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Auswirkungen des Ökonomismus in der Bildung

ZERSETZUNG VON BILDUNG:
ÖKONOMISMUS ALS ENTWURZELUNG UND STEUERUNG

EIN ESSAY
Prof. Jochen Krautz
Ein Essay ist ein Versuch. Hier der Versuch, die dominanten Entwicklungen beim Umbau des Bildungswesens im deutschsprachigen Raum der letzten 20 Jahre in einem großen Zug zusammenzudenken. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass der überall sichtbare
Bildungsabbau durch bekannte Phänomene wie PISA-Test und Bologna-Reform nicht „perverser Effekt“ an sich gut gemeinter Reformen ist, sondern deren eigentliche Intention. (…)

„Bildung in der res publica“
In diesem Sinne ruft der Richter am Bundesverfassungsgericht, Johannes Masing, in Erinnerung, dass „keine politische Ordnung so eng verwoben (ist) mit Vertrauen in Bildung wie die Demokratie.“ Diese Vorstellung gehe davon aus, dass „alle Bürger substantiell gleich sind“ und baue auf „das Vertrauen in Urteilsfähigkeit, die es erlaubt, politische Fragen als Sachfragen auszutragen.“ Bildung in der Demokratie hat demnach diese Urteilsfähigkeit zu entwickeln und zu fördern, um der demokratischen Selbstbestimmung willen und die im Sinne des Allgemeinwohls angemessenen Klärung der Sachfragen. (…)

Gleichheit, Selbstbestimmung, Gemeinschaftlichkeit und gemeinsame Klärung der Sachfragen in bestmöglicher Annäherung an das Richtige sind somit wesentliche Kennzeichen von Demokratie und markieren gleichzeitig die Aufgabe von Bildung und Bildungswesen in einem solchen Staat. Die Gestaltung dieses Bildungswesens kann zudem ebenfalls nur demokratisch verantwortet werden. (…)

Bildung an öffentlichen Schulen dient demnach der Personwerdung des Einzelnen im Horizont des Gemeinwohls, also in der Orientierung auf Friede, Freiheit und Gerechtigkeit. Dem widerspricht schon grundsätzlich jede Verkürzung von aufklärerischer Bildung auf das Training vordergründig anwendungsorientierter, funktionaler Kompetenzen. Und dem widerspricht ebenso grundsätzlich eine rein wirtschaftsliberale Auffassung, der zufolge Bildung den
Menschen „lebensfähig für den Markt“ zu machen habe. Demokratische Selbstbestimmung würde sich dann auf das Treffen von Konsumentscheidungen am Markt reduzieren. Die deutsche Verfassung aber sieht „den Menschen und die ihn repräsentierende gewählte Staatsgewalt als Gestalter des Marktes, nicht den Markt als Gestalter des Menschen.“ Somit gilt: Nicht die Wirtschaft als gesellschaftliches Subsystem kann definieren, was an Bildung nötig und wie sie auszugestalten sei. Vielmehr ist die Frage nach dem Beitrag von Bildung zum Wirtschaftsleben nur bestimmbar in einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft, in der die Wirtschaft dem Menschen als Person, nicht der Mensch als Funktion der Wirtschaft dient. Jede Forderung der Wirtschaft an Bildung muss daher notwendig zu der Rückfrage führen, von welcher Form von Wirtschaft diese Forderung ausgeht: Eine Form, die vom egoistischen Interesse ausgeht, oder eine solche, die am Gemeinwohl orientiert ist?
Bildung dient also nicht funktional der Wirtschaft. Gleichwohl kann und muss sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, jungen Menschen ein Wissen und Können zu vermitteln, das sie auch befähigt, am Wirtschaftsleben verantwortlich teilzunehmen und dieses mitzugestalten. Allgemeine Bildung und berufliche Qualifikation sind also kein Gegensatz, wie mit einem falschen Verweis auf Wilhelm von Humboldt gerne unterstellt wird. (…)

Der Bildungsabbau durch bekannte Phänomene wie PISA-Test und Bologna-Reform sind nicht „perverser Effekt“ an sich gut gemeinter Reformen, sondern deren eigentliche Intention.

