung beauftragt[4]. Finanziert wird die Studie durch Zuwendungen des Landes Berlin und der Jacobs Foundation in Zürich sowie durch Aufwendungen der beteiligten Institute. (S. 470)


Wird aus Wasser Wein, wenn man der Flasche ein neues Etikett verpasst?[5]


Auszüge aus der Zusammenfassung der zentralen Befunde[6] (BERLIN-Studie), die von der Bildungssenatorin in ihrer Pressemitteilung[7] übergangen wurden:

Über die Zusammenlegung der bisherigen nichtgymnasialen Schulformen zur neu geschaffenen ISS sollte über eine Reduktion besonders belasteter Schulstandorte eine stärkere Angleichung der Lernumwelten im nichtgymnasialen Bereich erreicht werden, von der insbesondere leistungsschwächere Schülerinnen und Schülern profitieren sollten.

Das Muster der vorherigen Schulformgliederung [fünfgliedriges Schulsystem] in der Komposition der Schülerschaft nach Herkunft und Leistungsvoraussetzungen ist [auch nach der Neuordnung der Schulstandorte] an den ISS weiterhin klar zu erkennen. […] Die mit einem gegliederten Schulsystem verbundene soziale und ethnische Entmischung konnte mit den Umgründungen hingegen nicht verringert werden. Die Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft von Schulen mit unterschiedlicher Umgründungsgeschichte haben sich im Vergleich zu den ehemaligen nichtgymnasialen Schulformen tendenziell sogar vergrößert. (S. 474)

Die kohortenvergleichende Untersuchung motivationaler Merkmale und ausgewählter Aspekte schulischen Wohlbefindens ergab insgesamt betrachtet ebenfalls keine größeren Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern vor und nach der Schulstrukturreform (S. 480)

Eine zentrale Zielgruppe der Berliner Schulstrukturreform sind die Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer unzureichenden schulischen Leistungen potenziell von der Exklusion an gesellschaftlicher Teilhabe bedroht sind und prekäre Ausbildungs- und Beschäftigungsverläufe erwarten lassen.

Nach den Ergebnissen des letzten PISA-Ländervergleichs gehörten im Schuljahr 2005/06 in Berlin 13 Prozent der 15-Jährigen zu einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die in allen drei untersuchten Leistungsbereichen (Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften) das Bildungsminimum verfehlten und damit in ihrem weiteren Bildungsgang einem besonderen Risiko des Scheiterns ausgesetzt waren. Inwieweit sich dieser Anteil im Anschluss an die Berliner Schulstrukturreform verändert hat, ließ sich im Rahmen der vorliegenden Studie nicht untersuchen.[8] (S. 481) [Bekannt ist: Über 3000 Berliner Jugendliche jährlich ohne Schulabschluss.]

In der Gruppe mit multiplem Bildungsrisiko sammeln sich Jugendliche aus zugewanderten, bildungsfernen und sozial schwachen Familien. 75 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund. An der Sozialstruktur der Risikogruppe hat sich durch die Schulstrukturreform somit nichts geändert. […] In einem Vergleich der Erklärungsbeiträge von Merkmalen der Schulbiografie und der Herkunft zeigte sich, dass Bildungsarmut in erster Linie das Ergebnis einer schon in der Grundschule[9] kritischen Schulkarriere ist. Herkunftsmerkmale tragen dann zur Kumulation des Misserfolgs zusätzlich bei. Die Grundstruktur der Risikofaktoren hat sich als Folge der Schulstrukturreform und ihrer Begleitmaßnahmen nicht verändert. (S. 482)

[In den] Schulleistungen in allen vier untersuchten Domänen [zeigte sich ein] Leistungsrückstand der Risikogruppe um mehrere Schuljahre. An diesem Kompetenzdefizit hat sich mit der Schulstrukturreform nichts geändert. (S. 482) […] Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems. (S. 483)

Definitionsgemäß fanden sich für alle untersuchten Leistungsaspekte (Fachleistungen und kognitive Grundfähigkeiten) erhebliche Vorteile zugunsten der hochleistenden Schülerinnen und Schüler. Die Leistungsunterschiede bewegten sich je nach untersuchter Domäne und Kohorte zwischen 1,5 bis zu über zwei Standardabweichungen und entsprachen damit mittleren Lernzuwächsen von mehreren Schuljahren. […] Mit Blick auf berufliche Interessen und Persönlichkeitsmerkmale stachen vor allem das deutlich höhere intellektuell-forschende Interesse und die höhere Offenheit für Erfahrungen der Schülerschaft mit besonders hohen Fachleistungen hervor. (S. 485) […] Die Ergebnisse zum soziodemografischen Hintergrund machen deutlich, dass sich zu den individuellen Ressourcen der besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler auch noch ein familiales Unterstützungssystem gesellt, das den weiteren Bildungsweg dieser Jugendlichen positiv beeinflussen dürfte. (S. 485)

Eine zentrale Zielsetzung der Neustrukturierung des Berliner Sekundarschulwesens war die Erhöhung des Anteils der Schülerinnen und Schüler, die die Schule mit der allgemeinen Hochschulreife – dem Abitur – verlassen. Erreicht werden soll dieses Ziel vor allem über eine Erhöhung der Abiturientenquote im nichtgymnasialen Bereich, sprich an der neu geschaffenen ISS.

Die Anteile der Schülerinnen und Schüler, die die formalen Voraussetzungen zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe erfüllen, haben […] deutlich zugenommen. Im nichtgymnasialen Bereich [ISS] fand sich ein Anstieg von 24 auf 41 Prozent. Der Anstieg fiel sowohl an Schulen ohne als auch mit am Schulstandort vorhandener gymnasialer Oberstufe erheblich aus. Gleichzeitig hat sich das mittlere Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler im nichtgymnasialen Bereich [ISS] kaum verändert. (S. 486)

Die Befunde [geben] somit durchaus Anlass zu der Annahme, dass die Vergabe der Übergangsberechtigung in […] der neu strukturierten Berliner Sekundarstufe nur sehr eingeschränkt mit dem erforderlichen Leistungsniveau zum erfolgreichen Durchlaufen der Oberstufe einhergeht. Das Erreichen hinreichender Leistungsstandards scheint somit im Zuge der Öffnung von Bildungswegen im vorliegenden Fall zumindest in Teilen fraglich.[10] (S. 487) Maßnahmen zur Sicherstellung hinreichender Leistungsstandards und vergleichbarer Bewertungsmaßstäbe beim Erwerb der Oberstufenzugangsberechtigung zählen somit zu den drängendsten Aufgaben und Herausforderungen im neu strukturierten Berliner Sekundarschulwesen. (S. 488)

Mit der Berliner Schulstrukturreform ist das langfristige Ziel verbunden, herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungserfolg deutlich und nachhaltig zu reduzieren (Abgeordnetenhaus Berlin, 2009).

