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Für den Erhalt unseres Ausbildungs- und Wissenschaftssystems mit praktischer Berufsausbildung und wissenschaftlicher Grundlagenforschung

Datum:   25.04.2015
23. Bayerischer Ingenieuretag
Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung
Was bedeutet gute berufliche und akademische Bildung heute für uns und für unsere Zukunft?
Mit dieser Frage setzte sich Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Philosophieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in seinem Vortrag auseinander.  Gerade für Ingenieure spielt verantwortliches Handeln eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Verbindung von Ethik und Ökonomie, aber auch für den Erhalt unseres Ausbildungs- und Wissenschaftssystems mit praktischer Berufsausbildung und wissenschaftlicher Grundlagenforschung.
Julian Nida-Rümelin war Kulturreferent der Landeshauptstadt München und Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.

(…) Meine These lautet:  Das deutsche Bildungssystem ist nicht perfekt. Kein Zweifel. Es gibt vieles, das verbessert bzw. reformiert werden müsste.
Wir leisten uns den Luxus, in Anteilen am Bruttoinlandsprodukt unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder in Bildung zu investieren. Das ist angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland keine anderen Ressourcen außer denen in den Köpfen haben, besorgniserregend. Es hat sich etwas gebessert, aber es ist noch bei weitem nicht gut.
Wenn wir heute für die Bildung in Deutschland prozentual die Bildungsausgaben der späten 70er-Jahre aufwenden würden, müssten wir 35 Milliarden pro Jahr in Bildung investieren.
Wir haben Defizite. Der Pisa-Schock sitzt tief in den Knochen. Wer hätte das gedacht? Deutschland schneidet nicht als eines der Spitzenländer ab, sondern im unteren Mittelfeld.
Es ist gut, dass es eine gewisse Verunsicherung gegeben hat. Aber die Konsequenzen die daraus gezogen wurden, sind zum Teil besorgniserregender als der ursprüngliche Befund. Der ursprüngliche Befund ist auch verzerrt, da der Pisa-Test nur bestimmte Dinge abbildet – und andere wiederum nicht. Wenn ein Fokus zum Beispiel darauf gelegt worden wäre, ob die Schüler wenigstens Grundkenntnisse in einer ersten Fremdsprache haben, dann hätten die USA nicht nur schlecht, sondern grottenschlecht abgeschnitten. Deswegen wird das erst gar nicht getestet. Oder wenn wir Allgemeinbildung oder Fachwissen zu Grunde legen. All das spielt bei dem Pisa-Test keine Rolle.
In Deutschland ist daraus weithin die Konsequenz gezogen worden, wir müssen uns nach internationalen Standards ausrichten. (…)
Ich kenne die USA ziemlich gut. Und ich glaube, man sollte sich von außen sehr mit Kritik am Bildungssystem der USA zurück halten. Es gibt Gründe für dieses Bildungssystem, basierend auf der Einwanderungsgeschichte Amerikas. Aber die immer noch in den Köpfen herumspukende Idee „Wir müssen uns möglichst weitgehend diesem Modell annähern“ hat in unserer akademischen aber auch beruflichen Bildung einen Flurschaden hinterlassen. Wir bewegen uns zum Teil sogar auf eine Bildungskatastrophe zu. (…)