(…) Die durchschlagenden Wirkungen sind nicht nur im Alltag von Schule und Hochschule längst sichtbar, sondern auch empirisch belegt. Der Sonderforschungsbereich 597 der Universität Bremen widmet sich den Formen von „soft governance“ seitens der internationalen
Organisationen wie OECD und EU im Bildungswesen seit längerem und fasst in einer Teilstudie für Deutschland zusammen:
„Der zu beobachtende Reformprozess ist maßgeblich von Initiativen auf internationaler Ebene angestoßen und beeinflusst worden – namentlich durch die PISA-Studie der OECD und den Bologna-Prozess, welcher mehr und mehr mit der EU zu assoziieren ist. In beiden Fällen wurde durch die Anwendung vornehmlich weicher Steuerungsmechanismen maßgeblich Einfluss auf die Reformprozesse genommen. Obwohl in Deutschland zahlreiche institutionelle Vetopunkte im Bereich der Bildungspolitik existieren und die traditionellen Prinzipien des deutschen Bildungsverständnisses den von der internationalen Ebene beförderten Idealen teilweise diametral gegenüberstanden, gelang es beiden internationalen Organisationen bzw. Initiativen diese blockierenden Effekte zu umgehen bzw. zu neutralisieren.“

(…) Anhand der Bologna-Reform etwa lässt sich sehr genau zeigen, wie mit in Aussicht gestellten Vorteilen und dem bewussten Ansprechen politischer Vorlieben Akteure gegeneinander ausgespielt wurden. Dies funktionierte dabei offenbar so gut, dass Detlef Müller-Böling, damals Chef des „Centrums für Hochschulentwicklung“ (CHE), einem Ableger der Bertelsmann Stiftung, im Rückblick in dreister Offenheit formulieren kann:
„Man darf Frösche nicht fragen, wenn man ihren Teich trockenlegen will. […] Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann. […] Im CHE standen dreißig Leute 36.000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern.” (…)

(…) Das Programm kultureller Entwurzelung und geistiger Neuformatierung wurde von der OECD dezidiert beschrieben und zeigt ebenfalls seine Wirkung als Folge des oben beschriebenen Bildungsabbaus. Über die Wirkung der Entwurzelung aber hat niemand luzider nachgedacht als Simone Weil (1909-1943, französische Philosophin, Dozentin und Lehrerin sowie Sozialrevolutionärin jüdischer Abstammung):
„Auch ohne militärische Eroberung können die Macht des Geldes und wirtschaftliche Übermacht den Zwang eines ausländischen Einflusses so stark werden lassen, dass er die Krankheit der Entwurzelung verursacht. […] Das eine ist das Geld. Das Geld zerstört die Wurzeln überall, wo es eindringt, indem es alle Triebfedern durch das Gewinnstreben ersetzt. […] Die zweite Ursache der Entwurzelung ist der heutige Begriff von Bildung. […] eine Bildung, die sich in hohem Maße an der Technik orientiert und von dieser beeinflusst wird […].“
Entwurzelung aber „ist mit Abstand die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaften, denn sie vervielfacht sich selbst,“ so Weil weiter: „Wer entwurzelt ist, entwurzelt auch andere. Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.“

(…) Mitglieder neokonservativer Think-Tanks in den USA beschreiben dieses strategische Vorgehen [der kulturellen Entwurzelung], das sich hier abzeichnet, dezidiert:
„Schöpferische Zerstörung ist unser zweiter Name, sowohl nach innen in unserer eigenen Gesellschaft als auch nach außen. Wir reißen die alte Ordnung jeden Tag ein, vom Business zur Wissenschaft, Literatur, Kunst, Architektur und Film zu Politik und Recht. Unsere Feinde haben den Wirbelwind von Energie und Kreativität immer gehasst, der ihre Traditionen bedroht. Wenn sie sehen, wie Amerika traditionelle Gesellschaften demontiert, fürchten sie uns, weil sie nicht demontiert werden wollen.“

(…) Der Ausblick für „die nächsten hundert Jahre“ klingt (bei George Friedman) nicht anders:
„Die Vereinigten Staaten müssen keine Kriege gewinnen. Es reicht aus, wenn sie die andere Seite aus dem Gleichgewicht bringen und daran hindern, so stark zu werden, dass sie eine Gefahr darstellen.“ „Zu Beginn des Amerikanischen Zeitalters haben die Vereinigten Staaten großes Interesse daran, traditionelle Gesellschaftsmuster aufzubrechen. Dies erzeugt einen Grad an Instabilität, der ihnen den größtmöglichen Spielraum verschafft.“

Wohlgemerkt: Das Handeln „der“ Vereinigten Staaten ist dabei nicht im Sinne des demokratischen Willens ihrer Bürger zu verstehen. Vielmehr sind diese Positionen Ausdruck geostrategischer Überlegungen der dort ansässigen Finanz- und Machteliten und ihrer
ideologischen Brutstätten.

