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Historisches Grundwissen in Gefahr – „Die geschichtslose Schule“

Zeitgeschichtliche Bildung in der Schule – das Fach Geschichte

Ulrich Bongertmann
In der deutschen Bildungspolitik, […] ist in den Bundesländern und der Kultusministerkonferenz (KMK) eine bildungspolitische Strategie führend, die auf mehr Grundkompetenzen in Deutsch, Fremdsprachen (vor allem Englisch) und in den MINT-Fächern abzielt. Diese Grundkompetenzen sollen über Stundenerhöhungen, bundesweite Vergleichsarbeiten (VERA), neue Abiturprüfungsbedingungen und über die auf Bundesebene neu geschaffenen KMK-Bildungsstandards angestrebt werden. Die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer (also vor allem Geschichte, Politik, Erdkunde und Wirtschaft) gehen hier leer aus. […]

„Seit Jahren betreiben die Länder eine Entwertung des Faches Geschichte. Es werden Stunden gekürzt, oder das Fach wird mit Politik und Geografie verschmolzen, was zwangsläufig zum Verlust historischer Inhalte führt und fachfremdes Unterrichten fördert.“ So die Aussage des Geschichtslehrers Robert Rauh im TSP vom 07.02.201. Rauh bildet Lehrer aus im Fach Geschichte und war 2013 Lehrer des Jahres.

Daneben sind die Lehrer durch [bildungspolitische Vorgaben, z.B.] der Inklusion – der Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf in die Regelschulen – in Anspruch genommen, und durch die dabei auftretenden Probleme wird oft jede fachliche Diskussion überlagert. […]

Was in einem Fach möglich ist, entscheiden die Wochenstundenzahlen.
Für Geschichte sind sie in manchen Bundesländern auf ein Maß herabgesetzt worden, das man als heikel bezeichnen muss. In Anbetracht der verschiedenen Schulsysteme und -formen sowie vieler Ausnahmen und Veränderungen (G8, G9) sind pauschale Aussagen mit bundesweiter Geltung zwar nur schwer zu treffen, doch werden insgesamt die folgenden Tendenzen deutlich:

Die Pflichtstundenzahl für den Geschichtsunterricht im Gymnasium (Sekundarstufe I und II, in der Summe aller Schuljahre gerechnet) differiert erheblich: von nur 9 bis zu 20 Pflichtstunden. Mit 14 Stunden liegt Berlin im Mittelfeld.

In den Schulformen, die zum mittleren Schulabschluss führen, findet sich die folgende Bandbreite (von der 5. bis zur 10. Klasse): von nur 6 bis zu 12 Geschichtsstunden. [Unterricht in der 5. und 6. Klasse in Berlin im Fächerverbund Geschichte, Geografie und Politische Bildung, siehe nachfolgender Absatz]

In den meisten Ländern, so auch in Berlin, wurde das mehrgliedrige Schulsystem durch ein „Zwei-Säulen-System“ abgelöst: Neben dem Gymnasium (der einen Säule) werden die Bildungsgänge der ehemaligen Real- und Hauptschule unter den Namen Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Sekundarschule u. a. m. zu einer gesamtschulartigen Verbindung zusammengeführt. Mit zunehmender Tendenz werden hier die Fächer Geschichte, Politische Bildung und Geografie gar nicht mehr getrennt, sondern in einem Fächerverbund [im Fach „Gesellschaftswissenschaften, GeWi“] integriert. Dann erteilt unter Umständen ein Fachfremder ohne entsprechende Hochschulausbildung den Geschichtsunterricht. […] Begründet wird das Fach „Gesellschaftswissenschaften“ mit der Notwendigkeit einer Zusammenschau der angeblich unaufteilbaren sozialen „Welt“ durch die Lernenden, wofür Qualitätseinbußen bei den Voraussetzungen der Lehrkräfte hinzunehmen seien. […]

„Dabei weiß man doch spätestens seit den Pisa-Studien, dass die Ergebnisse um so schlechter ausfallen, je höher der Anteil von Nicht-Fachlehrern liegt“, sagt der neue Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), der bayerische Gymnasialschulleiter Heinz-Peter Meidinger in der FAZ vom 31.07.2017.