Wir führen in Deutschland Bachelor-Studiengänge ein – mit dem Gedanken „In den USA funktionieren die doch auch nach derselben Philosophie“. Wenn man aber mal genauer hinschaut, zeigt sich, dass es dort ganz anders ist. 83 Prozent all derjenigen, die in den USA ein Studium absolvieren, absolvieren es an Einrichtungen, in denen es keine Forschung gibt. Die allermeisten Angebote dieser Art an den City-Colleges sind vergleichbar – das ist keine Abwertung, sondern eine Aufwertung – mit unseren Berufsbildungsangeboten. Nicht mit einem Studium, auch nicht mit einem Bachelor-Studium an den Fachhochschulen oder an den Universitäten. Da wird also unvergleichliches miteinander verglichen.(…)
Der US-amerikanische Präsident hat unterdessen ein Berufsbildungszentrum nach deutschem Vorbild in den USA errichten lassen. Ob das funktioniert, werden wir sehen. Ich sehe das kritisch, da die Unternehmen in den USA gar nicht darauf eingestellt sind, im Betrieb auszubilden. Dort gilt noch das Modell „Learning on the job“. Dieses ist jedoch ziemlich oberflächlich und führt dazu, dass der US-amerikanische Arbeitsmarkt fast exakt in der Hälfte gespalten ist. Die einen haben einen Beruf, die andern einen Job. Die Einkommenssituation derjenigen, die nur jobben, ist in der Regel sehr schlecht.
Ich will jetzt nicht empfehlen, dass andere Länder das deutsche duale System einführen. Aber ich will dringend davon abraten, dass wir diese Stärke abwracken. Wenn ich dies sage, ist die Reaktion der Vertreter der herrschenden Meinung: „Nein, das möchte doch niemand.“
Wirklich? Will das niemand? (…)
Innerhalb etwas mehr als einer Dekade hat sich dieses ziemlich stabile Verhältnis (zwei Drittel in der beruflichen Bildung und ein Drittel eines Jahrgangs in der akademischen Bildung) umgekehrt. Wir hatten im vergangenen Jahr eine Studienanfängerquote von 57 Prozent.
Wenn das so weiter geht, dann ist das duale System, so wie wir es kennen, nicht mehr das Angebot an die Mehrheit, sondern das Angebot für eine Minderheit, die auf dem Weg, der als normal gilt, gescheitert ist. Davor warne ich eindringlich. (…)
Es gibt in Mitteleuropa, anders als im angelsächsischen Raum, eine Fachorientierung der Bildungsangebote. Fachkenntnisse. Etwas, das bei Pisa zum Beispiel nicht abgefragt wird.
Wir haben gegenwärtig einen großen Umstellungsprozess. Weg vom Fachwissen hin zu mehr oder weniger unspezifischen Kompetenzen. Der Vorreiter in diesem Prozess sind die Hochschulen und die dortigen Bildungsangebote. Es folgen die Schulen. Auch deren Curricula sollen in diese Richtung umgebaut werden. Am Ende werden wir möglicherweise dort landen, wo das US-amerikanische System heute bereits ist. Nämlich, dass man im Grunde bei niemandem weiß, ob er nun ein Bachelorstudium an einem City College oder an einer Hochschule oder einer Universität absolviert hat – und was er damit eigentlich kann und weiß. (…)
Ich verteidige das staatliche System, die staatliche Verantwortung für Bildung. Wir sind damit nicht schlecht gefahren, obwohl es verbesserungswürdig ist. Aber wir dürfen es nicht erodieren lassen und es in private Hände übergeben. Ich befürchte, dass wir sonst unsere wichtigen Standards – die Fachorientierung und die Fachkompetenz in Deutschland – einbüßen würden. (…)