Von einer Entkopplung von Bildungsherkunft und Übergangsberechtigung im nichtgymnasialen Bereich kann also trotz des starken generellen Anstiegs der Berechtigungsquote [von 24 auf 41 Prozent] nicht gesprochen werden. Ähnliches lässt sich auch für den Migrationshintergrund konstatieren. […] Insgesamt ist somit also auch nach der Schulstrukturreform von ausgeprägten bildungs-und migrationsbezogenen Disparitäten beim Erwerb der Oberstufenzugangsberechtigung auszugehen. (S. 489)

Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zeigen geringere Kompetenzen, besuchen seltener Gymnasien, streben insgesamt betrachtet seltener das Abitur an und gehören häufiger zur „Risikogruppe“ derjenigen Schülerinnen und Schüler, die ein Mindestniveau an Basiskompetenzen, das für einen erfolgreichen Übergang in die berufliche Erstausbildung nötig ist, nicht erreichen. Zu einer erfolgreichen Integration in einer multiethnischen Gesellschaft gehören aber nicht nur schulischer Erfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern auch interkulturelle Verständigung und ein geteiltes Wertesystem. (S. 491)

[So gaben] etwa 70 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Akkulturationstyp[11] an, der mit einer positiven soziokulturellen und psychologischen Adaption einhergehen sollte. Die Kehrseite dieses Befunds ist aber, dass etwa 30 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sich entweder keiner der Kulturen zugehörig fühlen (Marginalisierung) oder angaben, „immer Teil der Herkunftskultur“ zu bleiben und „niemals Deutsch“ werden zu können (Separierung). (S. 492)

Schulformwechsel vom Gymnasium zurück an die ISS

Schülerinnen und Schüler an Gymnasien, denen es [im Probejahr] nicht gelingt, die für die Versetzung notwendigen Schulleistungen zu erbringen, setzen ihre Schullaufbahn im Anschluss an die 7. Jahrgangsstufe [Gymnasium] in der 8. Jahrgangsstufe an einer ISS fort [Schulformwechsel]. (S. 493) Lediglich 42 Prozent der Schulformwechsler verfügten über eine den Besuch des Gymnasiums einschließende Empfehlung, während dies auf Seiten der am Gymnasium verbliebenen Schülerinnen und Schüler für rund 90 Prozent der Fall war. […] Der Schulformwechsel vom Gymnasium [an eine ISS] ist zum überwiegenden Teil ein Phänomen der Schülerschaft mit Migrationshintergrund (78 Prozent). (S. 495)

Weitere Ergebnisse der Studie[12]

Die Befunde [bestätigen die] These, dass schulstrukturelle Merkmale bzw. Veränderungen für das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern eher von nachrangiger Bedeutung und stattdessen lernprozessnähere Aspekte wie die Unterrichtsqualität ausschlaggebend sind (z.B. Hattie, 2009).[13]  (S. 498)

[Die] Schulstrukturreform jedoch [konnte] noch keinen verbesserten – fördernden und fordernden – Unterricht und ebenso wenig die optimale Gestaltung und Nutzung des Ganztagsbetriebs garantieren. (S. 498)

[Zur] Sicherung eines Anforderungsniveaus in den Erweiterungskursen der ISS, das auf den Übergang in die gymnasiale Oberstufe vorbereitet […] bedarf es eines ausreichenden Einsatzes von Lehrkräften mit Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II und mit Oberstufenerfahrung.[14] (S. 498)

Die Herausforderungen der Optimierung der Entwicklungsprozesse liegen in der pädagogischen Arbeit der Schulen und der fachlichen Qualifikation des Personals.[15] (S. 499)


Was bleibt nach eingehender Prüfung der Ergebnisse der „BERLIN-Studie“ und den Aussagen in der Pressemitteilung der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) übrig von den „zahlreichen positiven Entwicklungen“ der neuen Schulstruktur und der Feststellung: „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet“?

  • Über 3000 Berliner Jugendliche sind jährlich ohne Schulabschluss. Fast jeder neunte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2014/2015 die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss, verlassen. Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr schlechter.
  • Im Leistungsstand der Risikogruppe zeigt sich ein Rückstand um mehrere Schuljahre. An diesem Kompetenzdefizit hat sich mit der Schulstrukturreform nichts geändert. Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems. (S. 481-489)
  • In Berlin verschärft sich der Mangel an Grundschulpädagogen massiv. Knapp 1000 für das Jahr 2016 zu besetzende Stellen stehen nur 175 vollständig ausgebildete Referendare gegenüber.
  • Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts dürfte an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. Immer mehr Lehrer sind ohne pädagogische Ausbildung!
  • Bereits bis 2018 werden in Berlin rund 22.000 zusätzliche Schulplätze benötigt. Bis 2020/21 wird mit 40.000 zusätzlichen Schülern gerechnet.[16]
  • Bei der Einstellungsrunde Februar 2017 haben von 1037 Lehramtsabsolventen, die sich für ein Referendariat in Berlin beworben und eine Zusage erhalten haben, 484 Bewerber (47 Prozent) abgesagt.[17]
  • In Berlin müssen in den kommenden sieben Jahren 16.000 ausgebildete Pädagogen eingestellt werden.[18]