Ein Geschichtsunterricht, der nur noch den Anlass liefern soll, über ein gegenwärtiges Problem zu reflektieren, verkennt das eigentlich Historische, das selbst schon genug Anlässe zu gründlichem Nachdenken in sich trägt. […]

Die meisten deutschen Oberstufenschüler begegnen dem Fach Geschichte nur noch in einem zwei- bis dreistündigen Kurs und nicht mehr in der Abiturprüfung, also unter erhöhten Anforderungen. Vielfach bestehen sogar Abwahloptionen, auch wenn die Belegung von festen Anteilen mit historischen Themen vorgeschrieben bleibt. Im Ergebnis heißt das: Geschichte ist zwar unter den gesellschaftswissenschaftlichen Schulfächern immer noch das stärkste, aber für eine breite historische Bildung aller Schülerinnen und Schüler genügt die Stellung, die das Fach gegenwärtig einnimmt, nicht. […]

Forderungen aus dem Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I, Berlin
Jahrgangsstufe 7-10

[…] Zentrale Aufgaben des Geschichtsunterrichts sind […] die Förderung und Entwicklung eines reflektierten, selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins und eines differenzierten, historisch-politischen Urteilsvermögens. Die Grundlage hierfür wird durch systematisch aufgebautes, mit fachspezifischen Methoden erschlossenes Wissen gelegt. [1] Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen zur mündigen Partizipation an der politischen Willensbildung und zur Mitgestaltung der Gesellschaft und ihrer Wandlungsprozesse. […]

[1] In Berlin-Brandenburg konnte 2015 knapp verhindert werden, dass Geschichte in Klasse 5 bis 8 nur noch in Längsschnitten und nicht mehr chronologisch vermittelt werden sollte.

Um jedoch Einsicht in die historische Bedingtheit nahezu aller Gegenstände und Themen und auch der eigenen Person zu gewinnen und die Wurzeln heutiger Zustände tiefer zu verstehen, muss der Unterricht über eine Befassung mit der Zeitgeschichte weit hinausgehen. [D.h.,] wer die Zeitgeschichte den Schülerinnen und Schülern nahebringen will, muss auch die notwendige Zeit für eine kontinuierliche Befassung mit ihr zur Verfügung stellen [und dies mit ausgebildeten Lehrkräften].

Hervorhebungen im Fettdruck und Einschübe kursiv durch Schulforum-Berlin

zum Beitrag:  Zeitgeschichtliche Bildung in der Schule – das Fach Geschichte, Ulrich Bongertmann, in einer im Juni 2017 veröffentlichten Analyse für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Ulrich Bongertmann, Studiendirektor, Gymnasiallehrer für Geschichte und Latein in Rostock, Bundesvorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands

siehe auch: TSP, 31.07.017, Amory Burchard, Geschichtsunterricht:  Historisches Grundwissen in Gefahr.
siehe auch: TSP, 07.02.2017, Robert Rauh, Schule in Berlin Geschichtsunterricht – ungekürzt!
siehe auch: Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD), Geschichtsunterricht in Deutschland 2016/17 – quantitativ betrachtet. Ein Überblick über die Zeitbedingungen des Geschichtsunterrichts in den Bundesländern.
siehe auch: Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I, Berlin