(…) Einfacher drückt dies der US-Historiker Eric Zuesse aus:
„Es gibt zwei Wege, um in jedem Spiel zu gewinnen: Ein Weg ist, die eigene Leistung zu verbessern. Der andere ist, die Leistung all seiner Konkurrenten zu schwächen. Die USA verlassen sich zurzeit fast ausschließlich auf die zweite Strategie.“

(…) In dieser politischen Perspektive steht an erster Stelle die Rückforderung politischer Souveränität: Politische Steuerungsvorgänge durch internationale Organisationen sind demokratiewidrig, das dabei durchgesetzte Menschenbild und Bildungsziel verfassungswidrig.
Öffentliche Aufklärung, Engagement für eine Bildung, die Demokratie und Grundgesetz gerecht wird, ist somit Pflicht von Wissenschaft sowie aller Lehrenden an Schulen und Hochschulen, soll die Grundlage der eigenen Arbeit und der gemeinsamen Kultur und Demokratie nicht aufgegeben werden. (…)

Gesamter Beitrag, sämtliche Zitate und Literaturhinweise siehe:
Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte, Beiheft 5, Bildung gestalten – Akademische Aufgaben der Gegenwart, S. 129. Herausgegeben von Silja Graupe und Harald Schwaetzer zur Eröffnung der Cusanus Hochschule,
ZERSETZUNG VON BILDUNG: ÖKONOMISMUS ALS ENTWURZELUNG UND STEUERUNG
Prof. Jochen Krautz

Ein Rahmenlehrplan für alle: Etwas „nachjustiert“ aber Richtung beibehalten – Kritik ebbt nicht ab

Einer für alle – Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg verabschiedet

18.11.2015, Susanne Vieth-Entus

Berlin und Brandenburg haben als bundesweit erste Länder am Mittwoch einen gemeinsamen Rahmenlehrplan für alle Schulformen verabschiedet. Es ist zugleich das erste Mal, dass sich zwei Bundesländer auf identische Inhalte für alle Fächer geeinigt haben. Ab 2017/18 sollen die neuen Vorgaben umgesetzt werden. Die seit Monaten geäußerte Kritik an den Neuerungen riss auch nach der Unterzeichnung durch Bildungssenatorin Sandra Scheeres und Bildungsminister Günter Baaske (beide SPD) nicht ab. (…)

Der neue Rahmenlehrplan umfasst alle Jahrgangsstufen von Klasse 1 bis 10 und gilt für Grundschulen, Sekundarschulen, Gymnasien und alle Förderschulen, abgesehen von den Schulen für geistig Behinderte. (…)

Es werde aber eine „große Herausforderung“, ein Raster für die individuelle Benotung zu entwerfen, das starken und schwachen Schülern gerecht werde. (…)

Generelle Kritik gibt es am Gesamtkonzept des Werks. Es sei „überfrachtet“, dazu passagenweise „elaboriert oder schematisch“ geschrieben. Die Zuordnung der Kompetenzen zu acht verschiedenen Niveaustufen mache die Verwirrung komplett, heißt es. (…) Letztlich bleibe es aber dabei, dass man – auch mit dem neuen Plan – guten und schlechten Unterricht machen könne, resümiert Ursula Reichelt vom Fachverband Deutsch.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 18.11.2015, Susanne Vieth-Entus, Einer für alle – Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg verabschiedet

Sag mir, wo die Schüler sind

Wenn die duale Ausbildung zum Fremdwort wird

Im Senat herrscht Unklarheit darüber, wie viele Schulabgänger eine duale Ausbildung beginnen. Klar ist: Ihre Zahl ist vor allem bei Migranten gering.
Susanne Vieth-Entus, 14.10.2015