zum Vortrag:  23. Bayerischer Ingenieuretag am 23. Januar 2015, Prof. Julian Nida Rümelin, Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung

Statt Bildung – „Bulimielernen“

Datum:  22.04.2012
PISA ist der falsche Weg!
Für gute Bildung – gegen die Produktion von Testwissen!
GEW-Hessen, Pressemitteilung

Anlässlich des Startschusses von PISA 2012 – ab kommenden Montag werden an 250 Schulen in Deutschland wieder rund 6.250 15-Jährige getestet – kritisiert die Gewerkschaft Erziehung und Wissen-schaft (GEW) Hessen die Interessengeleitetheit und wissenschaftliche Unseriosität der PISA-Studien sowie den durch diese forcierten Um- und Abbau des öffentlichen Bildungssystems.
„Seit Jahren werden die Schulen immer mehr zu Produktionsstätten abfragbaren Wissens umgebaut. Statt um gute Bildung geht es zunehmend um eine aus der Betriebswirtschaft entlehnte Steuerung anhand vermeintlicher ‘‚Erfolgskriterien‘: Egal, wie und mittels welcher bspw. gesundheitlicher Kosten, wichtig ist, welche so genannte ‚Leistung‘ die Schülerinnen und Schüler erbringen. Das soll dann Indikator für gute Bildung sein.
Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus: Statt zu guter Bildung, die immer auch Zeit zum Verstehen und Hinterfragen sowie klare gesellschaftlich definierte Zielsetzungen benötigt, kommt es allerorten mehr und mehr zu etwas, das Schülervertretungen längst als ‚Bulimielernen‘ bezeichnen, und das mit der sukzessiven Abkehr von Bildungsinhalten einhergeht: Immer mehr geht es um den Dreischritt  ‚Lernen, Testbestehen, Vergessen’; immer weniger um Inhalte, Reflektieren, Hinterfragen und Verstehen. Was mittels der Verbetriebswirtschaftlichung von Schulen also tatsächlich forciert wird, muss inzwischen klar und eindeutig als Bildungsabbau bezeichnet werden“, so Jochen Nagel, Vorsitzender der GEW Hessen.
All dies ist dabei ursächlich auch auf die PISA-Studien, auf welche sich fast alle Politikerinnen und Politiker im Lande positiv beziehen, zurückzuführen. Um es mit den Worten der PISA-Macher selbst auszudrücken: „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die PISA-Tests mit ihrem Verzicht auf transnationale curriculare Validität (…) und der Konzentration auf die Erfassung von Basiskompetenzen ein didaktisches und bildungstheoretisches Konzept mit sich führen, das normativ ist“[1].
Tatsächlich geht es bei PISA um die internationale Standardisierung von Bildung – bei gleichzeitiger Reduzierung derselben auf so genannte ‚Basiskompetenzen‘, die dann auch noch im Wesentlichen aus ökonomischen Verwertungsinteresssen abgeleitet werden. „Das mag Großunternehmen, besonders denen, die hinter PISA stehen[2] und schon darauf warten, eines Tages einen großen kommerziellen Assessment- und Testing-Markt in Deutschland zu bedienen, nur recht sein. Uns als BildungsGEWerkschaft und Teil des Bündnisses ‚Recht auf gute Bildung für alle’ ist es dies nicht!“, so Nagel weiter. „Insofern ist es an der Zeit, dass die politisch Verantwortlichen endlich beginnen, den von PISA forcierten und von ihnen selbst immer wieder unterstützten Prozess der Deformation des staatlichen Bildungssystems kritisch zu hinterfragen.“
Der renommierte PISA-Kritiker und Professor für Mathematikdidaktik Wolfram Meyerhöfer sekundiert: „Vor 10 Jahren galt man noch als Häretiker, wenn man zeigte, dass PISA nicht testet, was es testen will, wenn man zeigte, dass die Theorie hinter PISA theorielos war, und wenn man sah, dass das Testen als Instrument der Bevormundung der Lehrer und für die Heranzüchtung einer Testindustrie dient. Heute sehen wir, dass diese Industrie unser Denken bestimmt, dass Schule immer noch stärker stranguliert werden kann und dass das Einüben von Ankreuzritualen auch in Kulturnationen möglich ist, wenn die Testindustrie dabei nur mit genügend großer Marketingmacht vorgeht.“
„Dabei wissen wir längst, dass PISA eben nicht Bildsamkeit testet, sondern die Fähigkeit, das Denken der Tester zu erraten. Wir wissen, dass dieses Denken immer verengt ist, zum Mittelmaß tendiert und kreatives Denken bestraft, dass die Tester immer wieder auch unsinnig denken – und es nie bemerken. Wir wissen, dass die statistischen Konstrukte von PISA dazu führen, dass die am Ende präsentierten Länderrankings ebenso gut großflächig ausgewürfelt werden könnten. Wir wissen, dass Testresultate leicht manipulierbar sind. Und wir wissen, dass das Testen uns vom Denken abhält. Wir verlieren nichts, wenn wir PISA einfach einstellen“, so Meyerhöfer abschließend.

[1] Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 19.
[2] Zu den Interessen hinter PISA siehe bspw.: „Knatsch um Pisa – CDU fordert den Rauswurf des Pisa-Koordinators“; www.nachdenkseiten.de

Kompetenz versus Bildung

Datum: 14.07.2014
Den PISA-Test sollte man abschaffen
Claudia Wirz interviewt Prof. Krautz
Prof. Krautz: Die OECD (…) hat sich schon in den 1960er Jahren der Bildungspolitik angenommen. Ihr Ziel ist eine Vereinheitlichung des Bildungswesens in der ganzen OECD, der Abbau lokaler und nationaler Traditionen und klassischer Inhalte zugunsten der Standardisierung und Vergleichbarkeit. Dahinter steckt ein ökonomistischer, neoliberaler Glaube. Der Pisa-Test ist das Kind dieses Denkens. Der angeblich neutrale Pisa-Test führt zu einem völlig neuen Begriff von Bildung: Es geht nicht um Wissen, sondern um die Fähigkeit, sich anzupassen. (…)
Claudia Wirz: Soll man den Pisa-Test abschaffen?
Prof. Krautz: Ja. Denn wir verlieren dabei nichts und gewinnen viel. Das Geld für die Pisa-Tests könnte man im Bildungsbereich besser investieren.

zum Artikel:  NZZ, 14.07.2014, Claudia Wirz Interview mit Prof. Krautz, Den PISA-Test sollte man abschaffen