[1] http://www.dipf.de/de/forschung/projekte/pdf/steubis/BERLIN_Studie_Maerz_2017_wissenschaftliches_Fazit.pdf
[2] Ausgearbeitet für www.Schulforum-Berlin.de.  Zum Arbeitskreis Gute Schule Berlin haben sich Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Bildungseinrichtungen sowie Eltern aus Berlin zusammengeschlossen. Sie beobachten, besprechen, analysieren und kommentieren die bildungspolitischen Bestrebungen und Reformen in Deutschland und informieren die interessierte Öffentlichkeit. email: gute-schule-berlin@online.de
[3] Aus BERLIN-Studie: 14.1  Einleitung, S. 470f
[4] Weitere Beauftragte: Prof. Dr. Kai Maaz, Direktor am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt und Berlin und Prof. Dr. Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel
[5] Aus: taz, 15.3.2017, Anna Klöpper, Studie zur Berliner Schulreform – Schlechte Noten für Sekundarschulen, „Wird aus Wasser Wein, wenn man der Flasche ein anderes Etikett verpasst? Natürlich nicht.“
[6] Aus BERLIN-Studie: 14.2  Zusammenfassung der zentralen Befunde, S. 471-496
[7] Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vom 15.3.2017, „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet“, unter https://www.berlin.de/sen/bjf/service/presse/pressemitteilung.571189.php
[8] Bestätigt ist: Über 6000 Berliner Jugendliche jährlich ohne Schulabschluss. Fast jeder neunte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2014/2015 die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss, verlassen. Das geht aus einer Erhebung der Senatsbildungsverwaltung hervor. Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr schlechter: Für das vergangene Schuljahr lag die Quote bei 10,9 Prozent, im Unterrichtsjahr 2013/2014 hatten 9,2 Prozent ihre Schullaufbahn ohne Abschluss beendet. Auch dieser Wert lag deutlich über dem der beiden Vorjahre mit 7,9 beziehungsweise 7,4 Prozent. Bundesweit wird die Quote mit rund sechs Prozent angegeben.
http://www.morgenpost.de/berlin/article207017017/Jeder-neunte-Berliner-Jugendliche-schafft-die-Schule-nicht.html
[9] In Berlin verschärft sich dieses Jahr der Mangel an Grundschulpädagogen massiv. Knapp 1000 für das Jahr 2016 zu besetzenden Stellen stehen nur 175 vollständig ausgebildete Referendare gegenüber. Dies teilte die Bildungsverwaltung auf Anfrage mit. Der Mangel war seit langem absehbar. Bildungssenatorin Scheeres findet trotzdem, sie habe nichts falsch gemacht.
http://www.tagesspiegel.de/berlin/lehrermangel-in-berlin-was-der-senat-versaeumt-hat-und-was-jetzt-passieren-muesste/12931342.html
[10] Beiträge zur Niveausenkung an Berliner Schulen siehe:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr; Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss; Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Lehrer finden Mathe-Prüfungen „Pillepalle“
[11] Akkulturation = Hineinwachsen eines Jugendlichen in seine kulturelle Umwelt durch Erziehung
[12] Aus BERLIN-Studie:  14.3  Diskussion der Befunde, S. 496-498
[13] Weitere wichtige Forschungsergebnisse in: John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, 2014, übersetzt und überarbeitet: Klaus Zierer, Wolfgang Beywl
[14] Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts wird kaum erhoben, dürfte aber an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. (…) [Weiter wird berichtet, dass] es inzwischen Sekundarschulen gibt, die nur noch über einen einzigen ausgebildeten Mathematiklehrer verfügen.
Der Tagesspiegel, 28.10.2016, Susanne Vieth-Entus, Amory Burchard,  Deutsch, Mathe, Englisch – keine Besserung in Sicht; siehe auch:  IQB-Bildungstrend 2015 Zusammenfassung, S. 29, Fachfremde Lehrkräfte, Quereinsteiger
[15] In Physik, Chemie, Biologie und Informatik waren von 226 neu eingestellten Gymnasiallehrern in Berlin 145 Quereinsteiger, in Mathematik von 152 Neueinstellungen 71 ohne pädagogische Ausbildung; an den Berliner Grundschulen sind 40% Quereinsteiger, aus FAZ, 22.3.2017, Heike Schmoll, Immer mehr Lehrer ohne pädagogische Ausbildung
[16] Tagesspiegel, 9.3.2017, Susanne Vieth-Entus, „Operation Schulbau“ und Gerd Nowakowski, „Ordentlich Betrieb machen“
[17] Tagesspiegel, 29.3.2017, Sylvia Vogt, „Referendare: Viele Bewerber springen ab“
[18] ebd., http://www.tagesspiegel.de/berlin/lehrermangel-in-berlin-referendare-jeder-zweite-bewerber-springt-wieder-ab/19582940.html

„Für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit: Kompetenzorientierung als Inkompetenz“

Kompetent in Kompetenz?

1. Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz“ – am 7./8. Juli 2017 in Frankfurt-Main

Die Kompetenzorientierung, so fürchten die Verantwortlichen, wird auch an den Universitäten, wie schon an den Schulen, mit einem weitgehenden Verzicht auf die Vermittlung umfassender Wissensbestände und mit der Einführung der völlig umstrittenen reformpädagogischen “Neuen Lernkultur” einhergehen – und dies alles, ohne dass jene Konzepte je empirisch abgesichert worden wären.

Die Veranstaltung wird von Professoren der Goethe-Universität, die in der Medizin, den Rechts- und den Naturwissenschaften Lehrverantwortung tragen, organisiert – im Angesicht der von der KMK und HRK geplanten Einführung der strikten Kompetenzorientierung in die universitären Curricula.

Der Tagungsort ist das Universitätsklinikum in Frankfurt-Main. Der Eintritt ist frei und für jeden Interessierten möglich.  Den Veranstaltern ist es gelungen, renommierte Vortragende aus unterschiedlichen Fachbereichen deutscher und österreichischer Universitäten und aus der Politik zu gewinnen.

zum Programm

Blamable Schulleistungen

Regelstandards von mehr als der Hälfte der Schüler nicht erreicht

Die Vergleichsarbeiten Vera 8 (siehe unten) der Schüler an Haupt-, Werkreal-, Real- sowie Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg sind desillusionierend ausgefallen.