Kritisches Geschichtsbewusstsein entsteht im Prozess des historischen Lernens und des Erzählens von Geschichte. Es ist eine selbstreflexive Instanz, die für die staatsbürgerliche Identität unverzichtbar ist. Schulunterricht kann das Reifen von Geschichtsbewusstsein fördern, indem er Schüler und Schülerinnen zum Nachdenken über Geschichte, über ihre Widersprüche, Mehrdeutigkeit und Kontingenz anregt. Gelingt dies, versetzt er sie in die Lage, sich gegen manipulative Einflüsse auf das
Geschichtsbewusstsein zu wehren. Sich in der Geschichte orientieren zu können, ist für Kinder und Jugendliche ein großer Schritt. Für die Demokratie ist es zugleich der beste Schutz gegen die radikalen Vereinfachungen des neuen Populismus.

aus:  Martin Schulze Wessel, Der Angriff des Populismus auf die Geschichte, Weshalb ein kritisches Geschichtsbewusstsein für die Demokratie unerlässlich ist. Konrad -Adenauer-Stiftung, Juni 2017, Ausgabe 256.  Prof. Schulze Wessel leitet den Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Ein Rahmenlehrplan für alle: Etwas „nachjustiert“ aber Richtung beibehalten – Kritik ebbt nicht ab

Einer für alle – Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg verabschiedet

18.11.2015, Susanne Vieth-Entus

Berlin und Brandenburg haben als bundesweit erste Länder am Mittwoch einen gemeinsamen Rahmenlehrplan für alle Schulformen verabschiedet. Es ist zugleich das erste Mal, dass sich zwei Bundesländer auf identische Inhalte für alle Fächer geeinigt haben. Ab 2017/18 sollen die neuen Vorgaben umgesetzt werden. Die seit Monaten geäußerte Kritik an den Neuerungen riss auch nach der Unterzeichnung durch Bildungssenatorin Sandra Scheeres und Bildungsminister Günter Baaske (beide SPD) nicht ab. (…)

Der neue Rahmenlehrplan umfasst alle Jahrgangsstufen von Klasse 1 bis 10 und gilt für Grundschulen, Sekundarschulen, Gymnasien und alle Förderschulen, abgesehen von den Schulen für geistig Behinderte. (…)

Es werde aber eine „große Herausforderung“, ein Raster für die individuelle Benotung zu entwerfen, das starken und schwachen Schülern gerecht werde. (…)

Generelle Kritik gibt es am Gesamtkonzept des Werks. Es sei „überfrachtet“, dazu passagenweise „elaboriert oder schematisch“ geschrieben. Die Zuordnung der Kompetenzen zu acht verschiedenen Niveaustufen mache die Verwirrung komplett, heißt es. (…) Letztlich bleibe es aber dabei, dass man – auch mit dem neuen Plan – guten und schlechten Unterricht machen könne, resümiert Ursula Reichelt vom Fachverband Deutsch.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 18.11.2015, Susanne Vieth-Entus, Einer für alle – Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg verabschiedet

Direktor Götz Bieber (LISUM): „Das war vielleicht nicht so gut“

Datum:  25.04.2015
Die Reform des Rahmenlehrplans wird verschoben
Heftig wurden die neuen Schullehrpläne kritisiert. Nun reagieren die Landesregierungen – und kritisieren ihr eigenes Institut.

Die Einführung der Rahmenpläne werden um ein Jahr verschoben. Die Gefahr scheint gebannt, dass Siebt- und Achtklässler in Geschichte statt einer Chronologie nur noch thematische Häppchen vorgesetzt bekommen.
Die Einwände zu den Lehrplanreformen in Berlin und Brandenburg kamen nicht nur von Pädagogen:
1.763 Lehrkräfte, 1.313 Fachkonferenzen, 86 Schulleitungen, 308 Vertreterinnen und Vertreter eines Gremiums bzw. einer anderen Organisation und 17 Vertreterinnen und Vertreter eines pädagogischen Fachverbands beteiligten sich an der onlinegestützten Befragung. Auch 245 Eltern sowie viele Klassen, Schülerinnen und Schüler gaben eine Rückmeldung.
Auch die etwa 900 Rückmeldungen, die in schriftlicher Form in den beiden Bildungsverwaltungen und am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) eingegangen sind, werden nach Fächern und Themen zusammengestellt und analysiert.
Erst jetzt kommen die Bildungspolitiker Scheeres und Baaske zu der Erkenntnis: „Die Ergebnisse aus den anstehenden (!) Beratungen der Fachgruppen mit den Verbänden sind für uns besonders wichtig, denn die Beurteilung der Rückmeldungen durch Fachleute und Praktiker ist für uns mitentscheidend. Es geht darum, sachgerechte Kompromisse zu finden.“
Die Bildungsbehörden beabsichtigen, alle Anhörungsbeiträge in anonymisierter Form zu veröffentlichen.