(…) Im Berliner Bezirk Mitte wurden die Sekundarschulen befragt, wie viele ihrer Schüler nach der zehnten Klasse eine duale Ausbildung beginnen. Das Ergebnis lautete: 60 von 1080 Abgängern – mithin 5,6 Prozent. Rund 500 Schüler „sind arbeitslos oder besuchen Maßnahmen, die nicht zu einem Berufs- oder Bildungsabschluss führen“, heißt es einem internen Bericht, der der grünen Abgeordneten Stefanie Remlinger zugespielt wurde. (…)

Schätzungen besagen, dass berlinweit nur jeder zehnte Sekundarschüler den direkten Weg in die duale Ausbildung findet. In sozialen Brennpunkten sind es noch weniger. Und am wenigsten in Mitte, wo die Quote bei besagten 5,6 Prozent liegt und der Migrantenanteil bei 80 Prozent.

Eine Sekundarschule im Bezirk, die nicht genannt werden möchte, berichtet, dass 2014 nur sechs von über 120 Absolventen eine betriebliche Ausbildung begonnen haben; vier von ihnen gaben auf, „weil die Eltern nicht dahinter standen, oder weil es den Schülern zu anstrengend war“, wie der Rektor resümiert.

Diese Bilanz ist für die Schule vor allem deshalb niederschmetternd, weil die Schüler „von hinten bis vorn gepimpt und beraten“ worden seien, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Einen Grund für den Misserfolg sieht der Schulleiter in der „Sozialisation“ der Schüler: „Sie bekommen bestimmte Dinge nicht vorgelebt.“ Oft habe in der Familie kaum jemand einen Beruf. „Die Schüler erfahren, dass sich auch ohne Arbeit ganz gut leben lässt. Darum sehen sie nicht ein, warum sie um sechs Uhr aufstehen und acht Stunden lang schuften sollen“, berichtet eine Schulleiterin im selben Bezirk. (…)

Die Erwartungen an die neue Jugendberufssagentur, die soeben ihre Arbeit aufgenommen hat, ist hoch. Ob sie die Jugendlichen in Ausbildung und Beschäftigung bringen und ergründen kann, welchen Weg die Schüler nach der Schule gehen?

zum Artikel: Der Tagesspiegel, Berlin, 15.10.2015, Susanne Vieth-Entus, Wenn die duale Ausbildung zum Fremdwort wird (Sag mir, wo die Schüler sind)


siehe auch die Meldung im Tagesspiegel vom 16.11.2015:
Susanne Vieth-Entus, 3000 Jugendliche: Nach der Schule ins Nichts

  • 3000 Berliner Jugendliche fallen allein in diesem Jahr nach dem letzten Schuljahr ins Nichts!
  • 15000 Jugendliche sind arbeitslos gemeldet.

Wo bleibt der politische und gesellschaftliche Aufschrei angesichts tausender unversorgter Jugendlicher?

Wissen und Können in Schule und Universität nachhaltig vermitteln

Klüger lernen

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Bildungsprozesse oder anders gefragt: Was ist nachhaltiges Wissen und wie muss es vermittelt oder erlernt werden?

Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Humbold-Universität Berlin, 10.10.2015

(…) Lernen ist zum globalen Problem avanciert, und zwar nicht nur im Hinblick auf die sich immer schneller ablösenden Lerninhalte, sondern auch auf Probleme des Lernens selbst, hinsichtlich seiner Methoden, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formen. Junge Menschen müssen sich auf Anforderungen vorbereiten, die noch niemand genau kennt.

In der Schule gehören daher solides Grundwissen und entsprechendes Können zu den Prämissen nachhaltiger Bildung. Dahinter verbirgt sich vor allem das Rüstzeug, ein Leben lang weiter zu lernen und den jeweiligen Lernbedarf rechtzeitig und selbständig zu erkennen. Es gibt dafür den vergleichsweise nüchternen Terminus „Kulturtechniken“.

