Archiv für den Tag: 2. Oktober 2020

„Bildung“ ist ihr Geschäft!

Wem nutzt eine „digitale Revolution“ an unseren Schulen?

Dieser Beitrag wurde in modifizierter Form als Leserbrief im Tagesspiegel veröffentlicht zu einem Text von Jörg Dräger vom 22.09.2020, Bitte keine Pseudo-Digitalisierung in der Schule.

Das Unternehmen Bertelsmann mit der Bertelsmann Education Group zählt zu den zehn größten Medienunternehmen weltweit und ist genau dort tätig, wo auch seine Stiftung ihr Zukunftsthema sieht: in der Digitalisierung der Schule. „Bildung“ ist ihr Geschäft. Es wundert also den Pädagogen nicht, wenn Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, bei jeder sich ergebenden Gelegenheit zu Wort meldet:

„Digitalisierung muss […] die Pädagogik revolutionieren“. An anderer Stelle sagt er: „Die digitale Revolution an unseren Schulen ist also eine pädagogische, keine technische Revolution.“ Was heißt das konkret für den Unterricht unserer Schüler?

Nach Dräger bedarf es dazu einer „neuen Pädagogik, mit der Personalisierung des Lernens im Mittelpunkt“. Er fordert, dass die „Lerninhalte und ihre Vermittlung passgenau“ an die „Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler auszurichten“ sind. Doch die Grundlage für das sogenannte individualisierte oder personalisierte Lernen ist, dass möglichst viele Daten über jeden Schüler erfasst, vom Lernprogramm analysiert, ausgewertet und gespeichert werden („Learning Analytics“). Das verschweigt er!

Die Schüler werden von einem Algorithmus gesteuert, an ihrer Seite ein zum Coach bzw. Lernbegleiter degradierter Lehrer. Für diese „Pädagogische Revolution“ braucht es „digitale Endgeräte, Lernvideos und -software […], um die herkömmlichen Abläufe der schulischen Wissensvermittlung aufzubrechen.“ Alles andere ist für Dräger „Pseudo-Digitalisierung“.

Unter Federführung der konzernnahen Stiftung kommt den Lehrkräften und Schülern nun der Bertelsmann-Konzern mit seiner kompletten Verwertungskette für digitale Lehr- und Lernprodukte sowie einer multimedial gestalteten Lehr-Lern-Umgebung „zu Hilfe“.

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei der Digitalisierung der Schule nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft und die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten werden verschleiert. Zu diesem Vorgehen haben Schülerinnen und Schüler der Sophie-Scholl-Oberschule Berlin in einem Zeitungsbeitrag geschrieben: „Wir sind gegen die Digitalisierung von Schulen, weil wir nicht wollen, dass unsere Daten ausgekundschaftet und benutzt werden. […] Wir haben als Jugendliche das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne dass sie uns im späteren Leben zum Verhängnis werden.“

Wir brauchen keine „digitale Revolution“ an unseren Schulen nach den ökonomischen Interessen und „Bildungs“-Vorstellungen der konzernnahen Bertelsmann-Stiftung [1].

Für die Schule und den Unterricht in der Klassengemeinschaft ist festzuhalten, dass auch der Verlust von Sozialkompetenzen, sprachlichem Ausdrucksvermögen und vernetztem Denken sich gerade nicht durch die „Schul-Digitalisierungs-Revolution“ verbessern lassen – denn Lernen braucht die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden.

Ständig wiederholte Rufe nach einer „pädagogischen Revolution“ helfen hier nicht weiter!

Manfred Fischer, Lehrer. Text für Schulforum-Berlin

[1] Die Stiftung, so Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbands, reduziere Bildung auf „Quantifizierbares“, um sie wirtschaftlich verwertbar zu machen – im Dienste des Bertelsmann-Konzerns: „Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Krake, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.“


Weitere Informationen:

Bertelsmann-Stiftung – „Bildung“ ist ihr Geschäft

Die Bertelsmann-Stiftung prangert regelmäßig Missstände im deutschen Schulwesen an. Das müsste Lehrergewerkschaft und -verbänden eigentlich recht sein. Ist es aber nicht. https://www.tagesspiegel.de/wissen/bertelsmann-stiftung-bildung-ist-ihr-geschaeft/14700072.html

Die Bertelsmann Stiftung wirbt intensiv für die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen. Das passt perfekt in die Strategie des gleichnamigen Konzerns: Das Bildungsgeschäft ist seine neue „Cash-Kuh“. https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Autoren der Bertelsmann-Stiftung das Land belehren wollen. Sie kommen selbstlos daher – und regen viele auf. Zurzeit zum Beispiel die Lehrer. https://www.sueddeutsche.de/bildung/gesellschaft-und-politik-das-glashaus-1.3899280-0#seite-2

Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18. Siehe auch: https://schulforum-berlin.de/das-who-is-who-der-deutschen-bildungs-digitalisierungsagenda/

Jochen Krautz (2020): Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. GBW-Flugschrift 1; Ralf Lankau (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. GBW-Flugschrift 2, https://bildung-wissen.eu/gbw-flugschriften