Wie ist die Analyse der Beiträge der Kritiker durch die Bildungsverwaltung zu verstehen, wenn sie in ihrer Pressemitteilung „Einführung für Schuljahr 2017/18 geplant – Rahmenlehrplan: Mehr Zeit bis zur Einführung“ vom 23.04.2015 feststellt:
Die fast 4.000 Personen und Gruppen, die den Online-Fragebogen ausgefüllt haben, äußerten in den meisten Bereichen eine überwiegende bis vollständige Zustimmung  (?) zu den Befragungsaspekten. Sind hier die 900 Rückmeldungen in schriftlicher Form ausgeblendet und in der Zustimmung schöngerechnet?
Es muss die Frage erlaubt sein, wie bei solcher Zustimmungslage die nachfolgenden Zeitungs- und Kommentarüberschriften zu erklären sind?
“Aus Lehrplänen sind “Leerpläne” geworden”
„Einladung zum fachlichen Dilettantismus“
„Ein Schnitt durch die Geschichte“ – Die Kritik an den neuen Rahmenlehrplänen reißt nicht ab.
„Neuer Rahmenlehrplan – Das Niveau der Schulen sinkt“

Das von den Bildungspolitikern gescholtene Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) übte auch Selbstkritik – insbesondere in Bezug auf das Fach Geschichte. „Das war vielleicht nicht so gut“, sagte Direktor Götz Bieber. Das Lisum hat nun die Aufgabe, anhand der Stellungnahmen eine fertige Fassung des neuen Rahmenlehrplans im Herbst vorzulegen.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 24.04.2015, Susanne Vieth-Entus, Die Reform des Rahmenlehrplans wird verschoben


Jeder dritte Schülerjahrgang lernt unter anderen Voraussetzungen und Vorgaben der Bildungspolitik.
Die Unterrichtskonzepte ändern sich nicht deshalb, weil sie sich als untauglich erwiesen haben. Nach Belegen für ihre Wirksamkeit wird selten gefragt. Sie werden abgelöst, weil die Politik es will! Es wird auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge auf Anweisung der Kultusbehörde experimentiert.
“Pädagogische Fragen sind leider häufig eine Domäne parteipolitischer Interessen, wobei politische Parameter und manchmal auch ideologische Standpunkte Vorrang vor sachlogischen Gesichtspunkten haben”.
Prof. Ulrich Steffens im Artikel: Mit den Augen der Lernenden, unter der Seite „Lernen

Prof. John Hattie: “Das, worauf es ankommt, spielt sich nämlich im Unterricht ab, im Klassenraum, wo sich Lehrer und Schüler begegnen. Die Rahmenbedingungen von Schule dagegen – die Schulstrukturen oder das investierte Geld – haben nur geringen Einfluss. Leider wird in der Bildungsdebatte genau umgekehrt diskutiert.”
zum Interview