An der Universität geht es um die Fähigkeit, wissenschaftlich an die Welt heranzugehen und zugleich das Wissen und Können zu mehren, das in der Schule den „Lernstoff“ bildet, also die Wissenschaft voranzutreiben. (…)

Denn Wissen kann man quantifizieren, Bildung jedoch bedeutet, Wissen zu qualifizieren. Wissen ist der Rohstoff für Bildung – nachhaltig lässt er sich einsetzen, wenn man es ordnet und verknüpft, aber auch kritisch prüft und auswählt, methodisch herleitet, an Sinn und Einsicht knüpft. Eingebettet in ein Kontinuum von Menschlichkeit und Kultur wird dann aus Bildung ein nachhaltiges Projekt.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Beilage der HU zum Start des Wintersemesters 2015/2016, 10.10.2015, Jan-Hendrik Olbertz, HU-Präsident, Klüger Lernen

Hervorhebung im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

„Erleichterungspädagogik“ und „Leistungsplacebos“

„Lernen muss nicht Spaß machen“

Matthias Burchardt über den Mythos Leistung, das Komplott der „Erleichterungspädagogik“ und das Missverständnis, in der Schule eine Agentur zum Humankapitalaufbau zu sehen

Matthias Burchardt lehrt an der Uni Köln  am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik. Er referiert im Rahmen der vom Arbeitsbereich Fachdidaktik Psychologie – Philosophie von Konrad Paul Liessmann, Katharina Lacina und Bernhard Hemetsberger in Kooperation mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe „Mythos Leistung?“.
5.10.2015, Interview Lisa Nimmervoll

STANDARD: „Mythos Leistung?“ lautet das Thema der Vortragsreihe, die Sie nach Wien führen wird. Wie ist es um die Leistung, den Leistungsgedanken bestellt?
Burchardt: (lacht) Schlecht. Einerseits wird der Leistungsbegriff überstrapaziert und eine wettbewerbliche Leistungsgesellschaft gefordert, die den Kindern alles Mögliche zumutet und sie im Leerlauf erschöpft. Andererseits finden wir Tendenzen der Erleichterung, dass man sagt, wir müssen Kinder vor allem schützen, was sie fordert, und dann traut man ihnen gar nichts mehr zu, sodass es an der Zeit ist, den Leistungsbegriff einer pädagogischen Klärung zuzuführen, um vor allem auch die ideologische Ausbeutung dieses Begriffs zu befragen. (…)

Wie definieren Sie Leistung? Das, was mit Noten gemessen wird, „Kompetenzen“ oder wie?
Da müssen wir erst eine Begriffsklärung vornehmen. Interessant ist ja, dass dieses Erleichterungskomplott mit Messbarkeiten argumentiert. Nun ist jedem nachdenklichen Menschen klar, dass man Bildung überhaupt nicht trainieren, messen oder vergleichen kann wie die Leistung eines Sportlers. Diesen äußeren, auf Messbarkeit zugeschnittenen Leistungsbegriff würde ich als untauglich und inhuman ablehnen und für einen pädagogischen Leistungsbegriff plädieren im Sinne von Leistung als Bewährung: Ich bewähre mich an etwas, da ist etwas, woran die Wahrheit meiner Fähigkeiten zutage kommt, wo ich eine Hürde nehmen, eine schwere Aufgabe lösen muss. Aber ich bewähre mich auch für etwas. Jemand, der sich an Aufgaben bewährt hat, ist auch in der Lage, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Wer sich bewährt, bekommt die Anerkennung, dass er gebraucht wird. Das ist sehr wichtig für junge Menschen in allen Schulformen. Mit so einem pädagogischen Leistungsbegriff werden wir der Person, aber auch den gesellschaftlichen Ansprüchen und der Komplexität der Welt gerecht. Denn es ist ja nicht durch Erleichterungspädagogik aus der Welt zu schaffen, dass die Quantenphysik relativ schwer zu verstehen ist. (…)

(…) Ich halte es für eine gefährliche Entwicklung, diese Leistungsansprüche allein vor dem Kriterium des Marktes zu beurteilen, weil es noch ein marktunabhängiges Kriterium gibt: die Ansprüche, die das Leben an uns stellt. Wir müssen uns nicht nur in der Arbeit bewähren, sondern auch in der Kultur, in der Gesellschaft, im demokratischen Raum. Aber auch existenziell müssen wir uns bewähren an Lebenskrisen, und da ist Bildung gefragt, die eben nicht marktabhängig ist. (…)

Früher hörte man oft den Satz „Ohne Fleiß kein Preis“. Das hat sich irgendwie aufgehört. Zu Recht? Oder ist Fleiß eine Dimension, die im Zusammenhang mit Leistung gedacht werden muss?
Absolut. Fleiß, Anstrengung – das ist kein Selbstzweck. Ich finde es schrecklich, wenn man sagt, Schule muss den Kindern Spaß machen. Lernen muss nicht Spaß machen. Fernsehen oder Spielen machen Spaß. Erfolg kann Freude machen, die Freude nach einer Anstrengung, sich an etwas bewährt zu haben, ist durch kein Spaßmedium zu ersetzen. Wir betrügen die Kinder um diese Erfahrung, wenn die Schule auf herausfordernde Leistungsansprüche verzichtet.

