Archiv für den Tag: 5. Dezember 2025

Schulen im Fadenkreuz der Lobbyisten

„Technology in education: A tool on whose terms?“[i]

Bereits seit einigen Jahren gilt Digitalisierung im Bildungsbereich für alle Altersstufen als zeitgemäße Lösung von Bildungsfragen. In diesem Tenor äußert sich in einem Interview mit der Berliner Zeitung[ii] auch der Schulleiter einer digitalen Vorreiterschule in Gütersloh, Martin Fugmann. Für ihn ist „Digitalisierung“ in der Schule „kein Luxus, sondern Grundvoraussetzung für Bildung im 21.Jahrhundert.“ Die „gigantischen Summen“, die aufgebracht werden müssen, wenn „alle vier bis fünf Jahre zehntausende Geräte neu beschafft werden sollen, sprengt die Haushalte“ der Kommunen, so Fugmann weiter in seiner „Analyse“. Bei den Überlegungen zur Digitalisierung im Bildungsbereich hat er bereits in den „Deutschland- und Geschäftsmodus“ umgeschaltet.

Der Schulleiter, der auch geschäftsführender Vorstand der Heraeus-Bildungsstiftung und diese Mitglied im „Forum Digitalisierung Bildung“[iii] ist, hält als Forderung für die Grundschulen fest: Nicht nur „Lesen, Schreiben und Rechnen“ gehören zur Allgemeinbildung sondern „unbedingt“ auch „digitale Grundkompetenzen“. Wie es um die Grundkompetenzen in „Lesen, Schreiben und Rechnen“ bei den Grundschülern bestellt ist, scheint für ihn kein Problem zu sein – hat er doch ganz anderes im Sinn.

Offensichtlich ist: Es geht nicht wirklich um den Lernerfolg unserer Schülerinnen und Schüler, es geht um ein Milliardengeschäft. So berichtet die BertelsmannStiftung bereits am 3.11.2017: „IT-Ausstattung an Schulen: Finanzierung ist eine milliardenschwere Daueraufgabe“. Sie fordert: „Rund 2,8 Milliarden Euro müssten jährlich investiert werden, um all unsere Grundschulen und weiterführenden Schulen mit entsprechender Infrastruktur auszurüsten.“[iv]

Eindrucksvoll beschreibt dieses Vorgehen Christian Füller in der GEW-Zeitung am Beispiel von Bertelsmann. Schaut man genauer hin entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel: Die Stiftungen wirken wie ein Türöffner“[v]. Zu jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit melden sich deren „Experten“ zu Wort, um ihre „digitalen Bildungskonzepte“ voranzubringen. Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Ein weiterer Verschwurbler in Sachen „Digitalisierung im Bildungsbereich“ ist der Geschäftsführer der „Wübben Stiftung Bildung“, Markus Warnke. Er äußert sich folgendermaßen in einem Interview im Tagesspiegel vom 17.7.2024 mit Susanne Vieth-Entus u. Saara von Alten: „Es kann doch nicht sein, dass der Schutz von Daten wichtiger ist als das gelingende Aufwachsen unserer Kinder“. Für die „Digitalisierung der Schule“ fordert er die Einführung einer „Schüler-Identifikationsnummer“ sowie eine „datengestützte Unterrichtsentwicklung.“ Auch die „Wübben Stiftung Bildung“ ist Mitglied im Stifterverbund „Forum Bildung Digitalisierung“.[vi]

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei der Digitalisierung der Schule nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft und die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten werden verschleiert. Zu diesem Vorgehen haben Schülerinnen und Schüler der Sophie-Scholl-Oberschule Berlin in einem Zeitungsbeitrag geschrieben: „Wir sind gegen die Digitalisierung von Schulen, weil wir nicht wollen, dass unsere Daten ausgekundschaftet und benutzt werden. […] Wir haben als Jugendliche das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne dass sie uns im späteren Leben zum Verhängnis werden.“

Einen Überblick über das Zusammenwirken der weiteren Akteure über das „Forum Bildung Digitalisierung“ hinaus verdeutlicht Annina Förschler in ihrem Beitrag „Who is who?“[vii] In der Darstellung wird das „komplexe Netzwerkgeflecht“ der verschiedenen Akteure ersichtlich. Ihre Forschungsergebnisse umfassen den Zeitraum von 2000 bis 2018.

Abb.1: Akteurs-Netzwerk der Digitalisierungsagenda von Bildung in Deutschland. Annina Förschler (2018): „Who is who?“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse. Mit „KLICK“ auf das Bild wird die Abbildung vergrößert.