„Es müsste den Aufschrei der Eltern geben“

Datum:  25.03.2015
DL-Präsident Josef Kraus im Interview mit Nana Brink im Deutschlandradio Kultur
„Aus Lehrplänen sind „Leerpläne“ geworden“
(…)
Brink: In Berlin zum Beispiel soll der Geschichtsunterricht in der fünften und sechsten Klasse gemeinsam mit anderen Fächern gelehrt werden. Warum macht man das?
Kraus: Ich vermute mal, weil man Stunden sparen will und weil man vielleicht auch Lehrer sparen will. Ich halte gerade das Fach Geschichte für ein unglaublich wichtiges Fach, weil es sehr viel mit historischer und letztendlich auch mit politischer Mündigkeit zu tun hat. Wenn man dieses Fach vereinigt mit Gemeinschaftslehre, mit Politik, mit Geografie, wie wir das in manchen Bundesländern haben, dann ist das der absolut falsche Weg. Wenn junge Leute nichts mehr wissen etwa aus der jüngeren Geschichte, der Nachkriegsgeschichte oder der ganzen Geschichte des 20. Jahrhunderts, dann sind sie letztlich auch politisch nicht mündig, dann sind sie nicht kommunikativ. Dann können sie eine Fernsehmagazinsendung kaum verfolgen, dann können sie in einer Diskussionsrunde sich nicht beteiligen, wenn es um die Aufarbeitung etwa deutscher Geschichte geht. Ich möchte, dass unsere jungen Leute schon auch konkrete Jahreszahlen, konkrete Namen, konkrete Epochenbegriffe im Kunstbereich und im rein geschichtlich-politischen Bereich kennen. Leider haben wir mittlerweile in Deutschland Lehrpläne – ich sag noch mal, man kann sie mittlerweile mit Zweifach-E schreiben –, Geschichtslehrpläne, in denen so was überhaupt nicht mehr vorkommt.
Brink: Also muss es dann doch noch dazu kommen wie bei uns noch? Ich kann mich noch gut erinnern, dass uns ja eingebimst worden ist, also irgendwie 30-jähriger Krieg, von wann war der, wann hörte der auf, was ist da passiert – also doch wieder dieses Abfragen von Fakten?
Kraus: Das sind einfach Orientierungspunkte. Das ist ein Geländer für das eigene historische Bewusstsein. Wenn ich nicht weiß, wann die Weimarer Republik war und was dort die Probleme waren und was Hitler möglich gemacht hat, dann kann ich heute zum Beispiel auch nicht darüber diskutieren und die Gefahren erkennen, die sich möglicherweise durch extremistische Strömungen ergeben. Da muss man Namen kennen, da muss man auch Jahreszahlen kennen, und da bedarf es schon auch etwas des Fleißes, sich bestimmte Dinge zu merken und einzuprägen. Das überholt sich ja nicht. Die hohe Schulpolitik ist immer ein bisschen geprägt von dem Spruch, ja, das Wissen überholt sich immer schneller, wir haben heutzutage Halbwertszeiten des Wissens von nur noch drei Jahren. Gut, das mag in bestimmten Fachgebieten, der Computertechnik und so weiter gelten, aber im Bereich Literatur, Kunst, naturwissenschaftliche Phänomene, Geschichte haben wir ein Wissen von einer unendlichen Halbwertszeit.
Brink: Warum gibt es keinen Aufschrei der Lehrer, also der Geschichtslehrer oder der Kunstlehrer?
Kraus: Den Aufschrei gibt es, aber die sind natürlich zahlenmäßig nicht so wahrnehmbar. Und es gibt leider keinen Aufschrei der Eltern. Wir haben in Deutschland 800.000 Lehrer, aber wir haben die Eltern von elf Millionen Schülern. Es müsste den Aufschrei der Eltern geben. Ich glaube, dass der bei den Politikern wirksamer wäre. Aber da haben wir natürlich in der Elternschaft auch solche und solche, welche, denen es ganz recht ist, wenn die Kinder geschont werden und wenn nicht, wie Sie gesagt haben, etwas gebimst wird. (…)

zum Artikel:  Deutscher Lehrerverband, 24.03.2015, DL-Präsident Josef Kraus im Interview mit Nana Brink, „Aus Lehrplänen sind „Leerpläne“ geworden“

“Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen”

Datum:  25.03.2015
Einladung zum fachlichen Dilettantismus
Wie in den Berliner Schulen das Fach Geschichte unter die Räder kommt
von Rainer Werner – ein Geschichtslehrer und Buchautor mischt sich ein.