zum Artikel:  STANDARD, Wien, 05.10.2015, Lisa Nimmervoll, Bildungsphilosoph: „Lernen muss nicht Spaß machen“

Hervorhebung im Fettdruck durch Schulforum-Berlin


siehe auch:
ZERSETZUNG VON BILDUNG: ÖKONOMISMUS ALS ENTWURZELUNG UND STEUERUNG
EIN ESSAY
Prof. Jochen Krautz
aus:  Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte, Beiheft 5, Bildung gestalten – Akademische Aufgaben der Gegenwart, S. 129. Herausgegeben von Silja Graupe und Harald Schwaetzer zur Eröffnung der Cusanus Hochschule

(…) „Bildung ist ohne Wissen und Können nicht zu haben. Wer nichts weiß oder kann, verfügt auch nicht über Bildung.“ 1) Bildung hat in dieser Perspektive mit Anstrengung zu tun, die man aufwenden muss, um Können und Wissen zu erwerben. Diese Bewährung an der Sache stärkt und bildet die Persönlichkeit. Insofern stellt sich auch wohlgemeinte „Bildungsgerechtigkeit“ nicht ein, wenn man das Anspruchsniveau für alle senkt.

1) Prof. Dr. Robert Kreitz:  Wissen, Können, Bildung – ein analytischer Versuch, S. 98


siehe auch:
PRO DOMO
Festrede zur Hundertjahrfeier der Humboldtschule, Berlin-Tegel, am 23. Mai 2003 im Ernst–Reuter–Saal des Rathauses Reinickendorf/Berlin, Hinrich Lühmann, Schulleiter des Humboldt-Gymnasiums.

(…) Nun ist Schule zwar, wenn es gut geht, fair und freundlich, aber sie ist keine dauernde
Lustbarkeit, denn sie verlangt Arbeit und konfrontiert den Heranwachsenden, je älter er
wird, desto fester, mit Leistungsanforderungen. Dabei werden seine Möglichkeiten, aber
auch seine Grenzen deutlich. Das kindliche Lustprinzip wird durch das Realitätsprinzip der
Erwachsenenwelt abgelöst.
Woran es in Deutschland fehlt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Prozesses, der
in anderen Ländern, historisch völlig ungebrochen, als notwendige und frühe Lebenserfahrung
begriffen, akzeptiert und gefordert wird. (…)


siehe auch:
Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive
John Hattie, Gregory C.R. Yates
1. Auflage, 2015, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, S.113,114
Überarbeitet von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer

Aus der Sicht des Lernenden ist Lernen nicht immer angenehm
Allgemein gesehen, bringt Lernen ein hohes Maß an Belohnung und persönlicher Zufriedenheit mit sich. (…) Das eigentliche Lernen ist größtenteils nicht angenehm. Es ist angenehm eine Fertigkeit zu haben, Können zu zeigen und sich vorzustellen, was man tun kann. Es ist angenehm, etwas zu leisten oder von den Vorteilen der Leistung zu träumen. Dennoch kann Lernen mühsam sein. Der eigentliche Lernprozess, der Moment, an dem das Lernen stattfindet, kann anstrengend und mit Gefühlen der Unsicherheit belastet sein. Dies kann schnell in negative Gefühle umschlagen, wenn die Aufnahmefähigkeit überschritten wird. (…)
In ähnlicher Weise unterschätzen wir den Zeit- und Übungsumfang, der erforderlich ist, um eine neue Fertigkeit zu entwickeln. Wir unterschätzen, wie viel Disziplin und Entschlossenheit zur Entwicklung von fachlicher Kompetenz benötigt werden. (…)


siehe auch:
„Visible Learning for Teachers – Maximizing impact on learning” –
Zusammenfassung der praxisorientierten Konsequenzen aus der Forschungsbilanz von John Hattie „Visible Learning”
Dieter Höfer & Ulrich Steffens, 26. 092012, Institut für Qualitätsentwicklung, Wiesbaden

(…) Erfolgreiches Lernen erfordert nach Hattie vor allem zwei Fähigkeiten: 1) bewusste Lernpraxis und 2) Konzentration. Er macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass Lernen nicht ununterbrochen Spaß machen kann. Vielmehr ergeben sich für jeden Lerner auch längere Phasen einer notwendigen, aber eben nicht immer angenehmen harten Arbeit, bis es gelingt, eine bestimmte Fähigkeit mit hinreichender Geschwindigkeit, Sicherheit und Effektivität auszuführen. Erfolgreiches Lernen in diesem Sinne erfordert Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und entsprechende sachgerechte Reaktionen.