Die Schulleistungen befinden sich im freien Fall, was ein Ergebnis schulpolitischer Versuchsanordnungen ohne Berücksichtigung von Leistungen ist, berichtet die FAZ in ihrem Artikel „Blamable Schulleistungen“ vom 9.7.2016. Das wichtigste Ergebnis des Leistungsvergleichs ist, dass die Regelstandards von mehr als der Hälfte der Schüler nicht erreicht werden, sie bleiben – wenn überhaupt – auf Grundschulniveau. An einen gelingenden Übergang in die gymnasiale Oberstufe bzw. in eine Berufsausbildung ist nicht zu denken. Die Schulen in Baden-Württemberg haben – trotz gewaltiger Investitionen in Personal- und Sachmittel [besonders in die Gemeinschaftsschulen] – ein erhebliches Qualitätsproblem.

Rechtschreibung:
An Haupt- und Werkrealschulen erreichen 67% der Schüler nicht das erforderliche Leistungsniveau (Regelstandard), an den Realschulen sind es in diesem Fach 20%, an den Gemeinschaftsschulen 48%.

Mathematik:
An den Haupt- und Werkrealschulen verfehlten die Regelstandards 84% der Schüler, an den Realschulen 44% und an den Gemeinschaftsschulen sind dies 64% der Schüler.

Anzumerken ist, dass von den rund 270 Gemeinschaftsschulen in BW, eingerichtet durch die vorhergehende grün-rote Landesregierung, nur 41 Schulen (die zuerst gegründet worden sind) teilgenommen haben.

An den Gymnasien erreichten in den abgefragten Fächern weniger als 10% der Schüler die Mindeststandards nicht.

Durch die unterschiedlichen Reformansätze verschiedener Regierungen ist das Schulsystem in Baden-Württemberg „unübersichtlich“ geworden. [Es wurde mit verschiedenen Schülerjahrgängen, auf Vorgabe der Bildungspolitik, experimentiert.] Die derzeitige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hält es für durchaus angebracht, das strittige pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschulen noch einmal zu überprüfen.

Artikel:  FAZ, 09.07.2016, Rüdiger Soldt, Blamable Schulleistungen; FAZ, 11.07.2016, Rüdiger Soldt, Schlecht rechnen an der „Restschule“


siehe auch: FAZ vom 6.8.2016, „Wir wollen Ruhe im Schulsystem“. Rüdiger Soldt inteviewt die neue baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann:

(…) Nach den Vergleichsarbeiten Vera 8 sind die Leistungen der Gemeinschaftsschüler im Rechnen und in der Orthographie besonders schlecht. Wie wollen sie die Qualität der Gemeinschaftsschulen verbessern?

(…) Wir müssen bei der Qualität nachjustieren. Gerade an den Gemeinschaftsschulen gibt es Defizite bei den zentralen Kompetenzen. Das pädagogische Konzept ist nun mal so, wie es ist und wie es von der Vorgängerregierung auf den Weg gebracht worden ist. Auch die Eltern erwarten ja zu Recht Qualität, und wenn es dafür notwendig ist, werden wir auch das pädagogische Konzept hinterfragen müssen.


siehe auch:  Rundbrief Nr. 1/2016, Schule und Bildung in der neuen Legislaturperiode, Arbeitskreis Schule und Bildung in Baden-Württemberg


Die Vergleichsarbeiten VERA 8 sind schriftliche Arbeiten in Form von Tests, die den Kompetenzstand von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der länderübergreifend verbindlichen Bildungsstandards im zweiten Schulhalbjahr der Klasse 8 untersuchen. Im Rahmen von VERA 8 werden einzelne ausgewählte Kompetenzbereiche in den Fächern Deutsch und Mathematik, sowie Englisch oder Französisch überprüft.

Die Arbeiten werden länderübergreifend vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Berlin entwickelt [ Beispielaufgaben ]. VERA ist das einzige explizit standardbezogene Verfahren, das bundesweit eingesetzt wird, um insbesondere den einzelnen Schulen eine abgesicherte datengestützte Standortbestimmung zu ermöglichen und daraus einen Handlungsbedarf abzuleiten.

Die Vergleichsarbeiten VERA 8 vermitteln den Lehrkräften, den Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern und Erziehungsberechtigten objektive Informationen über den individuellen Lernstand zum Testzeitpunkt hinsichtlich ausgewählter Kompetenzbereiche der Bildungsstandards.

Es stehen jeweils drei verschiedene Testheftversionen pro Fach mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad zur Verfügung. Das Testheft mit mittlerem Schwierigkeitsgrad (II) setzt sich aus Aufgaben des weniger schwierigen Testheftes (I) und des schwierigsten Testheftes (III) zusammen.
Die Hauptschulen / Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen [in BW] setzen die Testheftversion I und die Gymnasien die Testheftversion II ein.


VERA 8-Prüfungen in NRW

Im Artikel der Wirtschaftswoche vom 17.03.2016, „Bildungskatastrophe Deutschland: So lächerlich sind die Mathe-Prüfungen in NRW“ von Ferdinand Knauß ist zu lesen:

„Zum extrem niedrigen Anspruch der Aufgaben kommt noch eine großzügige Fehlertoleranz: Schon mit 38 Prozent richtig beantworteten Aufgaben gilt ein Schüler als „ausreichend“ kompetent.“

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) und die Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW) nahmen gemeinsam wie folgt korrigierend Stellung:

(…) Die Lernstandserhebungen dienen der Unterrichtsentwicklung, nicht der Diagnose der Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler. Daher ist auch keine Benotung vorgesehen (…). Es geht bei den Lernstandserhebungen somit nicht darum, ob Schülerinnen und Schüler einen Test “bestehen“, sondern um die Rückmeldung des Leistungsstands von Klassen zum Zweck der Unterrichtsentwicklung. Auf Noten verweisende Begriffe wie „ausreichend“ sind daher nicht passend.


Frage:  Sind nun die „irreführenden Darstellungen“ fachlich richtig gestellt oder die Ergebnisse des Vergleichstests durch die Institute schöngeredet?

Gymnasiale Bildung – heute und morgen

Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’.

aus PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann – Universität Wien, Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

(…) Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin bundesweit für Aufregung, sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: »Ich bin fast achtzehn und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben alles so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht eher darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch) Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt nämlich ohnehin fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einst assoziiert waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der moralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins.