Tatsächlich verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien. So ist eine der KERNAUSSAGEN im „Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms?“[viii], dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern wirtschaftliche Interessen. Deutlich wird dies durch einen Blick in den Report:

„Es gibt wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung. Die Technologie entwickelt sich schneller als wir sie evaluieren können: Produkte aus dem Bereich der Bildungstechnologien ändern sich im Durchschnitt alle 36 Monate.“

„Ein Großteil der Studien stammt von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen. Pearson [der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada] finanzierte eigene Studien und bestritt unabhängige Untersuchungsergebnisse, wonach die Produkte des Unternehmens keine Effekte zeigten.“

Die wirtschaftlichen Interessen in der umfassenden „Digitalisierung der Bildung“ charakterisierte Christian Füller als „Trojanisches Pferd“[ix] und schrieb in der Hamburger GEW-Lehrer-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[x] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften `Teilhabe´ und `Kooperation´ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Diese Aussagen bestätigt das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[xi] und erklärte dazu in einer Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

In ihrer Stellungnahme führen sie weiter aus:

„Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“

Ungeachtet dieser Stellungnahmen der Wissenschaftler führt der Schulleiter der digitalen Vorreiterschule in Gütersloh, Martin Fugmann im Interview weiter aus: Die Lehrkräfte müssen in ihrer Ausbildung „lernen, wie man Unterricht mit digitalen Werkzeugen gestaltet, wie man Kollaboration anbahnt, wie man Lernplattformen nutzt.“

Unter der Überschrift: „Digitales Geräteturnen“ führte dazu Susanne Klein[xii] bereits 2017 in der Süddeutschen Zeitung treffend und komprimiert aus: Das „klingt so, als müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken“ und bitteschön, im Sinne der im Hintergrund des Stifterverbunds „Forum Bildung Digitalisierung“ agierenden IT- und Medienindustrie. Sie fordert auf: „Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen.“

Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg stellt dazu fest, „dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[xiii]

Worauf es ankommt

Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortet Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: „Ein […] Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“[xiv]

Die Bedeutung des Sozialen Lernens in der Schule hebt der Lehrer Marcus Vollack in einem Beitrag in der Berliner Zeitung[xv] vom 7.11.2025, hervor und ergänzt: „Das Erleben und Erfahren der emotionalen Selbstwirksamkeit, die Teilhabe an der Gruppe, das Einfühlen in andere Kinder (Empathie), die Stärkung der eigenen Resilienz und Frustrationstoleranz, ein ausgeprägtes Regelverständnis, die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes sowie gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien – das alles sind wichtige Lernprozesse des Sozialen Lernens.“ Und fügt hinzu: „Das alles lernen Kinder nicht mit oder über digitale Technologien, sondern nur in der Interaktion mit anderen Menschen.“

Dies bestätigt auch der Bildungsforscher John Hattie und „warnt vor falsch verstandener Individualisierung des Lernens“ indem er sagt: „Der Kern schulischen Lernens war schon immer Zusammenarbeit und soziales Lernen – das Lernen mit und von anderen.“[xvi]

Textzusammenstellung und Fußnoten durch Schulforum-Berlin

Beitrag als PDF-Datei


[i] Fragestellung der UNESCO im Global Education Monitoring Report 2023. Die UNESCO kritisierte im „Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms?“, dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern wirtschaftliche Interessen.
Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000386147_ge. (2.12.2025)

[ii] Interview mit der Berliner Zeitung vom 30.9.2025, „Wir haben keine Zeit mehr“ – Digitalisierung an Berliner Schulen stagniert, Ronja Ackermann (2.12.2025)

[iii] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich:
Im Forum Bildung Digitalisierung sind derzeit zehn große deutsche Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund Mitglied: Deutsche Telekom Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Dieter von Holtzbrinck Stiftung, Heraeus Bildungsstiftung, Joachim Herz Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland und Wübben Stiftung Bildung. Berlin ist Netzwerk, Bühne und Treffpunkt für die wichtigsten Debatten über Bildung.

[iv] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/november/it-ausstattung-an-schulen-finanzierung-ist-eine-milliardenschwere-daueraufgabe/ (2.12.2025)

[v] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, „Perfektes Zusammenspiel“, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel (2.12.2025)

[vi] Mehr dazu: https://schulforum-berlin.de/die-wirren-der-bildungs-stiftungen/ (2.12.2025)

[vii] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52. (2.12.2025)

[viii] Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000386147_ge. (2.12.2025), Zusammenfassung:  https://schulforum-berlin.de/technologie-in-der-bildung-ein-werkzeug-zu-wessen-bedingungen/  (2.12.2025)

[ix] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, „Perfektes Zusammenspiel“, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel (2.12.2025)

[x] Zu den unternehmensnahen Stiftungen im Bildungsbereich siehe auch: Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf (2.12.2025)

[xi] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung. (2.12.2025)

[xii] Süddeutsche Zeitung, 15.9.2017, „Digitales Geräteturnen“, Susanne Klein (2.12.2025)

[xiii] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[xiv] Siehe: Tagesspiegel vom 8.12.2023, S. 16, „Fragwürdige Bildungsstudie“, https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html (2.12.2025)

[xv] Berliner Zeitung, 7.11.2025, Markus Vollack, Open Source Beitrag. https://www.berliner-zeitung.de/open-source/klage-eines-berliner-lehrers-dieser-aspekt-kommt-an-deutschen-schulen-regelmaessig-zu-kurz-li.10001522 (2.12.2025)

[xvi] Bildungsforscher John Hattie warnt vor falsch verstandener Individualisierung des Lernens, John Hattie, 27. Oktober 2025, aus: https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/john-hattie-warnt-vor-falsch-verstandener-individualisierung-des-lernens/ (2.12.2025)