Einfluss von „Wirtschaft und Industrie“ auf die Lehrinhalte

Einfluss von Wirtschaft und Industrie an deutschen Schulen

Lobbyismus an Schulen

Bild aus: Lobbycontrol, lassedesignen/Kudryashka Fotolia.com

Wie groß der Einfluss von „Wirtschaft und Industrie“ an deutschen Schulen im internationalen Vergleich ist, verdeutlicht die PISA Studie von 2006. Für die Studie wurden SchulleiterInnen gefragt, „in welchem Umfang Wirtschaft und Industrie direkten Einfluss auf den Unterrichts­inhalt der Schülerinnen und Schüler ausüben.“ Dabei kam heraus, dass in Deutschland 87,5 Prozent der 15-Jährigen eine Schule besuchen, an der Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben.
zum Autor:  Felix Kamella,  Lobbycontrol – Initiative für Transparenz und Demokratie

Bertelsmann Stiftung als „Reformwerkstatt“ und als „Politikberatung“

Datum:  Dezember 2012
Über den Wert von Bertelsmann-„Studien“
Von Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)

Die bildungspolitische Debatte ist immer weniger orientiert an den Kriterien Rationalität und Ehrlichkeit, sondern immer mehr geprägt von Schreckensszenarien gewisser Organisationen und Stiftungen.
Damit solche Szenarien ihre Wirkung entfalten können, werden sie als „Studien“ und damit als „Wissenschaft“ verkauft. Wenn der Initiator einer solchen „Studie“ auch noch OECD oder Bertelsmann heißt, dann steht eine solche „Studie“ kurz vor der Heiligsprechung zur apokalyptischen Offenbarung.
Diese Art von Handwerk versteht die Bertelsmann Stiftung hervorragend – übrigens nicht nur im Bereich Bildungspolitik, sondern auch in den Bereichen Kommunalpolitik, Außenpolitik, Europapolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik usw. Auf all diesen Feldern sieht sich die Stiftung als „Reformwerkstatt“ und als „Politikberatung“.
Die Bertelsmann Stiftung verfügt über enorme Ressourcen. 1977 gegründet, hält sie mittelbar rund 77 Prozent der Aktien der Bertelsmann SE & Co. KGaA. Das erlaubt ihr nicht nur die Beschäftigung von über 300 Mitarbeitern, sondern größte mediale Verbreitung über die in ihrer Hand befindlichen Sender und Printmedien. Weil die Bertelsmann-Familie Mohn rund drei Viertel der Bertelsmann-Aktien auf die Stiftung übertragen hat, sparte sie obendrein vermutlich gut zwei Milliarden Erbschafts- und Schenkungssteuer. Die Bertelsmann Stiftung mit ihrem Jahresetat von rund 60 Millionen Euro und mit einem Gesamtvolumen aller ihrer Projekte seit 1977 in der Höhe von rund 800 Millionen Euro arbeitet so gesehen also de facto mit öffentlichem Geld, ohne dafür gegenüber einer Exekutive oder Judikative Rechenschaft ablegen zu müssen. (…)
Insofern ist es an der Zeit, dass der Bertelsmann Stiftung endlich der (Schein-) Heiligenschein des angeblich selbstlosen Innovator und Impulsgebers genommen wird. Die Impulse der Stiftung bauen nämlich fast immer auf der Skandalisierung irgendwelcher vermeintlicher Missstände auf. Da ist man sich auf für gnadenlose Verzerrungen nicht zu schade. Zum Beispiel behauptete die Bertelsmann Stiftung nach der ersten PISA-Studie, Deutschland sei auf „hinteren Plätze“ zusammen mit „Klassenkameraden aus Mexiko und Brasilien“ gelandet. Aber das ist die Basis dafür, dass die Bertelsmann Stiftung mit Blick auf PISA dann meint, von sich selbst behaupten zu können: „Das Ergebnis der Studie (gemeint ist PISA; JK) unterstreicht, wie wichtig im Land der Dichter und Denker privatwirtschaftliche Bildungsinitiativen sind.“ Um dann fortzufahren: „….Nicht zuletzt haben Einrichtungen wie die Bertelsmann Stiftung durch ihre vielfältigen Aktivitäten dazu beigetragen, dass auch in Deutschland neue, innovative Schulkonzepte eine Chance bekommen.“ (…)

zum Artikel:  Deutscher Lehrerverband (DL), Aktuell, Dezember 2012, Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), Über den Wert von Bertelsmann-„Studien“
zu weiteren Artikeln:   NachDenkSeiten >> Sachfragen >> Krake Bertelsmann