Im gegenwärtigen Diskurs fungiert ‘Bildung’ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Schulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’. (…)

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. (…)

[Kinder und Jugendliche] werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substantielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte ‘Selbstkompetenz’ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert. Ähnlich verhängnisvoll ist die Vorgabe, dass alles und jedes, was gelernt wird, seine Anwendung finden muss. Denn dies bedeutet, dass die Kunst und die Wissenschaften, die großen Dokumente der eigenen und von fremden Kulturen, Gedanken- und Glaubenssysteme, die Natur und ihre Gesetze ausschließlich unter der Perspektive, ob Kinder und Jugendliche sie in ihrer Lebenswelt irgendwie nützen können, angesprochen und vermittelt werden dürfen. Die damit verbundene geistige und seelische Verarmung ist mit Händen zu greifen. (…)

Gleichzeitig verstehen sich aber vor allem primäre und sekundäre Bildungseinrichtungen zunehmend als Orte, an denen es weniger um Kompetenzen und Qualifikation, sondern um soziale Integration und die Herstellung gerechter Verhältnisse gehen soll. Schule soll dann die Defizite der Gesellschaft ausgleichen und für Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten und niemand darf zurückbleiben. Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben. Wer gegen Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen beschneiden zu wollen. Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand aussetzen. (…)

Wenn Bildung auch bedeutet, jungen Menschen jene Kulturtechniken und jene Kenntnisse zu vermitteln, die als notwenige Voraussetzung gelten, um die Gesellschaft, ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Wissensformen zu verstehen und deshalb daran partizipieren zu können, dann kann zur Einlösung dieses Anspruches der Maßstab nicht nur im Individuum liegen. Bildung heißt auch, sich an den Errungenschaften einer Kultur abzuarbeiten, die nicht beliebig disponierbar sind. (…)

Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass nichts so sehr in der Wissensgesellschaft verachtet wird, wie der Erwerb von Wissen. ‘Faktenwissen’ ist zu einem Unwort geworden, diese Form des Wissens muss aus den Schulen verbannt werden, niemand soll mit Dingen belastet werden, die man entweder überall nachschlagen kann oder die ohnehin rasch veralten. Die flächendeckende Umstellung der Lehr- und Studienpläne an Schulen und Universitäten von definierten Kenntnissen und Inhalten auf ‘Kompetenzen’, ‘Workloads’ und ‘Soft Skills’ ist nur das sichtbarste Zeichen einer generellen Entwertung des Wissens. (…)

Nun wäre es Unsinn zu leugnen, dass Ausbildungsprozesse und eine breite Palette von Ausbildungsmöglichkeiten für eine moderne Gesellschaft von allergrößter Bedeutung sind. Fraglich aber bleibt, ob Bildung tatsächlich auf Lebensnähe, Schülerzentriertheit, Praxisrelevanz und eine am Kriterium des ökonomischen Nutzens orientierte Ausbildung reduziert werden kann. Das Problem beginnt schon damit, dass der Begriff des ‘Nutzens’ selbst höchst vage ist und oft nicht mehr als divergierende gesellschaftliche Interessen beschreibt, die sich zudem rasch ändern. (…) Ein Kunstwerk verstehen und interpretieren zu können, hat deshalb sehr wohl mit Bildung zu tun, die Fähigkeit, eine Steuererklärung ausfüllen zu können, mag lebensdienlich sein, stellt aber keine Bildungsperspektive dar. (…)

Zwar weiß niemand mehr, was unter Bildung zu verstehen ist, aber alle sind sich einig, dass Bildung die wichtigste Ressource in einer wettbewerbsorientierten Wissensgesellschaft darstellt. Der Schluss, den viele daraus ziehen, ist allerdings merkwürdig: In immer kürzerer Zeit sollen immer mehr junge Menschen aus immer unterschiedlicheren Milieus immer kostengünstiger immer besser ausgebildet werden. Das kann nicht gut gehen. Die Absolventen eines klassischen Gymnasiums hätten noch gewusst, dass im deutschen Wort Schule das griechische scholé steckt: Es bedeutet so viel wie Muße. Wer in Bildungsfragen Hektik verbreitet – und dies macht fast jeder – ist schon auf dem falschen Weg.

Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann am 12. Januar 2016 am Edith-Stein-Gymnasium in Bretten, Baden-Württemberg, auf Initiative des PhV-Bezirksverbandes Nordbaden. Der gesamte Vortrag ist nachzulesen in PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes

Die Transparenzproblematik in der Bildungspolitik

Ideologie, Macht, Schule.
Die Transparenzproblematik in der Bildungspolitik am Beispiel von Baden-Württembergs Schulreformen

Thomas Rajh

Es ist fragwürdig und wenig hilfreich, wie Bildungspolitik beständig zu Lasten von Schülern, Lehrern und Familien durch andauernde Reformen und Novellen Schulentwicklung an der qualitativen Oberfläche schwimmen lässt und zugleich vor sich her treibt. Inmitten dieses hektischen, stets durch das Gefühl des Defizits geprägten hinterher Eilens von Schule und Lehrkräften bemerkt ein ganzes Land voller Lehrer, Schüler und Eltern offensichtlich nicht, welch Wandel sich vor aller Augen in der Schule Baden-Württembergs derzeit vollzieht. Proteste gibt es, wenn überhaupt, gegen jene an der Oberfläche schwimmenden Fettaugen eines übergewichtigen Bildungsplanentwurfs, die in Form unliebsamer Leitperspektiven gleichsam das von manchem gesuchte und gefundene Haar in der Suppe sind. (…)

Die Einführung der Gemeinschaftsschule ist ein sozial-staatliches Experiment, das versucht, durch das Prinzip der Gemeinschaft das Prinzip der Leistung und damit eines behaupteten sozialen Egozentrismus zu beseitigen. Allerdings fragt sie nicht erst nach, ob der Einzelne das will. Wie die Parteien und die Medien dem Wähler mit Verweis auf die schlimmen Folgen der Nichtwahl nimmt die Landesregierung Baden-Württembergs den Eltern und Schülern künftig die Wahl des Bildungsweges ab, denn was gut ist, ist fortan definiert – wenn man sich nicht explizit als „radikaler“ Egoist outen will, weil man eben doch einen möglichst hohen Bildungsabschluss jenseits des Einheitsniveaus, noch dazu vielleicht an einem Gymnasium anstreben möchte.