Hattie verweist in diesem Zusammenhang auf die häufig unterschätzte Bedeutung von Konzentration („concentration“) und Beharrlichkeit („persistence“). Gerade für Anfänger ist es von entscheidender Bedeutung, dass es während des aktiven Lernprozesses wenig Ablenkung von den Inhalten und den Erschließungsmethoden gibt. Dies sicherzustellen, ist daher eine der fortlaufenden Aufgaben der unterrichtenden Lehrkräfte. (…)

mehr zum Beitrag unter der Seite “Lernen” …

Zum Welttag des Lehrers

Hilferuf aus dem Lehrerzimmer

Die Pädagogen im Lande mühen sich redlich, die Schulpolitik hingegen folgt heiklen Illusionen – Drei Beispiele aus Nordrhein-Westfalen
Michael Felten, 30.09. 2015

Zum „Welttag des Lehrers“ am 5. Oktober dürfen die Pädagogen hierzulande auch in diesem Jahr keine größeren Ehrungen erwarten. Zu sehr sind Schulministerien und Kultuspolitik damit beschäftigt, der problematischen Leistungsbilanz unserer Schulen durch Reformaktionismus und Begriffsakrobatik zumindest scheinbar beizukommen.
Ein Kollege sagte kürzlich: „Die Politik blockiert Stück für Stück die Instrumente, die wir für unsere Arbeit brauchen.“ Dazu drei Beispiele aus Nordrhein-Westfalen.

HAUSAUFGABEN
Sicher, das nachmittägliche Üben war immer schon lästig. Aber dass Schüler an Ganztagsgymnasien neuerdings gar keine Hausaufgaben mehr machen dürfen, macht denn doch sprachlos. (…)
Immer wieder wird geunkt, Hausaufgaben brächten nichts. Dabei attestiert die Hattie-Studie,
die weltgrößte Datenbasis zur Effektivität von Lehr- und Lernformen, dem häuslichen Nachbereiten des Unterrichts in der Sekundarstufe höchste Wirksamkeit (…)

SELBSTORGANISIERT LERNEN
Es hört sich erst mal zeitgemäß an: Eigenverantwortlichkeit scheint allemal motivierender zu sein, als immer nach der Pfeife des Lehrers zu tanzen, und im Leben muss man doch auch allein zurechtkommen. De facto ist dies Etikettenschwindel: Viele Schüler arbeiten nur vorgefertigte Arbeitsblattstapel ab, oft oberflächlich und in Konkurrenz. Besonders brisant: Leistungsschwächeren fällt selbstbestimmtes Lernen am schwersten – sie werden durch die neuen Lernformen quasi zusätzlich benachteiligt. (…)
Kognitionspsychologen wie Elsbeth Stern sehen den Lehrer keineswegs im Abseits. Praktisch nutzbares Wissen wie automatisierte Handlungen entwickeln sich vor allem durch Wiederholung, Steuerung, Erfolg und Fehlerkorrektur. Ohne Lehrer ist das schwer denkbar.

INKLUSION
Auch das klingt verführerisch: Alle Schüler sollen gemeinsam lernen, unabhängig vom Lernvermögen oder etwaigen Einschränkungen. Aber: In vielen Inklusionsklassen geht es arg hoch her. (…)

Zum Welttag des Lehrers daher ein Hilferuf aus dem Lehrerzimmer. (…)

zum Artikel:  Kölner Stadt-Anzeiger, Gastbeitrag, 30.09. 2015, Michael Felten, Hilferuf aus dem Lehrerzimmer (online nicht verfügbar)

Michael Felten, geb. 1951, Gymnasiallehrer in Köln.
Er arbeitet auch als Schulentwicklungsberater, Publizist und Buchautor.
www.eltern-lehrer-fragen.de