(…) Der “Rahmenlehrplan Gesellschaftswissenschaften 5/6″ und der “Rahmenlehrplan Geschichte 7-10″ verstoßen gegen das wichtigste fachdidaktische Prinzip des Geschichtsunterrichts, wonach sich eine historische Epoche nur aus sich selbst heraus verstehen lässt, und zwar dadurch, dass man sich auf die Gegebenheiten dieser Epoche voll und ganz einlässt. Um geschichtliche Ereignisse zu verstehen, braucht man keine vordergründigen Aktualisierungen, die die Schüler häufig nur dazu verleiten, historische Bezüge zu verkürzen oder sie monokausal zu erklären. Die Geschichte ist zudem keineswegs eine reine Fortschrittsgeschichte, wie die im Plan angelegten Themenfelder suggerieren. Der Rahmenlehrplan hält deshalb auch dem avancierten Stand der Fachwissenschaft nicht stand.

Der fragwürdige historische Ansatz bei den historischen Bezügen der Themenfelder, die fehlende Einbettung in den historischen Kontext der jeweiligen Epoche und die problematischen, weil vordergründigen Aktualisierungen werden dazu führen, dass das geschichtliche Bewusstsein der Schüler immer mehr verkümmert. Ein guter Geschichtsunterricht ist aber ein wichtiger Beitrag zur Festigung unserer Demokratie. Von dem US-amerikanischen Philosophen spanischer Herkunft George Santayana (1863-1952) stammt der Satz “Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen”. In Zukunft werden in Berlin Schüler die Schule verlassen, denen ein fragwürdiges Unterrichtskonzept den historischen Kompass für ihr Leben vorenthält. Man kann nur hoffen, dass ihnen ähnlich schmerzliche Lernprozesse wie den Generationen zuvor erspart bleiben werden.

zum Artikel:   Für eine gute Schule, 25.03.2015, Rainer Werner, Einladung zum fachlichen Dilettantismus


Zur Erinnerung:
Berliner Schulgesetz,  §1 Auftrag der Schule

Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln.
Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.
Diese Persönlichkeiten müssen sich der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewusst sein, und ihre Haltung muss bestimmt werden von der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, von der Achtung vor jeder ehrlichen Überzeugung und von der Anerkennung der Notwendigkeit einer fortschrittlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer friedlichen Verständigung der Völker.
Dabei sollen die Antike, das Christentum und die für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaftlichen Bewegungen ihren Platz finden.

Alibiveranstaltung der Berliner Bildungsverwaltung

Datum: 03.03.2015
Ein Schnitt durch die Geschichte

Die Kritik an den neuen Rahmenlehrpläne reißt nicht ab. Eine dreistündige Informations- und Diskussionsveranstaltung der Bildungsverwaltung geriet am Montagabend zu einer großen Abrechnung mit den neuen Rahmenlehrplänen für das Fach Geschichte. Von den rund 300 Lehrern, die in die Max-Taut-Schule nach Lichtenberg gekommen waren, gab es fast ausnahmslos kritische Beiträge. Sie bemängelten nicht nur die neuen Rahmenpläne, die für Berlin und Brandenburg gelten sollen, sondern auch den Umgang mit abweichenden Meinungen: Zwar gibt es ein Onlineportal, in dem jeder seine Kritik äußern kann. Zu sehen seien aber nur die positiven Stellungnahmen.

zum Artikel: Der Tagesspiegel, Schule, 3.03.2014, Sylvia Vogt, Susanne Vieth-Entus, Ein Schnitt durch die Geschichte