Die Gemeinschaftsschule wird, das zeichnet sich überdies bereits seit Ihrer Erfindung ab, die neue Restschule im Südwesten sein und damit die Rolle der Hauptschule nahtlos übernehmen. Es handelt sich bei ihrer „Kundschaft“ um alten Wein in neuen Schläuchen. Erstaunlich, dass durch diesen Etikettenwechsel doch viele glauben, in den ehemaligen Haupt- und Werkrealschulen seien nun höhere Bildung und qualifiziertere Schüler unter dem Banner eines neuen Schulnamens und einer neuen Schulart versammelt.

Die Grundschulempfehlung wird wieder höhere Verbindlichkeit zurückbekommen, gleich unter welcher Landesregierung, denn es ist schlicht zu teuer, beinahe 200 Schulklassen von Sitzenbleibern jedes Jahr aufzufangen. Das ist im Grunde nicht schlecht, denn nur über Kosten-Nutzen-Rechnungen wird in Sachen Schule Politik gemacht. Wenn das Scheitern der Schulideologie in der Praxis zu teuer wird, wird man zurückrudern müssen. Es ist indes absehbar, dass man sich dieses Problems durch weitere Absenkung des Niveaus an Gymnasien bzw. durch weitere Nivellierung mittels Integration der Schularten entledigen wollen wird. (…)

Schularten kommen und gehen, das war schon immer so. In diesem Sinne gibt es keinen Grund zur Aufregung. Nur sollte man pädagogisch Unverzichtbares nicht an deren Erscheinen und Vergehen binden, weil Entwicklung von Schule sonst niemals pädagogischen Zielen und damit den Interessen von Kindern und Jugendlichen dient, sondern Setzungen von Schulpolitik und politischer Ideologie. Letztere dient allein dem Erhalt der eigenen Macht, nicht dem Wissen und der Bildung anderer. Die aktuelle Forderung der baden-württembergischen grün-roten Landesregierung nach einem „Schulfrieden“ (Schmid 2014) gibt vor, genau diese ideologischen Grabenkämpfe künftig beseitigen zu wollen, fordert aber zugleich die Akzeptanz der auf Basis ihrer eigenen ideologischen Überzeugungen geschaffenen Fakten. Überdeutlich wird hier die berüchtigte Arroganz der Macht. (…)

Was die Gemeinschaftsschule als Ausdruck politischen Willens tatsächlich abschaffen soll, ist der Unterschied zwischen mehr oder weniger Gebildeten (dabei geht es längst nicht mehr um Bildung im klassischen Sinne). Gerecht sind demnach eine Schule und eine Gesellschaft von Gleichen. Worin aber soll die Gleichheit bestehen? Aus der Perspektive der Kompetenzpädagogen zählt allein, ob jeder Einzelne gemäß seinen individuellen Befähigungen „optimal“ berufs- und lebensfähig wird. Der Maßstab der Bezugsnorm ist ausschließlich intrasubjektiv. Jeder intersubjektive Vergleich, der auf kriterialer Maßgabe basiert, führt demnach bereits zu Ungerechtigkeit. Unterschiede zwischen Menschen sind tendenziell diskriminierend, weshalb der vergleichende Blick abgeschafft wird. Übrigens müssen sich Gemeinschaftsschulen auch nicht – wie alle anderen Schulen – einem öffentlichen Leistungsvergleich stellen (Schmoll 2014). Weil es um Kompetenz, nicht mehr um Bildung geht, handelt es sich um eine besonders folgenschwere Entwendung von Gleichheitschancen, denn Gleichheit im Sinne von Gleichberechtigung kann es nur unter Gebildeten, nicht aber unter Kompetenten geben, die gemäß den Gesetzen des Marktes kontinuierlich evaluiert und selektiert werden müssen. Hinter der vermeintlichen Individualisierung verbirgt sich somit ein Konzept, das in Wahrheit in hohem Maße individualitätsfeindlich ist, weil es den Vergleich individueller „Herausbildung“ von Unterschieden nicht erträgt. Nur, wenn für alle das Gleiche gilt, kann es gemäß dieser Logik auch gerecht sein. Der Begriff der Vielfalt wird so durch die Vereinheitlichungsschmiede ad absurdum geführt. Es scheint, als wären diese paradoxen Zusammenhänge den Protagonisten der neuen Schulart im Südwesten selbst nicht klar. Sind sie es allerdings doch, dann wäre hier von einer in hohem Maße intransparenten und deshalb ideologisch inspirierten Schulpolitik zu sprechen. (…)

Das Denken der Menschen indes vermag man durch eine Schulreform, die sich selbst weder über ihre Mittel und Wege im Klaren ist noch ihre Grundüberzeugungen und Zielperspektiven preisgibt und damit einer kritischen Prüfung zuführt, wohl kaum zu korrigieren.


Thomas Rajh ist Pädagoge an einem Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung in Baden-Württemberg. Er leitet dort die Bereiche der sozialwissenschaftlichen Fächer und der Qualitätsentwicklung. Zuvor war er mehrere Jahre Lehrer an Grund-, Haupt- und Werkrealschulen. Derzeit promoviert er an der Pädagogischen Hochschule Freiburg mit einer Arbeit zu „Domänenspezifik und Interdisziplinarität“. Er ist 38 Jahre alt, verheiratet und hat vier Kinder.

zum Artikel:  Schulpädagogik heute, H.12/2015, Prolog-Verlag, Transparenz – im Unterricht und in der Schule, Thomas Rajh, Ideologie, Macht, Schule. Die Transparenzproblematik in der Bildungspolitik am Beispiel von Baden-Württembergs Schulreformen


siehe auch:

Wir machen alles alleine – Die Krise selbstgesteuerten Lernens

Diese Art des Lernens wird als Innovation verkauft, mit der man in Zeiten der Digitalisierung, in Zeiten, in denen man das Lernen lernen soll, überleben kann. Das selbstgesteuerte Lernen schickt den traditionellen Lehrer in Rente und setzt auf den Lernbegleiter und Coach, der Schüler wird zum Manager seiner selbst, der eigenständig seine Lernfortschritte dokumentiert und evaluiert, der sich seine Unterrichtspakete selbst zusammenstellt.
Funktioniert das? Ist das sinnvoll? Nein, sagt Dr. Matthias Burchardt, Bildungsforscher von der Universität Köln.

zum Beitrag:  SWR2 Aula, 13.03.2015, 8.30 Uhr, Dr. Matthias Burchardt, Universität Köln, „Wir machen alles alleine – Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, Script   oder Audio, 27 min.


siehe auch:

Lass das mal die Schüler machen –
Schadet die autonome Lernkultur unseren Kindern?

SWR2 Forum, es diskutieren:
Gerhard Brand, Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg
Dr. Matthias Burchardt, Erziehungswissenschaftler, Universität Köln
Prof. Dr. Christoph Türcke, Philosoph und Buchautor, Leipzig
Gesprächsleitung: Ralf Caspary

Kinder sollen selbstständig lernen, nach ihrem eigenen Tempo und ihren eigenen Interessen. So lautet das Mantra der modernen Pädagogik. Aus dem Lehrer wird ein Lernbegleiter, der nicht vorträgt und anleitet, sondern berät und hilft, wenn Schüler alleine nicht mehr weiter kommen. Diese neue Lernkultur wird zunehmend bundesweit an vielen Schulen umgesetzt und zugleich heftig kritisiert.

zur Sendung:  SWR2 Forum, 16.03.2016, 17.05 Uhr, Lass das mal die Schüler machen
Schadet die autonome Lernkultur unseren Kindern?,  Audio,  44 min.

Trojanisches Pferd für die Lehrerbildung

Gesetz zur Änderung des Lehrerausbildungsgesetzes, Bezug zur Drucksache 16/9887 vom 30.09.2015, Anhörung im Landtag NRW am 17. Februar 2016

Stellungnahmen:

Prof. Dr. Ursula Forst, Universität zu Köln, Fachgruppe Erziehungs- und Sozialwissenschaften
Auszug:
Der Gesetzentwurf geht im wesentlichen auf Nachbesserungen und Anpassungen des Lehrerausbildungsgesetzes von 2009 aus. Die darin vorgenommene grundlegende Reform, die in der Umstellung auf BA-MA-Studiengänge [Bachelor- und Masterstudiengänge] und die Einführung von Kompetenzorientierung und entsprechenden Standards besteht, wird als alternativlos dargestellt. Dies muss um so mehr befremden, als inzwischen gemachte Erfahrungen und tief greifende Kritik auszuwerten wären. (…)

Bildungsreformen müssen diskutierbar und revidierbar bleiben, sonst wäre der Anspruch ständiger Reformen ad absurdum geführt. Alternativlos ist nur Humanität. Demokratie lebt von der diskursiven Auseinandersetzung mit Alternativen. Es gibt gute Gründe, die weitere Umsetzung des sog. „Bologna-Beschlusses“ zu überdenken. (…)

Der Bologna-Prozess hat sich als dysfunktional erwiesen, denn er hat seine eigenen Ziele nicht erreicht. Weder internationale Mobilität wurde erhöht noch die Studienabbrecherzahl verringert. Studiengänge wurden nicht klarer und vergleichbarer, die Studienzeit insgesamt verlängert. Diese Erfahrungstatsachen sind seit Jahren bekannt; wie ist es möglich, sie politisch zu ignorieren? Dass auch die Attraktivität der Bologna-Absolventen für berufliche Arbeitsfelder keineswegs erhöht wurde, wie jüngst eine McKinsey-Studie (vgl. Mourshed u.a. 2014) eindrucksvoll aufzeigte, macht das Leitbild der ‚employability’ zur Farce.

Der sog. „Bologna-Beschluss“ und der sich anschliessende Prozess sind nicht demokratisch eingeführt (vgl. Krautz 2013a). Bis heute entzieht er sich immer wieder einer demokratischen Auseinandersetzung in den betroffenen Ländern und Institutionen (man darf offenbar immer nur dafür stimmen). (…)

Es gibt keine genuin wissenschaftlichen oder pädagogischen Argumente für Bologna; erst recht nicht hinsichtlich der Lehrerausbildung. Die Kompetenzorientierung wurde durch die PISA-Kampagne der OECD angezettelt (…)

Das universitäre Studium wird seit Bologna unnötig verschult und zerstückelt, Bildung und Wissen erfolgreich verhindert. Die Bologna-Reform führt ein organisatorisches Hybridsystem aus Vorgaben, Regelungen, Tests, Dokumentationen, Evaluationen, Kontrollen usw. mit sich, das sachliche und humane Maßstäbe der Handlungsorientierung unmäßig erschwert.

Der Bologna-Prozess ist, gemessen an seinen eigenen Zielen ebenso wie nach politischen, rechtlichen und pädagogischen Maßstäben, gescheitert und bedarf daher seinerseits einer Reform, d.h. einer Kurskorrektur der Bildungspolitik, die sich auf das Wesentliche der Bildung konzentriert und dafür andere, bessere Wege findet. (…)

zur Stellungnahme von Prof. Dr. Ursula Forst, Universität zu Köln


 

Prof. Dr. Hans Peter Klein, Goethe Universität, Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften
Auszug:
(…) Mit dem Gesetzentwurf der Landesregierung Gesetz zur Änderung des Lehrerausbildungsgesetzes ist mit einer vorgeblichen Ausrichtung „an den pädagogischen Herausforderungen der Zukunft“ ein weiterer imperialer Durchgriff der Exekutive in die Freiheit von Forschung und Lehre der nordrheinwestfälischen Universitäten geplant.

Klares Ziel: Hineinregieren in die Hochschulen, Abschaffung der Freiheit von Forschung und Lehre. (S. 1)

Durch eine verpflichtende Übertragung weiterer Inklusionskonzepte in die Fachwissenschaften und insbesondere in die Fachdidaktik kommt es zu einer nicht hinnehmbaren weiteren Kürzung der fachlichen Ausbildung, die derzeit im gesamten Bundesgebiet einmalig ist.

Wir betrachten zum einen die Festlegung der 8 von 15 LP [Leistungspunkten] der Fachdidaktik als Eingriff der Landesregierung in die Lehre der Universitäten. Zum anderen steht die recht plötzliche Erhöhung und Festlegung von 5 LP für inklusionsorientierte Fragestellungen deutlich einer professionsbezogenen fachlichen Ausbildung für alle zukünftigen Lehrer/innen entgegen. Die Fachdidaktik leistete bisher mit den 12 frei zu gestaltenden Leistungspunkten einen wesentlichen Beitrag, um fachspezifische Arbeitsweisen, den Einsatz vielfältiger Unterrichtsmethoden, Konzepte zur Planung und Durchführung von Unterricht, die Bedeutung außerschulischer Lernorte sowie Diagnosefertigkeiten u.a. zu vermitteln. Eine Beschneidung dieser bisher wahrgenommenen Lehrinhalte um weitere 5 LP bedeutet den Verzicht auf grundlegende Teile fachdidaktischer Lehre. Was bitte soll wegfallen? (S. 2)

Der Gesetzentwurf fällt all denjenigen in den Rücken, die sich seit Jahren um eine professionsorientierte Vermittlung konzeptbezogener fachlicher Kompetenzen in den Fachwissenschaften und Fachdidaktiken bemühen, auf denen erst prozessbezogene Kompetenzen entsprechend den Vorgaben der Bildungsstandards aufgebaut werden können.
Das vorliegende Gesetz verschärft hingegen die weitere Entfachlichung der Lehrerbildung und insbesondere der Fachdidaktiken zugunsten inklusiver Fragestellungen, die bisher ausschließlich in den Bildungswissenschaften verortet waren. Insbesondere der Fachdidaktik soll anscheinend die Rolle zugewiesen werden, als trojanisches Pferd die bildungspolitischen Konzepte aus den Parteibüchern der jeweiligen Landesregierungen in den Hochschulen umzusetzen.

Zudem soll der Fachdidaktik anscheinend vorgeschrieben werden, die völlig umstrittenen Konzepte der „Neuen Lernkultur“ mit Individualisierung von Unterricht, der Rolle des Lehrers als Lerncoach und konstruktivistischen Unterrichtskonzepten entsprechend den Vorstellungen der rot-grünen Landesregierung verbindlich umzusetzen. Konzepte, für deren Erfolgsaussichten es keinerlei empirische Belege gibt, die ganz im Gegenteil im gesamten anglo-amerikanischen Raum bereits seit langem als gescheitert gelten (Kirschner et al. 2008, Ravitch, 2008, Hattie 2009). „Gemeinsames Lernen? Nein danke. Heute gibt es mobiles Coaching und flexibles Kompetenzdesign“ (Türcke 2016). (S. 4)

Wenn bis zu 2/3 der dortigen Ausbildung mittlerweile von der Landesregierung vorgegeben wird, ist Einspruch vonnöten. Nach möglicher Inkraftsetzung des Gesetzes in dieser Form kann man den Fachdidaktiker/-innen in NRW nur raten, sich weiterhin auf die Freiheit von Forschung und Lehre zu berufen und entsprechend ihrer Expertise eine fachdidaktische Lehre anbieten, die sie auch professionell vertreten und verantworten können. Denn insbesondere die Schüler mit dringendem und unterschiedlichstem Förderbedarf und deren Eltern erwarten einen professionellen Umgang und eine entsprechende Betreuung in der Schule, dem durch derartige Vorhaben ein Bärendienst erwiesen wird. (…)

Eingerückt = eingefügte Erläuterungen aus der Stellungnahme von  Prof. Dr. Hans Peter Klein durch Schulforum-Berlin

zur Stellungnahme von Prof. Dr. Hans Peter Klein, Goethe Universität, Frankfurt am Main


 

Prof. Dr. Ulrich Heinen, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Design und Kunst
Auszug:
(…) Mit der Kompetenzorientierung ist die studierte Sache ebenso in den Hintergrund getreten wie der Studiendialog mit den Lehrenden und den Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie die Erfahrung der eigenen Verantwortung für das Studieren. Stattdessen sind die Studierenden selbst zu Objekten eines Ausbildungsvorgangs umdefiniert worden, der sie auf eine extern definierte Clusterung vermeintlich berufsvorbereitender Kompetenzen ausrichtet. Der Umbruch hat leider System: Lehramtsstudierende dürfen im Studium einen Bildungsprozess erst gar nicht mehr erfahren, den sie – angesichts der parallel durchgesetzten Outputorientierung der schulischen Bildung – ihren Schülerinnen und Schülern offenbar auch gar nicht mehr erfahrbar machen sollen. Auf dem Weg über die rechtliche Neubestimmung von Lehrerbildung und Schule wurde eine tiefgreifende Gesellschaftsveränderung eingeleitet, die mit einer umfassend und kleinteilig umgesetzten Operation an der nächsten Generation die Wurzeln der demokratischen Gesellschaft kappt. Gerade für die Lehrerbildung in einer Gesellschaft, die der persönlichen Entfaltung in sozialer Verantwortung einen hohen Wert zuerkennt, ist dies nicht akzeptabel. Angehenden Lehrerinnen und Lehrern muss das Studium die Erfahrung eröffnen können, sich selbst als Subjekt der eigenen Bildung gerade in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen, Methoden, Prinzipen und Persönlichkeiten der Wissenschaften und Künste zu erfahren. Nur dann werden sie selbst bei ihren Schülerinnen und Schülern lebens- und existenzprägende Bildungsprozesse anstoßen können. Solche Bildungsprozesse, die Schülerinnen und Schüler über das bloße Funktionieren-Sollen hinausführen, stehen allen Menschen zu und sind zudem im Interesse aller und der Gesellschaft als Ganzer. Mit solchen Bildungsprozessen kann letztlich sogar der Erfolg berufsorientierter Ausbildungsprozesse verbessert werden, um die sich die bildungsökonomische Sicht auf das Bildungswesen derzeit so ausschließlich sorgen zu müssen meint. (…)

zur Stellungnahme von Prof. Dr. Ulrich Heinen, Bergische Universität Wuppertal

Hervorhebungen im Fettdruck bei allen Stellungnahmen durch Schulforum-Berlin